Das Trierer Gutachten sagt schon einiges aus, aber nicht genug. Das bestätigt bereits ein Blick in längst bekannte Presseenthüllungen: Es gab schwere Versäumnisse und zahlreiche Unterlassungen, obwohl ein Einschreiten dringend nötig gewesen wäre. Diese Versäumnisse haben weiteren Missbrauch ermöglicht. Bis heute leugnet Kardinal Reinhard Marx seine damaligen Verpflichtungen als Bischof von Trier. War es Vertuschung oder grobe Fahrlässigkeit? Martin Grünewald hat verstreut veröffentlichte Fakten zusammengetragen.

Die deutschen Bischöfe haben in einer gemeinsamen Erklärung zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs von einem erheblichen Vertrauensverlust und großem Misstrauen gesprochen, „das uns Bischöfen aus der Gesellschaft und von den Gläubigen entgegengebracht wird“. Deshalb sei es um der Wahrheit willen notwendig, „dass wir Bischöfe uns der Verantwortung stellen“: „Verbrechen und mangelnde Verantwortung werden aufgeklärt, auch wenn der Prozess schmerzhaft ist.“

Am 30. Oktober 2025 wurde das Gutachten der Universität Trier der Öffentlichkeit vorgestellt. Der dritte Zwischenbericht beleuchtete die Amtszeiten der Bischöfe Reinhard Marx (2001–2008) und Stephan Ackermann (2009–2021). Die mit dem Gutachten beauftragten Historiker beschrieben u. a. als „zentrale Versäumnisse“ von Reinhard Marx, heute Kardinal und Erzbischof im Bistum München-Freising, ein mangelndes Anzeigeverhalten, unzureichende Sanktionierung von Beschuldigten und eine fehlende Betroffenenfürsorge. Die Pflicht zur internen Aufklärung sei teilweise erfüllt worden.

Das mangelnde Anzeigeverhalten war radikal: „Die Staatsanwaltschaft wurde in keinem einzigen „Neufall“ durch das Bistum informiert“, stellten die Gutachter nüchtern fest; nur ein „Altfall“ wurde angezeigt. „Die Kommunikation mit den Strafverfolgungsbehörden blieb mangelhaft.“ Auch die Anzeige- und Informationspflicht gegenüber der Glaubenskongregation in Rom zeigte Mängel.

Auch bei eigenen Ermittlungen blieb das Bistum in der Verantwortung von Bischof Reinhard Marx zurückhaltend: Nur in acht von zwölf zeitgenössisch bekannten Fällen ging das Bistum Trier den gemeldeten Vorwürfen nach und bemühte sich, eine Aufklärung herbeizuführen.

Mängel im Anzeigeverhalten, bei Ermittlungen und bei den Konsequenzen

Zur unzureichenden Sanktionierung stellten die Gutachter fest: „In vier von zwölf Fällen hatten die Meldungen keine Konsequenzen für die Beschuldigten.“ Aber auch mit den durchgeführten Konsequenzen sind die Gutachter unzufrieden und empfinden sie als zu lasch: „Neben einer forensischen Begutachtung war die Verpflichtung zur Therapie eine nun häufig gewählte ‚Sanktion‘ der Priester.“ Eine wahrscheinliche Folge: Mindestens drei der bekannten Täter begingen weiter Missbrauch.

Bei der Fürsorge für die Betroffenen „lässt sich lediglich das Versagen der Bistumsleitung konstatieren, denn dieser Pflichtenkreis wurde nicht annähernd erfüllt. Zwei Fälle sind in den Akten dokumentiert“, berichten die Gutachter.

Handelten die Bischöfe Marx und Ackermann nun fahrlässig oder wurde die Grenze zur Vertuschung überschritten? Dieser Frage sind die Gutachter nicht nachgegangen. Zumindest im Fall von Kardinal Marx liegen allerdings derart gravierende Fakten auf dem Tisch, dass diese Frage berechtigt und aufgrund der gemeinsamen Selbstverpflichtung der deutschen Bischöfe nahezu zwingend erscheint. Dieser Vorwurf wurde auch im Bistum Trier durch bestürzte Gläubige erhoben, berichten die Gutachter. Eine Kirchengemeinde im Saarland hat sogar den Trierer Bischof Stephan Ackermann von einer Firmung ausgeladen. Nach Vorwürfen sexualisierter Gewalt gegen den früheren Pfarrer zeigt sich die Gemeinde enttäuscht von ihrem Bischof.

In Hinblick auf den Münchner Kardinal stellt sich sogar eine Grundsatzfrage: In seiner Erklärung vom 30. Oktober 2025 zur Veröffentlichung des Dritten Zwischenberichts bezeichnete er die Leitlinien durch Beschluss der Deutschen Bischofskonferenz zum „Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ vom 26. September 2002 als „Orientierungspunkt“. Das ist sehr brisant, denn außer ihm stuft niemand den damaligen Beschluss derart unverbindlich ein: weder die Gutachter, die von „Pflichten“ sprechen, noch der Wortlaut des damaligen Beschlusses. 

In dieser Relativierung seiner eigenen Pflichten bleibt Erzbischof Marx beständig: So wird er bereits in einem Pressebericht zitiert, und so äußerte er sich auch in einem Gespräch mit dem Missbrauchs-Betroffenen Timo R. vor zwei Jahren. Nur: Enthebt ihn das ständige Wiederholen seiner damaligen Verantwortung? Oder versucht er sich damit seines Fehlverhaltens zu entledigen? Die Frage ist von zentraler Bedeutung.

Ein Blick auf die Leitlinien der DBK von 2002

Deshalb ist ein Blick auf die 2002 von der Deutsche Bischofskonferenz beschlossenen Leitlinien unverzichtbar. Die Leitlinien verpflichteten die deutschen Bischöfe zu folgenden Vorgehensweisen, die hier gekürzt im originalen Wortlaut zitiert werden:

  • Der Diözesanbischof beauftragt eine Person, die den Vorwurf sexuellen Missbrauchs Minderjähriger prüft. … Alle kirchlichen Mitarbeiter sind verpflichtet, Fälle, die ihnen zur Kenntnis gebracht werden, weiterzuleiten. Der Beauftragte recherchiert den Sachverhalt und ist Kontaktperson für die staatlichen Strafverfolgungsbehörden.
  • Jede Anzeige oder Verdachtsäußerung wird umgehend geprüft. Unmittelbar nach Kenntnisnahme eines Verdachts oder eines Vergehens leitet der Beauftragte die Prüfung ein. … Die Fürsorge der Kirche gilt zuerst dem Opfer.
  • Der Diözesanbischof wird sofort unterrichtet. Die Verantwortung des Diözesanbischofs bleibt – unbeschadet der Einsetzung des Beauftragten – bestehen. Er wird unverzüglich nach Kenntnisnahme eines Verdachts oder eines Vergehens informiert.
  • Bei Erhärtung des Verdachts wird eine kirchenrechtliche Voruntersuchung gemäß c. 1717 CIC eingeleitet. Bestätigt die Voruntersuchung den Verdacht sexuellen Missbrauchs, wird der Apostolische Stuhl befasst. 
  • In erwiesenen Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger wird dem Verdächtigten zur Selbstanzeige geraten und ggf. das Gespräch mit der Staatsanwaltschaft gesucht. … Wenn die Staatsanwaltschaft bereits aufgrund einer Anzeige recherchiert, wird mit ihr Verbindung aufgenommen.
  • Dem Opfer und seinen Angehörigen werden menschliche, therapeutische und pastorale Hilfen angeboten.
  • Der Beauftragte des Bischofs wird in einem persönlichen Gespräch mit dem Opfer und seinen Angehörigen auch im Namen des Bischofs tiefes Bedauern zum Ausdruck bringen.
  • Der Täter hat sich einer therapeutischen Behandlung zu unterziehen. 
  • Die Menschen im Umfeld werden bei der Verarbeitung der Situation unterstützt. 
  • Bei erwiesenem Vergehen wird der Täter mit einer Kirchenstrafe belegt. 
  • Nach Verbüßung seiner Strafe werden dem Täter keine Aufgaben mehr übertragen, die ihn in Verbindung mit Kindern und Jugendlichen bringen. 
  • Eine angemessene Information der Öffentlichkeit wird gewährleistet. 
  • Die präventiven Maßnahmen in der Aus- und Fortbildung von Geistlichen werden verstärkt. 
  • Versetzungen erfordern eine umfängliche Information. 
  • Bei Missbrauch durch andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchlichen Dienst wird entsprechend vorgegangen.

Orientierungspunkt oder verbindliche Handlungsanweisungen?

Der genaue Wortlaut lädt zum Urteil darüber ein, ob es sich bei der Richtlinie der Deutschen Bischofskonferenz um einen „Orientierungspunkt“ handelt, der Ermessensspielräume einräumt, oder um verbindliche Handlungsanweisungen, die keine Abweichungen erlauben. Nach Ansicht von zwei Kirchenrechtsprofessoren hat der Kardinal gleich in mehrfacher Hinsicht seine Pflichten verletzt. Das erklärten Thomas Schüller von der Universität Münster und Bernhard Anuth von der Universität Tübingen unabhängig voneinander, berichtete „Christ & Welt“.

Um das damalige Handeln von Kardinal Marx besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf einen konkreten Fall, der im Gutachten erwähnt wird. Dies allerdings nicht in sehr aufschlussreichen Einzelheiten, die durch Presseberichte im Hamburger Wochenmagazin „Der Spiegel“ und in mehreren Berichten der Wochenzeitung „Die Zeit“ mit seiner Beilage „Christ und Welt“ veröffentlicht wurden. Ergänzende Hinweise lieferte auch der unmittelbar Betroffene Timo R., der bei Facebook über seine Begegnung am 15.12.2023 mit dem Kardinal im Erzbischöflichen Ordinariat in München berichtete.

Ein brisantes Fallbeispiel

Der Fall ist hervorstechend und vielleicht bezeichnend: Als im Jahr 2006 ein später wegen sexueller Nötigung von Minderjährigen verurteilter Pfarrer im Saarland angezeigt wird, ist Reinhard Marx bereits seit rund vier Jahren Bischof im Bistum Trier. Aber erst im Jahr 2015 wird dem erwähnten Missbrauchstäter in der Amtszeit seines Nachfolgers der Kontakt zu Minderjährigen untersagt. Und erst wieder ein Jahr später wird Kontakt mit dem Betroffenen aufgenommen. Der Fall ist insgesamt brisant und kann als Vertuschung eingestuft werden. Der 2006 von Timo R. angezeigte Pfarrer wurde übrigens nach der Anzeige und den unterbliebenen Sanktionen im Jahr 2013 erneut von einer weiteren minderjährigen Person angezeigt.

Im Jahr 2006 kam Timo R. mit der Polizei in Kontakt und berichtete erstmals über den Missbrauch, dessen Verarbeitung ihn noch immer beschäftigte. Die sexuellen Übergriffe fanden bereits 1999 statt. Die Polizei ging dem Fall nach und erkannte bei dem beschuldigten Pfarrer einen hinreichenden Tatverdacht. Während der Vernehmung legte der Beschuldigte ein Teilgeständnis ab. Er bestätigte, dass Timo R. an Wochenenden bei ihm im Pfarrhaus übernachtete, dass der Junge auf seinem Schoß gesessen und er ihn unter dem T-Shirt gestreichelt habe. Daran, mit ihm im Bett gelegen zu haben, habe sich Pfarrer M. nicht erinnern können. In der Akte steht: Das heiße aber nicht, dass der Pfarrer es verneine. Das berichtete die Wochenzeitung „Die Zeit” (Nr. 19/2017).

Die Staatsanwaltschaft verzichtete allerdings wegen Verjährung auf eine Klageerhebung. 

Weitere zehn Jahre später erfuhr der Betroffene Timo R. durch einen Zeitungsartikel, dass er offenbar nicht das einzige Opfer war. Und der Betroffene hörte, dass die Staatsanwaltschaft Saarbrücken das Bistum Trier im Jahr 2006 über die Ermittlungen in seinem Fall und die Einstellung des Strafverfahrens wegen gesetzlicher Verjährung schriftlich informiert hatte.

Der „Spiegel“ (Nr. 50 – 11.12.2021) beschrieb die Hintergründe: „Am 6. Dezember 2006, nach dem mutmaßlichen Anruf, fand eine Sitzung der Personalkommission des Bistums statt. Anwesend: Generalvikar Holkenbrink, der damalige Bischof Reinhard Marx und Personalchef. Es wurde beschlossen, dass keine kirchenrechtlichen Voruntersuchungen eingeleitet werden“, so der „Spiegel“. Kontaktbeschränkungen zu Jugendlichen unterblieben. „Der Pfarrer blieb auf seiner Stelle. Als wäre nichts gewesen. In den folgenden Jahren wurde dieser Pfarrer noch mindestens sechsmal angezeigt, bis auf eines wurden alle Verfahren eingestellt“ („Spiegel“). 

Auch „Die Zeit“ (s.o.) berichtete über diese Sitzung der Personalkommission und zitierte dazu eine Stellungnahme des Bistums: „Es trifft zu, dass aufgrund dieser Unterrichtung der Bischof und der Generalvikar weitere Untersuchungen nicht für erforderlich hielten.” Bischof Marx entschied, keine weiteren Nachforschungen anzustrengen. Der Vorfall verschwindet in den Akten, obwohl die damals zuständige Dezernentin der Staatsanwaltschaft nach Verhören und Ermittlungen zu dem Schluss gekommen war, dass der hinreichende Tatverdacht eines sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen und Schutzbefohlenen bestand. Der Missbrauchsbeauftragte des Bistums lädt Otmar M. zwar vor, der jedoch beteuert seine Unschuld. Die Akten der Behörden fordert das Bistum erst gar nicht an. „Wäre 2006 Otmar M. aus dem Verkehr gezogen worden, wäre weiteren mutmaßlichen Betroffenen viel erspart geblieben“, schrieb der Betroffene Timo R. bei Facebook.

Klare Hinweise ohne Konsequenzen

Ein weiteres wichtiges Detail wurde erst bei der Gerichtsverhandlung in einem weiteren Strafverfahren vor dem Landgericht Saarbrücken im Jahr 2023 öffentlich. Damals sagte ein Kriminalkommissar als Zeuge aus, der bereits mit den von Timo R. ausgelösten Ermittlungen befasst war. Dieser hatte das Bistum Trier angerufen, um vor Otmar M. zu warnen. Der Kriminalbeamte hatte zuvor zufällig bei einem Fußballturnier miterlebt, in welcher Weise Otmar M. sich um die Jungs gekümmert hatte. Der Kriminalkommissar habe Otmar M. unmittelbar auf dem Fußballplatz angesprochen und zur Rede gestellt. 

Ausgelöst durch seine Beobachtung meldete sich der Kriminalkommissar beim Bistum Trier und gab dort einen klaren Hinweis auf die Übergriffe mit dem Teilgeständnis aus der polizeilichen Vernehmung. Darüber sagte er bei der Gerichtsverhandlung aus. Zuvor hatte ihn bereits das Magazin „Der Spiegel“ im Dezember 2021 in der Titelgeschichte „Das Schweigen der Hirten“ zitiert: „Es kann nicht sein, dass dieser Mann Jugendmannschaften betreuen darf.“

Was folgte als Konsequenz? Der „Spiegel“ (s. o.) berichtete über die Fortsetzung dieses ungeheuerlichen Vorgangs: „Es habe nicht lange gedauert, und der Kommissar soll von seinem Vorgesetzten angesprochen worden sein: Das Bistum soll den Anruf gemeldet und sich beschwert haben.“ 

Als Missbrauchs-Betroffener erlebte Timo R. diesen Rüffel für den aufklärungswilligen Kriminalbeamten mit „Fassungslosigkeit, mächtigem Entsetzen, maßlosen Unverständnis“ und weiteren hier nicht zitierten Empfindungen, die er auf seiner Facebook-Seite beschrieb und jetzt unserer Redaktion gegenüber bestätigte. Timo R. wies auf die sonstige Untätigkeit des Bistums gegenüber diesem Missbrauchstäter hin. Anstatt sich für die wichtigen Informationen beim Kommissar zu bedanken, habe die einzige Aktivität des Bistums darin bestanden, sich über ihn beim Vorgesetzten zu beschweren. Der Täter blieb weiter unbehelligt.

“Belohnung” für Messdienerdienste

Das Hamburger Magazin (s. o.) berichtete auch über einen konkreten neuen Fall nach der ausgebliebenen Konsequenz für den übergriffigen Pfarrer. Dieser habe 2007 einen Ministranten eingeladen, mit ihm übers Wochenende wegzufahren. Die Reise sei eine „Belohnung“ für seine Dienste als Messdiener gewesen. Im Schwarzwald sei der Pfarrer dann in sein Zimmer gekommen und habe ihm in die Schlafanzughose gegriffen. Auch dieses Verfahren wurde eingestellt, so der „Spiegel“.

Viele weitere Jahre sollten ins Land gehen, bis das Bistum den Pfarrer disziplinarisch belangte. Was geschah, darüber sagte Bischof Ackermann bei der o. g. Gerichtsverhandlung aus. „Christ & Welt“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ schrieb dazu: „2014 habe er M. schriftlich ermahnt, Reisen mit Minderjährigen zu unterlassen. Auch daran habe der Angeklagte sich nicht gehalten. 2015 sei M. beurlaubt und 16 Tage später in den Ruhestand versetzt worden.“ In der Öffentlichkeit wurde aber nicht, wie es von den seit 2002 geltenden bischöflichen Richtlinien verlangt wird, der Missbrauch als Ursache angegeben. 

Verantwortung verschoben und verweigert, aber nicht verjährt

Wer die Seite 82 des jetzt vorgelegten Gutachtens der Universität Trier über die Verantwortung der beiden Bischöfe Marx und Ackermann aufmerksam liest, kann eine dortige Bemerkung so verstehen, dass in der Zeit von Bischof Marx nur strafrechtlich verurteilte Täter kirchliche Konsequenzen befürchten mussten. Die Gutachter schreiben, erst ab 2010 habe das Bistum es für nötig gehalten, sich um strafrechtlich bereits verjährte Fälle zu kümmern: „Die Personalkommission befasste sich erstmals am 17. Februar 2010 mit einem namentlich noch nicht bekannten ‚Altfall’. … Namentlich wurde ein konkreter Fall in der Personalkommission ausweislich der Protokolle erstmals am 29. März 2011 verhandelt.“ 

Die Leitlinie der deutschen Bischöfe von 2002 verlangte allerdings: „Unmittelbar nach Kenntnisnahme eines Verdachts oder eines Vergehens leitet der Beauftragte die Prüfung ein. …  Der Diözesanbischof wird sofort unterrichtet.“ Das Kirchenrecht sieht eigene Sanktionsmöglichkeiten vor – unabhängig von einer strafrechtlichen Verurteilung.

Das Gutachten der Uni Trier berichtet über die Verantwortung von Kardinal Marx in seiner Trierer Amtszeit: „Insgesamt kamen aber nur sieben der zwölf zeitgenössisch bekannten Fälle in die Personalkommission. Die anderen Fälle wurden ausschließlich in der Personalabteilung bearbeitet. … Konsequenzen im Sinne von Sanktionierungen zog keine der Meldungen nach sich, obwohl zwei der gemeldeten Personen bereits in den 1990er Jahren einschlägig auffällig geworden waren und dies auch bekannt gewesen war.“

Vier-Augen-Prinzip als Vertuschungsmethode?

Was hier eher unscheinbar und zurückhaltend ausgedrückt wird, beinhaltet einen handfesten Skandal: Obwohl die Leitlinien für die deutschen Bischöfe aus dem Jahr 2002 bereits umfangreiche Pflichten für die Vorgehensweise auferlegt hatten, bearbeitete eine einzige Person im Bistum Trier fünf von insgesamt zwölf akuten Verdachtsfällen im Alleingang. Es handelte sich um den Leiter der Personalabteilung, den Bischof Marx am 1. Dezember 2002 gleichzeitig zum „Missbrauchsbeauftragten“ des Bistums ernannt hatte. Da er laut Leitlinie den Bischof über jeden Fall unterrichten musste, waren in diesen Fällen nur zwei Personen informiert und operativ tätig: Bischof und Personalleiter/Missbrauchsbeauftragter. Diese Bündelung im Vier-Augen-Prinzip kann auch als Vertuschungsmethode verstanden werden. 

In sieben weiteren Fällen wurde die Personalkommission beteiligt, deren Zusammensetzung das Gutachten nur unvollständig preisgibt. In jedem Fall gehörten ihr der Bischof und der Personalleiter an. Und wenn das Gutachten richtig verstanden wird, dann gab es Sanktionen nur für Täter, die rechtskräftig verurteilt wurden. Verdächtige, deren mutmaßlicher Missbrauch verjährt war, blieben zumindest in der Amtszeit von Bischof Marx unbehelligt. Dabei handelt es sich offenbar um weitere Verstöße gegen die kirchlichen Richtlinien.

Das Trierer Gutachten berichtet nicht über die hier dargestellte Beschwerde des Bistums über den aufklärenden Kommissar. Vermutlich bezieht sich auf diesen Missbrauchsfall aber die nachfolgende Schilderung (S. 83): „Das erste, im November 2006 eingestellte Strafverfahren, das dem Bistum Trier gemeldet worden war (Mitteilung der Staatsanwaltschaft Saarbrücken an das Generalvikariat Trier vom 17. November 2006) gab bistumsseits noch keinen Anlass für eigene Ermittlungen oder auch nur Gespräche mit dem Beschuldigten. Diese Versäumnisse hat der damalige Trierer Bischof Reinhard Marx bereits offen eingeräumt. Man hätte nicht nur ‚intensiver’ nachfragen müssen, sondern auch ‚als Bistum die Akte der Staatsanwaltschaft anfordern und die Vorwürfe in einer eigenen kirchenrechtlichen Voruntersuchung verfolgen’ müssen.“ Wegen der anonymen Darstellung des Gutachtens bleibt dies vage. Aufgrund der Fußnoten im Gutachten kann aber mit größter Wahrscheinlichkeit darauf geschlossen werden, dass es sich um diesen Fall handelt.

“Schweigeverpflichtung” durch Generalvikar Georg Bätzing

Das gilt auch für folgenden Hinweis des Trierer Gutachtens (S. 84): „Dem vorausgegangen war ein von der Pfarrerkonferenz des Dekanates verfasster Brief vom 22. Januar 2013 an das Bistum, in dem das Fehlen der ‚nötigen Unterstützung von oben’ bemängelt und um dringendes Handeln im Fall Z. gebeten wurde.“ Ein Motor der Aufklärung war der neue leitende Pfarrer Hanno Schmitt, der nach einer Pfarreienzusammenlegung ins Spiel kam, sich deshalb allerdings Ärger einhandelte. Seitens des Bistums wurde dem neuen Pfarrer Hanno Schmitt gar eine Schweigeverpflichtung auferlegt, berichtet die „Zeit”. Verantwortlich war demnach der damalige Trierer Generalvikar Georg Bätzing, der heute Bischof in Limburg ist.

Einer Katholikin aus der Gemeinde wurde das zu viel. Sie ergriff die Initiative und flog nach Rom, um einen Protest zu überbringen. Darüber berichtete „Die Zeit“: Pfarrer Hanno Schmitt müsse als Sündenbock herhalten. „Er ist den Vorwürfen nachgegangen und wird jetzt als Denunziant und Nestbeschmutzer verachtet.“

Trifft dies zu, dann ist der Vorwurf der aktiven Vertuschung im Bistum Trier angebracht. Um das verständlich zu machen, hier der Sachverhalt entsprechend zusammengefasst: Gegen einen Pfarrer liegen mehrere Missbrauchs-Ermittlungsverfahren vor, die allerdings wegen Verjährung zunächst nicht zu einer Verurteilung führen. Der Beschuldigte legt bei der Polizei ein Teilgeständnis ab und meldet sich selbst beim Bistum. Ein Kriminalbeamter weist 2006 das Bistum auf die anhaltende Gefährlichkeit des später Verurteilten hin. Die Pfarrerkonferenz des Dekanats wendet sich in einem Brief vom Januar 2013 an das Bistum, bemängelt das Fehlen der „nötigen Unterstützung von oben“ und fordert „dringendes Handeln“. – Aber neun Jahre geschieht offenbar (nahezu) nichts! Erst im April 2015 wurde Otmar M. beurlaubt. Bald darauf wurde er in den Ruhestand versetzt.

Unterschiede zwischen Trierer und  Kölner Gutachten

Das Trierer Gutachten wurde nicht von Juristen, sondern von Historikern formuliert. Die Unterschiede werden im Vergleich mit dem bereits vor vier Jahren vorgestellten Kölner Gutachten deutlich, das mehr als 800 Seiten umfasst. Dessen weit strengere Aufgabenstellung wird bereits im Titel deutlich: „Pflichtverletzungen von Diözesanverantwortlichen des Erzbistums Köln im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und Schutzbefohlenen durch Kleriker oder sonstige pastorale Mitarbeitende des Erzbistums Köln im Zeitraum von 1975 bis 2018. Verantwortlichkeiten, Ursachen und Handlungsempfehlungen“.

Es bleibt spekulativ, über die oft zurückhaltenden und verständnisvollen Darlegungen in Trier zu mutmaßen. Es bleibt auch offen, warum wichtige Vorgänge im Gutachten nicht aufgegriffen wurden, auf die Betroffene und die Wochenmagazine „Spiegel“ und „Zeit” bereits aufmerksam gemacht hatten. Immerhin handelte es sich um Vorgänge, die als Vertuschung gewertet werden können.

Die Redaktion von „Zeit/Christ&Welt“ hat Kardinal Marx im Frühjahr 2021 auf seine heutige Betrachtungsweise der Trierer Vorgänge angefragt. Dem Bericht nach räumte er ein: „Aus heutiger Sicht hätte ich veranlassen müssen, dass wir – auch um zu prüfen, ob der Vorwurf auch kirchenrechtlich verjährt ist – als Bistum die Akte der Staatsanwaltschaft anfordern und die Vorwürfe in einer eigenen kirchenrechtlichen Voruntersuchung verfolgen.” Und: „Mein Verhalten damals bedauere ich sehr.” 

Diese Antwort ist nicht zutreffend: Bereits aus damaliger Sicht – 2002 – hätte er so handeln müssen. Auf die Frage, ob er Taten hätte verhindern können, antwortete Marx: „Die Frage geht auch mir nach.“ Müsste die Antwort angesichts der beschriebenen Sachlage nicht eindeutig ausfallen? 

Verantwortung für das Verhalten von heute

In seiner Erklärung zum Trierer Gutachten vom 30. Oktober 2025 bekräftigte der Münchner Erzbischof seine eigene, einschränkende Interpretation der Leitlinien von 2002 als „Orientierungspunkt“. Er sprach pauschal von „Versäumnissen und Fehlern“, kann sich an Konkretes nur in einem Fall erinnern. Zu seiner persönlichen Verantwortung sagt er: „Ich war sehr gerne Bischof von Trier. Umso mehr schmerzt es mich, dass ich erkennen muss, in dieser Verantwortung nicht allen Menschen gerecht geworden zu sein, die meiner bischöflichen Sorge anvertraut waren.“ Direkte Verantwortung für ein persönliches Fehlverhalten erwähnt er nicht, außer seinem Versäumnis, sich nicht nach „Altfällen“ erkundigt zu haben. Seine Schlusssätze lauten: „Mit dem Wissen von heute würde ich natürlich manches anders machen… Insbesondere gilt das für die Situation direkt und indirekt Betroffener. Das bedauere ich tief und bitte die Menschen um Verzeihung, denen ich nicht gerecht geworden bin.“

Nein, gemäß der damals gültigen Richtlinien von 2002 (s. o.) hätte er nahezu alles anders machen müssen. Das räumt er heute nicht ein. Ob er mit einer solchen Erklärung das anfangs erwähnte, in der Missbrauchskrise verlorene Vertrauen für die Kirche zurückgewinnen kann?


Martin Grünewald
Der Journalist war 36 Jahre lang Chefredakteur des Kolpingblattes/Kolpingmagazins in Köln und schreibt heute für die internationale Nachrichtenagentur CNA. Weitere Infos unter: www.freundschaftmitgott.de
Martin Grünewald ist Mitautor des Buches „Urworte des Evangeliums“.


Beitragsbild: Trierer Dom / Quelle: Adobe Stock, Bill_17

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