Auslegung des Evangeliums vom 4. Advent A – Mt 1, 18-24
In Jesus ist Gott da, trägt menschliches Antlitz, bleibt bis zum Ende: Immanuel – „Gott mit uns“. Neuer Anfang, Erlösung für ein sündiges Volk. Den neuen Anfang wirkt Gott durch seinen Geist neu-schaffend in Maria. Josef gerät darüber in Verwirrung. Der Gerechte sucht den Ausweg in Barmherzigkeit. Bis Gott dem Träumer seine Wege offenbart.
Der Evangelist als Theologe: Die große matthäische „Klammer“
Immer wieder können wir in den Evangelien die Demut des Evangelisten gegenüber seinem Stoff beobachten. Er konstruiert nicht, er bezeugt. Aber was er bezeugt, hat höchste Bedeutung und ist Ruf zum Glauben. Und diese Bedeutung, wie er sie erfasst, will er in größtmöglicher Deutlichkeit und Plastizität herausarbeiten. So gestaltet er den treu und demütig bezeugten „Stoff“ literarisch wie theologisch. Meisterliches entsteht so. Noch einmal: So wird „herausgearbeitet“, was „drinsteckt“, nicht aber wird „Bedeutung konstruiert“. Das wäre den frühen Christen völlig fremd. Aber im Sinne der Freilegung des Angelegten sind die Evangelisten nicht nur treue Zeugen, sondern gerade weil sie treue Zeugen sind, auch große Künstler und große Theologen. So auch Matthäus.
Wie endet das Matthäus-Evangelium? Viele haben es im Ohr. Hier in der Übersetzung Martin Luthers, der dem Ende buchstäblich eine literarische Gestalt verleiht: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ (Mt 28, 20b). Das „Ende“ am Ende. Aber dieses Ende steckt bei Matthäus auch schon programmatisch im Anfang seines Evangeliums. Die Bibelwissenschaft nennt das „die große matthäische Inklusion“. Sie bildet mit der theologischen Grundaussage des Evangelisten eine Klammer um das ganze Evangelium. So gibt sie ihm mit der Aussage, die für Matthäus das Herzstück des in Jesus Geschehenen bildet, Halt und Gestalt.
Blicken wir nun zuerst auf den Schluss unseres Evangeliums und von dort auf den Abschnitt vom Anfang des Evangeliums, den wir am 4. Advent lesen.
Der Schluss des Evangeliums ist eine phantastische Verheißung: Jesus, der Erhöhte, bleibt bei uns. Er absentiert sich nicht in himmlische Ferne, sondern als Verherrlichter bleibt er präsent bei seinen Jüngerinnen und Jüngern. Denen, die ihm nachfolgen, bleibt er nah. Und in ihm ist Gott nah. Das ist entscheidend: In der bleibenden Präsenz Jesu bleibt Gott selbst präsent. Die Jünger, die am Schluss des Evangeliums gesendet werden, die Völker zur Jüngerschaft zu rufen, zu taufen und lehrend in die Jüngerschaft einzuweisen, handeln nicht aus sich. Sie handeln aus der beständigen Gegenwart Jesu, dem alle Macht im Himmel und auf Erden verliehen ist und in dem Gott selbst präsent ist. Sie wirken allein aus seinem Wirken. Und so wird aus der Völkerwelt eine Jüngerwelt, in der Gottes Königsherrschaft Raum greift.
Das ist also eine der theologischen Kernaussagen des Matthäus: In Jesus ist Gott selbst da, ist er „mit uns“ – uns zum Heil und zur Erlösung. Wir können weiterdenken: Darin besteht Heil und Erlösung, dass Gott sich in Jesus mitgeteilt hat und dass er nun – in einer endgültigen und unüberbietbaren, wenn auch noch verborgenen Weise – „mit uns“ ist. Gott, der war, ist und kommt, realisiert sein Kommen in Jesus. In Jesus ist er „der Kommende“ ( griechisch „ho erchomenos“ vgl. Evangelium vom 3. Advent A). Advent, Kommen und Ankunft des Herrn, mit dem Höhepunkt im Geheimnis von Weihnachten.
Und das ist auch der Zielpunkt unseres Evangeliums vom 4. Advent: Gott ist in Jesus da – zur Erlösung seines in Sünde verlorenen Volkes. Jesus, Jeschua ist der Retter des sündigen Volkes, weil er der Immanuel ist. Wenn Matthäus das Prophetenwort zitiert, von der Jungfrau (nach der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta – im hebräischen Text steht einfach „junge Frau“), die einen Knaben gebiert und ihm den Namen Immanuel gibt, dann erklärt er für seine Leserschaft, die griechisch spricht, ausdrücklich diesen Namen: Immanuel – „Gott mit uns“. Denn gerade darin zeigt sich für ihn das innerste Geheimnis des in Jesus von Gott her Geschehenen. Und so umschließt diese Aussage, dass in Jesus Gott da ist, mit uns ist, sich erlösend mitgeteilt hat, sein ganzes Evangelium. Und Gottes Treue zu seinem in Sünde verlorenen Volk ist so groß, dass er trotz der Sünde sich in dieser Weise mitteilt und seine Mitteilung gegen die Gegenmacht der Sünde durchhält. Das bedeutet letztlich die Hingabe am Kreuz, aber auch den österlichen Sieg, der den weltweiten Horizont der Völkerwelt öffnet, der am Ende des Matthäusevangeliums steht. Eine persönliche Bemerkung sei erlaubt. Was Opfer, Sühne, Stellvertretung bedeuten, dem habe ich mich genau von hierher annähern können: Gott hält seine Mitteilung in Jesus in freier Liebe trotz des tödlichen Widerstands und der Gegenmacht der Sünde durch. Und so arbeitet er sie stellvertretend und sühnend auf.
Neuer Anfang im Heiligen Geist
Über die jungfräuliche Empfängnis und Geburt Jesu werden seit der Aufklärung die abenteuerlichsten Geschichten in kritisch-destruktiver Absicht erzählt. Die „Jungfrauengeburt“ bildet für ein in diesem Sinne aufgeklärtes Gemüt seither immer wieder einen Stein des Anstoßes. Ich möchte mich an dieser Stelle mit diesen Fragen – z.B. ob die religionsgeschichtlichen Ableitungen auch nur ansatzweise tragfähig sind – nicht abgeben. Nicht weil das nicht wichtig ist, sondern weil es uns hier durch die Menge des Stoffs zu weit weg und im Verständnis des Evangeliums nicht wirklich weiterbringt.
Eines nur möchte ich dazu festhalten: Obwohl die beiden Geschichten über den Anfang des Lebens Jesu bei Matthäus und Lukas – ohne widersprüchlich zu sein – ganz unterschiedliche Perspektiven haben (einmal aus der Sicht Mariens, einmal aus der Josefs) sind sie in der Frage der jungfräulichen Empfängnis Jesu durch das Wirken des Heiligen Geistes und übrigens auch der Geburt Jesu in Bethlehem völlig einig. Und selbstverständlich meinen sie es leibhaftig-real. Das aber ist nicht etwa ein Biologismus, sondern ein Realismus, der personal und leibhaftig denkt, weil das gar nicht sinnvoll getrennt werden kann und gleichzeitig mit einem schöpferisch handelnden Gott rechnet.
Denn was wollen Lukas und Matthäus sagen, wenn sie den geistgewirkten Anfang Jesu als Realität bezeugen? Sie bekennen: In Jesus geschieht von Gott her in radikal schöpferischer Weise ein neuer Anfang. Dafür steht das Wirken des Heiligen Geistes, den wir als Schöpfergeist bekennen. In dem dieser neue Anfang aber ebenso real, leiblich und personal in und aus Maria geschieht, stiftet sich dieser Anfang mitten hinein in das Kontinuum der Menschheitsgeschichte: Jesus ist der neue, erlösende Anfang der Gegenwart Gottes nicht jenseits der Menschheit, sondern mitten darin, hineingestiftet durch Maria in die Geschichte Israels und der Menschheit.
Ein Gerechter in Verwirrung
Dieses glanzvoll-schöpferische Geschehen im Heiligen Geist wird für einen zunächst zur dunklen, undurchschaubaren Last, zur tiefen Verwirrung, zur riesigen Herausforderung: Josef entdeckt seine Verlobte, die er noch nicht heimgeführt hat, schwanger. Wie soll er reagieren? Denn er weiß nichts von der gottgewirkten Herkunft des Kindes. So kann er dieses Kind nur im Sinne der Tora, wo dies auch schon für Verlobte gilt, als Resultat eines Ehebruches werten. Das ist nach der Tora todeswürdig. Aber Matthäus zeigt uns in Josef einen sehr, sehr besonderen Menschen, einen Menschen, an dessen Verhalten er in der Theologie seines Evangeliums wiederum nahtlos anknüpfen kann, so dass er in Josef einen Menschen findet, der exemplarisch zeigt, wie Matthäus die Tora ausgelegt sehen will: Gott hat unbegreiflich barmherzig an uns gehandelt und so seine Gerechtigkeit nicht nur nicht verletzt, sondern sie in Barmherzigkeit vollendet. Diese barmherzige Gerechtigkeit steht auch hinter der Lebensordnung der Tora. Wer also die Gerechtigkeit der Tora im Sinne dieser Barmherzigkeit versteht und in Entsprechung zu dieser Barmherzigkeit handelt, der ist wahrhaft gerecht. Josef aber wird ausdrücklich als „gerecht“ benannt – und er ist es genau im Sinne der Tora der Barmherzigkeit. Josef reagiert auf den vermeintlichen Ehebruch der Maria mit der größtmöglichen Schonung. Er will, unter Vermeidung jeder Bloßstellung Marias, die Beziehung, die er nicht mehr aufrecht erhalten kann, auflösen.
In diesen Entschluss des Josef zu einer von Barmherzigkeit geformten Gerechtigkeit hinein offenbart sich Gott dem Josef im Traum. Die dunkle Last und Verwirrung wandelt sich in dieser Offenbarung in die Bürde der Verantwortung für dieses Kind und seine Mutter. Gott deutet Josef seine Wege an und mutet ihm seine Rolle darin zu. Josef wird die Mutter des Kindes heimführen ohne eine „normale“ Ehe leben zu können und das Kind vom Heiligen Geist wird er als seinen Sohn annehmen.
Damit aber erhält er – neben Sorge und Verantwortung – auch eine heilsgeschichtliche Rolle: Josef ist einer der vielen, vielen Nachkommen des Königs David. Das bedeutet längst keine besondere Stellung mehr. Josef ist ein kleiner Bauhandwerker. Aber an diesem kleinen Menschen hängt immer noch die große Verheißung an David:
„Aber dein Haus und dein Königtum sollen beständig sein in Ewigkeit vor dir, und dein Thron soll ewiglich bestehen.“ (2Sam 7, 16).
Gott ist treu und Gott steht zu seinem Wort – auch wenn wir seine Wege oft nicht einfach enträtseln können. Im Heiligen Geist hat Gott in Jesus den neuen Anfang seiner Gegenwart durch Maria mitten in die Geschichte Israels hineingestiftet. Durch die Adoption Jesu durch Josef macht er zugleich die messianische, königliche Verheißung an David wahr. Was für ein Wunder der Heilsführung Gottes, das wir an Weihnachten anbetend bestaunen können!
Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.

