König auf dem Kreuzesthron
Auslegung des Evangeliums vom Christkönigssonntag C Lk 23, 35b-43

Durch das Kreuz scheint Jesu messianisches Königtum definitiv widerlegt. Für die Elite seines Volkes wie für die Henker der römischen Besatzungsmacht ist das offensichtlich. In Wahrheit ist Jesus am Kreuz in königlicher Weise für andere da: Liebe in Vollendung. Königlich souverän spricht er das Paradies zu: Der wahre König herrscht vom Kreuz herab.

Der Kreuzes-Titel

Jesus hatte von sich nie als „König der Juden“ gesprochen, sondern von der jetzt, durch ihn, raumgreifenden Königsherrschaft des Vaters. Damit war also sehr wohl ein königlicher Anspruch verbunden – aber nicht unter dem Königstitel. Obwohl er wiederum von sich selbst nicht als Messias, dem gesalbten Heilskönig aus Davids Geschlecht, sprach, wurde sein Auftreten als messianisch wahrgenommen. „Sohn Davids, erbarme dich“ wurde ihm zum Beispiel zugerufen. Aber „König der Juden“ – das war die Sprache der Besatzer. Und unter diesem „Titel“ („titulus crucis“) haben sie ihn dann auch hingerichtet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Tafel, die dann über ihm angebracht wurde, auf dem Weg nach Golgotha vor ihm hergetragen worden ist. Sie sagte, weswegen der Delinquent zur Hinrichtung geführt wurde: Er beanspruche königliche Gewalt, die die römische Herrschaft infrage stelle. Ein Aufständischer und Aufrührer! Die Römer wussten, wie so etwas sofort und konsequent zu unterdrücken war. Gerade in dieser Unruheprovinz …

Allerdings hatte Pontius Pilatus gespürt: Da stimmt etwas nicht. „Der“ ist doch harmlos. Eher – in seinen Augen – ein „Spinner“ aus dieser seltsamen, unverständlichen Religion. Nicht gefährlich also und jedenfalls kein Aufrührer! Aber er hatte schließlich dem Druck nachgegeben, der von der politisch-priesterlichen Elite in Jerusalem ausging, die den römischen Provinzverwalter brauchte, weil sie selbst die Todesstrafe nicht vollziehen durfte. So hatten beide zusammengewirkt, um Jesus hinzurichten. 

Aber wie auch immer: War mit dieser Hinrichtung am Kreuz, der furchtbarsten und erniedrigendsten Hinrichtungsart, die die Römer kannten, nicht jedenfalls jeder messianische, königliche Anspruch definitiv widerlegt? Der „Titulus“ war ja keine Feststellung, sondern sagte: Wer beansprucht, ein „König der Juden“ zu sein, der endet so wie dieser. Und aus jüdischer Sicht schien das Buch Deuteronomium das Urteil zu sprechen: Wer am Pfahl hängt, der ist verflucht. Oder war dieses Sterben und dieser Tod doch in irgendeiner kaum zu begreifenden Weise ein königliches Sterben und ein königlicher Tod? Das wäre paradox bis zum Bersten, ungeheuer kühn und eben kaum begreiflich. Aber genau diese Frage – ist der messianisch-königliche Anspruch erledigt oder leuchtet er in paradoxer Weise gerade auf – wird in unserem Evangelium aus der Lukaspassion am Christkönigssonntag verhandelt. Die definitive Antwort wird erst das Osterlicht geben. Aber in unserem Evangelium ist tatsächlich schon ein erstes Aufleuchten zu finden.

„Rette Dich selbst“

„Verlachen“, „verspotten“, „verhöhnen“ – so übersetzt die Einheitsübersetzung die drei Verben, mit denen die Jerusalemer Elite, die römischen Soldaten und der eine der mitgekreuzigten Verbrecher auf den am Kreuz hängenden Jesus reagieren. Der gekreuzigte Jesus ist Gegenstand ihres Hohns. Hohn drückt auf aggressive Weise wirkliche oder vermeintliche Überlegenheit aus. Hohn muss man sich leisten können. Verhöhnen kann ich den, von dem ich keine wirksame Gegenwehr mehr erwarte. Es gibt allerdings Hohn – und dort kann er auch mutig und risikoreich sein: ein Akt des Widerstands – auch gegenüber dem Herrschenden. Aber auch dann drückt er Überlegenheit aus: Ich stelle mich höhnend über den, der „nur“ die Macht hat, mich ins Gefängnis zu werfen oder zu töten. Im Hohn zeige ich ihm, dass mich das zuletzt nicht beeindruckt und mein menschlicher Rang über dem des Tyrannen steht. 

Aber hier gilt der Hohn dem – scheinbar – definitiv Unterlegenen. Dem, der verloren hat. Dem, dessen Ansprüche endgültig widerlegt sind. Der Hohn macht das offenbar: „Du hast fertig.“ „Du bist nichts mehr – und in ein paar Stunden bist du tot.“ „Du bist am Ende – und mein Hohn macht das sichtbar.“ Zur Kreuzesstrafe gehörte solcher Hohn als festes, ritualisiertes Element. 

Bei der Hinrichtung Jesu sind dennoch die Motive für den Hohn ganz unterschiedlich. Die Jerusalemer Elite redet über Jesus, unter sich, sie redet ihn nicht direkt an. Sie versichert sich gegenseitig, dass sie es „geschafft“ hat. Der blasphemische Unruhestifter ist beseitigt. Sie hat es geschafft, die Gefahr der Zerstörung des status quo mit den Römern und die in ihren Augen unglaubliche Infragestellung des Tempelbetriebs zu bannen.

Die römischen Soldaten sprechen Jesus direkt an. Der Hohn und der Sadismus gehören zu ihrem Geschäft. Mit billigem Essigwein spielen sie höhnend pseudohöfisch „Mundschenk“. 

Schließlich der eine Verbrecher. Er stimmt sozusagen in den Hohn der anderen ein. Eigentlich paradox. Denn er wird ja selbst gerade langsam und qualvoll hingerichtet. Es ist wohl das Bedürfnis, wenn man selbst ganz unten ist, noch jemand zu finden, der noch tiefer unten ist und so Verzweiflung und Wut an ihm auszulassen. 

Jesus aber ist in den Augen des ersten Verbrechers noch weiter unten, weil er von weiter oben kommt: Da ist einer, den hielten viele für den Messias und er trat wohl auch so auf – und jetzt? Jetzt ist er nur noch ein verreckender Haufen Elend, der sich selbst und erst recht anderen nicht helfen kann. Im Hohn darüber fühlt der erste Verbrecher sich in seinem Elend noch einmal für einen Moment stärker als der Verhöhnte.

Aber alle, die aus ganz unterschiedlichen Gründen höhnen, vereint eben auch ein Motiv: Ihr Spott drückt aus, dass der königliche Anspruch, der von Jesus ausging – als Messias oder, in der Sprache der Besatzer, als „König der Juden“ – definitiv widerlegt ist. Jesus ist am Kreuz absolut hilflos. Wer sich selbst nicht helfen kann, der kann kein König und Messias sein. Deshalb dreimal Varianten von „Rette dich selbst!“, die keine echte Möglichkeit mehr meinen, sondern nur noch ausdrücken: Das kannst du nicht. Du hängst am Pfahl und bist verflucht (die Jerusalemer Elite), wir wissen genau, wie man Aufrührer wirksam beseitigt (die Römer), du bist genau so tief im Dreck wie ich und da kommt keiner von uns mehr raus (der erste Verbrecher): Da gibt es keinen Ausweg, du bist fertig – und deshalb definitiv kein König und Messias.

„Wenn du in dein Reich kommst“

Oder doch? Hier wird ja unterstellt, wer hilflos am Kreuz hängt, der kann kein König und Messias sein. Denn wer sich nicht einmal selbst erhalten und selbst bewahren kann, indem er sich selbst hilft, der kann kein König sein, denn es fehlt ihm genau an der souveränen Macht, die einen König auszeichnet. Was aber wäre mit einer absoluten, göttlichen, schöpferischen Souveränität, die es in keiner Weise nötig hat, um ihre Selbsterhaltung und Selbstbewahrung zu kämpfen? Die Leben und Sein in vollkommenem, lichtvollem Selbstbesitz ist? Wäre eine solche Souveränität nicht frei, sich vollkommen und einschränkungslos zu geben und zu verströmen? Bis in den – für Gott, der doch Leben und Licht ist – Ausnahmezustand der völlig lichtlosen menschlichen Verlorenheit   hinein, um diesen Zustand der Verlorenheit aufzubrechen – und ihn wieder zu wandeln in das mit Gottes Licht und Leben erfüllte Paradies? Könnte deshalb eine solche Souveränität nicht auch in reiner Liebe das Kreuz annehmen – und wäre dann die Hilflosigkeit des Kreuzes paradoxerweise Ausdruck der höchsten Souveränität, die so frei ist, aus Liebe auch solche Hilflosigkeit anzunehmen, um den verlorenen Menschen zu retten? Die es also gar nicht nötig hat, sich selbst zu helfen, weil sie fähig ist, restlos für andere da zu sein? Genau eine solche Existenzform lebt Jesus. Sie ist schon vom ersten Augenblick freie Selbstentäußerung der substantiellen Liebe. Sie kann es sich paradoxerweise „leisten“, ein sterbliches, schmerzfähiges, oft hungriges, oft dürstendes, bedürftiges, oft erschöpftes, verletzbares, fühlendes, fleischliches Menschsein ohne jede Einschränkung anzunehmen. Das Kreuz ist nur die äußerste Konsequenz dieser Annahme und dieses Weges der Liebe hinein in die Verlorenheit des Menschen, um diese Verlorenheit erlösend zu verwandeln, und in der Jesus restlos für andere da ist. Das Kreuz ist königlich. Das Kreuz ist messianisch. Denn es ist Ausdruck der königlichen, messianischen Souveränität der Liebe. Zuletzt vollkommen verborgen. Aber vollkommen wirklich. Sichtbar allein für die Augen des Glaubens. 

Johannes kennt dieses Souveränität: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf dass ich’s wieder empfange. Niemand nimmt es von mir, sondern ich selber lasse es. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zu empfangen. Dies Gebot habe ich empfangen von meinem Vater.“ (Joh 10,17f.). Und Paulus meditiert in diesem Sinne die paradoxe Weisheit des Kreuzes: „Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.“ (1Kor 1, 22-25).

Die göttliche Schwachheit, die stärker als die Menschen ist – das muss der zweite Verbrecher erkannt haben. Er weist seinen Kumpanen heftig zurecht. Er sieht ihre Situation völlig klar. Er weiß sich mit großem Ernst vor dem Gericht Gottes. Das erfüllt ihn mit der Gottesfurcht, deren Mangel er bei dem ersten Verbrecher rügt. Er anerkennt weiter das Gericht, das über sie ergeht, als gerecht und Folge ihrer Taten. Das heißt: Er bereut. Er erkennt die Gerechtigkeit Jesu. Sein Blick auf Jesus muss im beginnenden Glauben erleuchtet worden sein, denn er begreift ganz offensichtlich, dass das Kreuz Jesu zum Weg in sein Königtum gehört – und das deshalb für ihn nur im Gedenken Jesu jenseits des Todes Rettung liegen kann. Denn Jesus wirkt auch in diesem Augenblick und gerade in diesem Augenblick für Andere Heil. Und zwar über alle Innerweltlichkeit hinaus. Und so blitzt in diesem Augenblick seine königliche Souveränität auf. „Regnavit a ligno deus“. „Es herrscht vom Holze herab Gott“ (Hymnus „Vexilla regis“): „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“


Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.


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