Auslegung des Evangeliums vom 3. Advent A – Mt 11, 2-11

Die Gestalt, die der Täufer prophetisch angesagt hat, war tief geheimnisvoll. Göttlicher Gerichtsherr. Geist- und Feuertäufer. Mehr als ein Herr gegenüber dem Sklaven, der dem Herrn die Sandalen löst. Gott? Messias? Menschensohn? Im nächsten Augenblick würde er kommen. Jesus kam. Heilte Kranke. Sprach Sündern Vergebung zu. War er der Kommende?

Eine Frage aus dem Kerker des Herodes

In der Erzählung des Matthäus haben wir einen erheblichen Sprung gemacht. Von Johannes am Jordan zu Johannes im Kerker des Herodes Antipas. Der Kleinkönig von Roms Gnaden und Landesherr Jesu hatte ihn festsetzen lassen. Johannes hatte es gewagt, seine Ehe mit Herodias zu kritisieren. Sie entspreche nicht dem Gesetz Gottes. Johannes fand also nicht, dass ihn das Beziehungsleben des Königs nichts angehe und die Angelegenheit mit Herodias seine Privatsache sei. Johannes konnte auch politisch zum gefährlichen Unruhefaktor werden. Das Zeugnis der Evangelien und der Bericht des jüdischen Historikers Josephus Flavius differieren etwas. Aber eigentlich ergänzen sie sich recht gut.

Josephus zeigt uns auch, dass der Sprung in der Matthäus-Erzählung vom 2. zum 3. Advent in unserem Lesejahr größer ist als der geographische. Vom Jordan, von dort, wo Johannes taufte, zur Höhe über dem Ostufer des Toten Meeres ist es nicht weit. In der Grenzfestung Machaerus hielt Herodes Johannes gefangen – und nicht lange nach dem Ereignis, von dem unser Evangelium berichtet, hat er ihn hinrichten lassen. Die Evangelien sagen uns, dass er Opfer des Hasses der Herodias wurde.

Wir wissen nicht, in welchem seelischen Zustand sich Johannes im Kerker des Herodes befand. Hatte er mit seiner Festnahme gerechnet? Ahnte er sein Ende? Bedrückten oder ängstigten ihn die Aussichten – oder konnte er sie, vielleicht durch Bedrückung und Angst hindurch, in einer letzten Gelassenheit annehmen? Wie gesagt: Wir wissen es nicht.

Seine Haftbedingungen scheinen jedenfalls zunächst so gewesen zu sein, dass sie Außenkontakte zuließen. Er konnte den Kontakt mit seinen Jüngern halten – und sie zu Jesus schicken. Und dadurch wissen wir, ohne alle Spekulation, was ihn zutiefst im Kerker des Herodes beschäftigt hat: Ist sein Verwandter Jesus der, den Gott ihm gezeigt hat, oder müssen wir noch weiter warten? Ist Jesus die Erfüllung der adventlichen Erwartung Israels? Denn Johannes wusste sich zum Propheten dieser Erwartung bestellt, berufen, dem Advent des Herrn in der Wüste die Wege zu bereiten: War Jesus „der Kommende“, in dem sich Gott, der da ist, war und kommen wird, unter uns zu endgültiger und unüberbietbarer Gegenwart bringt, sich mitteilt und da ist?

Die höchst geheimnisvollen Umrisse dieser Gestalt des Kommenden hatte Gott Johannes gezeigt: Göttlicher Herr des Gerichts, Feuer- und Geisttäufer, mehr als der Herr eines Sklaven – und doch offensichtlich nicht einfach Gott. Was bedeutete das? Jedenfalls: Unmittelbar stand es bevor, nicht mehr fern, nicht einmal „bald“, sondern im nächsten heilsgeschichtlichen Augenblick. Und die unmittelbare Begegnung mit der Heiligkeit des kommenden Gottes konnte für das verlorene Israel nur Gericht bedeuten. Versiegelung in der Taufe der Umkehr und Früchte der Buße waren der einzige Weg, diese unmittelbar bevorstehende Begegnung mit der Heiligkeit Gottes „heil“ zu überstehen….

Verwirrung

Und nun kam tatsächlich Ungeheures in Gang. Sein Verwandter Jesus war zur Taufe gekommen. Schlagartig, in prophetischer Hellsicht, war ihm klar geworden: Da kommt einer, der hätte es in keiner Weise nötig, die Bußtaufe zu empfangen. Im Gegenteil: Er selbst hätte sie von ihm empfangen müssen. Das hatte nur Sinn, wenn in dem, der da zu ihm kam, sich taufen zu lassen, Gottes Heiligkeit unmittelbar aufblitzte und damit der Kommende selbst in ihm Gegenwart gewann und begegnete.

„Johannes aber wollte es nicht zulassen und sagte zu ihm: Ich müsste von dir getauft werden und du kommst zu mir? Jesus antwortete ihm: Lass es nur zu! Denn so können wir die Gerechtigkeit ganz erfüllen. Da gab Johannes nach.“ (Mt 3, 14f.)

Jesu Antwort war ihm rätselhaft geblieben – aber dann, im Moment der Taufe, war über Jesus der Himmel aufgegangen… 

Hatten in seinem Verwandten Jesus die Umrisse der geheimnisvollen Gestalt, die er geschaut hatte, ein Antlitz gewonnen? War Jesus selbst „der Kommende“?

Als Jesus dann selbst anfing, in Galiläa zu wirken und seine Botschaft zu verkündigen, hatten die Nachrichten von dort in Johannes immer wieder ein Wechselbad der Eindrücke, Gefühle und Gedanken ausgelöst. Ja, da kam Ungeheures von Gott her in Gang. Und doch war das, was er hörte, auch ungeheuer verwirrend. Es ereigneten sich augenscheinlich die erstaunlichsten Dinge von Gott her: Gottes königliche Herrschaft schien in Jesus nach den Menschen zu greifen. Aber hatte er nicht unmittelbar die verzehrende Heiligkeit Gottes erwartet, die das Gericht vollzog? Er ahnte schon, dass Behauptungen, Jesus sei ein „Fresser und Säufer“ üble Nachrede waren. Aber Tatsache blieb, dass Jesus mit öffentlichen Sündern Gemeinschaft aufnahm, indem er mit ihnen aß und trank und sie sogar – wie einen Zöllner namens Levi oder Matthäus – in seine engste Nachfolge berief. Das verstand er nicht. Und das verwirrte ihn. Er brachte die Dinge, die er in aller Klarheit wahrgenommen hatte, mit dem Verhalten Jesu, von dem er hörte, einfach nicht zusammen. Und jetzt, im Gefängnis, musste er endlich Klarheit haben!

Sieh hin – und ärgere dich nicht an mir

Jesu antwortet Johannes nicht direkt. Sondern er lässt ihn auffordern, hinzuschauen auf die Verwandlung der Wirklichkeit, die ihm seine Jünger berichten können: Johannes, nimm wahr, was sich tut. Wenn Du das wahrnimmst, kannst Du es abbilden auf das prophetische Zeugnis der Schrift? Dann wirst Du begreifen, was es bedeutet! Denn Jesus zitiert ihm eine auf seine Gegenwart hin abgewandelte große Verheißung der Schrift:

„Jesus antwortete ihnen: Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündet. Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt.“ (Mt 11, 4-6)

Dahinter steht z.B. Jes 35 – einer der großen Verheißungstexte des Jesajabuches. Aber auch Jes 61 – der Text, den Jesus in der Synagoge von Nazaret auf sich bezogen hat und in dem Armen die frohe Botschaft verkündet wird. Jes 35, 5-6:

„Dann werden die Augen der Blinden aufgetan / und die Ohren der Tauben werden geöffnet. Dann springt der Lahme wie ein Hirsch / und die Zunge des Stummen frohlockt, denn in der Wüste sind Wasser hervorgebrochen / und Flüsse in der Steppe.“

Man müsste Jes 35 ganz zitieren – und ich kann Ihnen, liebe Leserschaft nur empfehlen, diesen herrlichen adventlichen Verheißungstext einmal ganz zu lesen! Jedenfalls: In Jesaja 35 wird die Wüste verwandelt durch das Kommen Gottes zu neuer Gegenwart. Eine königliche Straße entsteht mitten in ihr. Auf ihr ziehen die Geretteten zum Zion. Durch den Kommenden wird also die Wirklichkeit verwandelt werden. Die Gegenwart des Gekommenen wird sie verwandeln. Johannes, schau hin, ob Du die Zeichen des Kommenden wahrnehmen kannst? Wandelt sich die Wirklichkeit zum Heil, wo ich, Jesus, wirke? Schau hin! Das ist die Antwort. Und ärgere Dich nicht an mir!

Und das Gericht?

Ärgere Dich nicht! Nimm nicht Anstoß! Werd nicht irre an mir! Denn eine Herausforderung für Johannes bleibt: Kann denn das Kommen Gottes für das verlorene Israel und für die erst recht verlorene Völkerwelt etwas anderes bedeuten – als eben das Gericht? Wenn die brennende Heiligkeit Gottes unvermittelt auf die Sünde trifft – kann das etwas anderes sein als das Gericht über die Sünde? Jesus fordert Johannes auf, den Zeichen des Kommenden zu vertrauen und in diesem Vertrauen den Anstoß zu überwinden. Aber darin tut sich ein Geheimnis auf, das Jesus an dieser Stelle noch nicht unmittelbar mitteilen konnte…

Johannes lag in allem richtig: Die Zeit war erfüllt, ein endgültiges und unmittelbares Handeln Gottes stand im nächsten heilsgeschichtlichen Augenblick, also unmittelbar, bevor. Dieses Handeln musste sich mit einer von sich aus verlorenen Welt auseinandersetzen  – und auch darin lag er richtig, dass das Kommen Gottes Gericht über die Sünde bedeutet. Was er nicht wusste: Dieses Gericht würde Gott im Geheimnis der Stellvertretung an sich selbst ausleiden, der Kommende würde es auf sich selbst nehmen und sein Leben hingeben als Lösegeld für die Vielen, um einem endgültigen und unüberbietbaren Geschehen Platz zu machen: Gottes Barmherzigkeit sollte unendlich größer als alle Verlorenheit sein. Durch sie wurden Verlorene neu erwählt zum Heil in der Antwort auf dieses Geschehen in Glaube, Liebe und Hoffnung: Gottes alles überbietende Barmherzigkeit würde seine Heiligkeit und Gerechtigkeit nicht verletzen. Das konnte Johannes nicht wissen. Jesus mutete ihm zu, sich in einem dunklen Glauben den Zeichen des Kommenden anzuvertrauen.

Größter unter den Menschen, mehr als ein Prophet, Kleinster in der Königsherrschaft Gottes

Neuerwählung der Verlorenen in unüberbietbarer Barmherzigkeit – möglich, weil Jesus sein Leben für uns hingeben wird. Das ist die Essenz der Königsherrschaft seines Vaters, die Jesus verkündigt und die in ihm Raum greift. Absolut neu, nicht erwartbar, endgültig und unüberbietbar. Gott kommt wirklich, absolut real, aber seine Wirklichkeit verhüllt sich ins Fleisch des Menschensohns, damit wir den Raum gewinnen, diesem Geschehen in Glaube, Liebe und Hoffnung zu antworten. 

Jesus wendet sich, nachdem die Johannesjünger gegangen sind, an die Menge, um sein Verhältnis zum Täufer zu bestimmen und ihm seinen Ort in Beziehung zur anbrechenden Königsherrschaft Gottes zu geben.

Mit einem Wort: Der Täufer steht auf der Schwelle. Er hat den Raum noch nicht betreten. Als Schwellengestalt ist er auch eine zutiefst adventliche Gestalt. In ihm bricht prophetischer Geist wieder auf, der lange Zeit verstummt war. Schon diese Erneuerung der Prophetie war ein endzeitliches Zeichen. Ungeheures steht bevor. Er ist der wiederkommende Elia und der letzte Bote. Maleachi, am Ende der alttestamentlichen Prophetie, hatte diese Gestalten angesagt. So ist er Prophet und mehr als ein Prophet, der Größte unter den Menschen, weil er unmittelbar auf das hinweist, was jetzt von Gott her kommen wird. Er ist als Gestalt, als Person der lebendige Hinweis darauf: Jetzt wird Endgültiges von Gott her geschehen! Aber er bleibt auf der Schwelle. Er ist noch nicht Teil des Geschehens, auf das er hinweist. Deshalb gilt:

„Wahrlich, ich sage euch: Unter allen, die von einer Frau geboren sind, ist keiner aufgetreten, der größer ist als Johannes der Täufer; der aber der Kleinste ist im Himmelreich, ist größer als er.“ (Mt 11, 11).

 


Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.


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