Die Serie der Auslegung des Sonntagsevangeliums durch Dr. Martin Brüske geht weiter.

„Friede diesem Haus!“
Auslegung des Evangeliums am 14. Sonntag im Jahreskreis C Lk 10, 1-12.17-20

Als Schaf unter Wölfe geschickt zu werden, ist Weisung zum Selbstmord – es sei denn, der große, unsichtbare Hirte hält das Rudel auf wundersame Weise auf Distanz. Seine Gegenwart allein schützt die Schafe. Und dann sagen die Schafe den Wölfen den endgültigen Frieden an. Und mancher Wolf wird selbst zum Schaf in der Sendung des großen Hirten.

Die Völkerwelt ist reif zur Ernte

Horcht man genau auf unser Evangelium, findet man gleich im ersten Vers eine irritierende Spannung: Jesus erweitert den Kreis der als Boten auf dem Weg vor ihm her Gesendeten um ein Mehrfaches, nämlich auf die stolze Zahl von zweiundsiebzig Jüngern! Werden jeweils zwei zusammen in die Ortschaften und Städte auf dem Weg nach Jerusalem geschickt, um die Ankunft Jesu vorzubereiten, sind das nicht weniger als 36. Überall dorthin will Jesus kommen! Das sind, als Rast- und Übernachtungsstationen auf dem Weg zwischen Galiläa und Jerusalem, arg viele. Um diese große Anzahl von Orten zu erreichen, braucht es eben die Erhöhung der Zahl der Ausgesendeten – und doch will Jesus selbst, er als einzelne Person, in all diese Orte kommen. Ein Visitationsprogramm, das nur in mehreren Jahren realisiert werden kann? Aber die Zeit von Jesu „Aufnahme“, Tod, Auferstehung, Vollendung in Jerusalem ist doch gekommen, drängt heran. Deshalb hat er sich doch entschlossen nach Jerusalem gewendet, fokussiert, mit klarem Ziel, wie es im Evangelium des 13. Sonntags im Lukasjahr deutlich geworden ist! Merken Sie die Spannung?

Mit dieser Aussendung der 72 (oder 70 nach anderen Textzeugen) muss mehr und anderes gemeint sein, als ein bloßes Vorauskommando für Jesus auf dem Weg nach Jerusalem. Tatsächlich gibt die kleine Schwankung in den Textzeugen zwischen 70 und 72 einen wichtigen Hinweis. 70 oder 72 Völker umfasst jeweils im hebräischen und im griechischen Alten Testament die Völkertafel von Gen 10! Es liegt also sehr nahe, dass Jesus in dieser Aussendung der 70 oder 72 die Verkündigung des Evangeliums in die Völkerwelt hinein symbolisch vorwegnimmt und einübt! Was wir lesen als Episode auf Jesu Weg nach Jerusalem, öffnet sich so für einen universalen Horizont, der nach Jesu Tod und Erhöhung aufgehen wird – in der Sendung zur Mission durch den Erhöhten, die an Pfingsten, nun von Jerusalem ausgehend, in Wirksamkeit gesetzt wird. Die Episode im lukanischen Reisebericht erweist sich als dichtes theologisches Netzwerk über die weltumspannende Verkündigungstätigkeit der Kirche!

So gelesen, erschließt sich das Bild von der Ernte. „Ernte“ hat in biblischer Sprache einen endzeitlichen Klang. Ohne Zweifel ist das auch hier so. Denn auch hier geht es, wie wenig später ausdrücklich wird, um die unüberbietbare und endgültige Bestimmung der Wirklichkeit durch die in Jesus in die Nähe gekommene und herandrängende Königsherrschaft Gottes: die unbegreiflich barmherzige Neuerwählung der Verlorenen zur Lebensgemeinschaft mit Gott. Das ist, was in Jesus kommt. „Die Ernte ist groß“ im Blick auf die Völkerwelt: Das ist dann Jesu große Ansage, wo wir in der Geschichte stehen! Die Welt der Völker ist reif, um in die Königsherrschaft Gottes aufgenommen zu werden! Für diese reife und reiche Ernte braucht es Arbeiter, Mitarbeiter für den königlichen Herrn der Ernte, um die reiche Ernte einzubringen. Die kann man aber nicht machen, die kann man nur erbeten. Denn ihre Erntearbeit ist nur recht, wenn sie auf Sendung durch den Herrn der Ernte beruht. Daran hat sich auch heute nichts geändert: Wir sind immer noch in der endzeitlichen Situation der großen Ernte. Der Herr der Ernte will unsere Mitarbeit. Dabei müssen unsere Bereitschaft und seine Sendung zusammenwirken.

Die vielfältige Verkündigung der Kirche und die Gegenwart des einen Jesus

In diesem Zusammenhang gelesen, steckt auch schon im ersten Vers die gewichtigste und grundsätzlichste Aussage unseres Textes. Alles weitere orchestriert diese fundamentale Aussage: An die Orte, an die Jesus seine Boten sendet, will er selbst kommen. Das müssen wir ja jetzt in einer zeitlich und räumlich umfassenden Perspektive verstehen! Die Kirche verkündet niemals sich selbst, sie bindet nicht an sich, sondern ihre durch Zeiten und Räume unbegrenzt vielfältige Verkündigung des einen Evangeliums ist Vorbereitung und Vermittlung des Kommens des einen Jesus. Sonst wäre sie kirchlicher Imperialismus und der von Papst Franziskus so oft kritisierte Proselytismus. Stattdessen geht es um eine Sendung, eine Mission, die durch die Anziehungskraft  und den Duft der Gegenwart Jesu wirkt. Mission durch Anziehung – wie es wiederum Papst Franziskus ausgedrückt hat. In allem Wirken der Kirche geht es um die Vermittlung der Gegenwart Gottes, nicht um sie selbst. Sonst ist es pervers und auf dem Weg zum Missbrauch. Allein richtig dagegen ist die Haltung des Täufers Johannes: Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen. Das gerade ist die Freude der Freunde des Bräutigams.

Unter Wölfen

Auf was für eine Wirklichkeit werden die Gesendeten treffen? Jesu Ansage dazu ist wieder einmal unbegreiflich krass und radikal. Man sollte sie nicht zu Allgemeinplätzen abschwächen. Etwa: Die Situation des Verkünders des Evangeliums sei nicht ungefährlich. Darauf wolle Jesus hinweisen. Nein, als Schaf unter Wölfe gesendet zu werden, heißt an sich, an einem Selbstmordkommando teilnehmen. Die Situation des Schafs, auch zweier Schafe, gegenüber dem Wolfsrudel ist die vollständige Wehrlosigkeit. Spätestens wenn das Wolfsrudel Nahrung braucht, sinkt die Überlebenschance der Boten-Schafe gegen null…. Man sollte auch nicht abschwächen, dass Jesus dieses Ausgesetztsein als Grundsituation des Glaubensboten anspricht, nicht als gelegentlich vorkommende Ausnahme. Für den Boten des Evangeliums ist die Wirklichkeit „wölfisch“. Und er ist das Schaf in der Wolfswirklichkeit. Und damit wäre er eigentlich chancenlos – wenn nicht hinter ihm der große, gute, unsichtbare Hirte stände, der das Wolfsrudel auf Distanz hält. 

Wiederum also: Nur durch die Gegenwart Jesu, des guten Hirten, ist das Werk der Boten möglich. Ohne seine Gegenwart fällt es der „wölfischen Wirklichkeit“ zum Opfer. In seiner Gegenwart aber kann es konzentriert und in tatkräftigem Vertrauen angegangen werden. Deshalb ist die „andere Seite“ jeder evangelisierenden Tätigkeit die Kontemplation, die immer tiefer in die Gegenwart des Herrn eintaucht, in dieser Tiefe Sendung erfährt und aus dieser Quelle wirkt.

Minimalismus und Fokussierung

Für die Lebensform der Boten bedeutet dies: Minimalismus und Fokussierung. Im Vertrauen auf  die Gegenwart des Herrn, von ihr getragen und genährt, kann alles Überflüssige und Ablenkende wegfallen und das Leben fokussiert und ausgerichtet werden auf das eine Notwendige, das sich zu einem Dreiklang ausfaltet: In der Kontemplation, im Wort Jesu die lebendige Stimme des Hirten suchen, sich aus dem Hören von ihm senden lassen und sich im Zusammenspiel beider fokussieren auf die in Jesus nahekommende Königsherrschaft Gottes. Deshalb verlangt Jesus in unserem Evangelium Geldbeutel, Vorratstasche und Schuhe abzulegen und sich stattdessen auf den fürsorgenden Vater zu verlassen. Und in der Fokussierung auf die Sendung niemanden zu grüßen, also soziale Kontakte zu reduzieren. Dabei geht es nicht um einen kurzen Gruß, sondern um das zeitlich ausgedehnte orientalische Ritual der Begrüßung – bis hin zum Besuch (wofür das griechische Wort in der Apostelgeschichte dreimal verwendet wird). Es geht also insgesamt um eine gesammelte Ausrichtung auf die Sendung, die sich nicht ablenken lässt, sondern in der Ausrichtung darauf verharrt.

Shalom

„Friede, Shalom auf Erden den Menschen seiner Gnade“ war der zweite Teil der Engelsbotschaft im Weihnachtsevangelium des Lukas. Dieser Friede ist das endzeitliche Heilsgut, das Jesus bringt, das in der anbrechenden Königsherrschaft Gottes Raum greift. Endzeitlich deshalb, weil diese Gabe den endgültigen Frieden mit Gott bringt, verwundete Herzen in der Tiefe heilt und von dort aus den ganzen Menschen, alle seine Beziehungen und die ganze Wirklichkeit ganz und heil machen will. Shalom ist Fülle und Ganzheit des Heils, umfassendes Wohl.

Solchen Frieden sollen die Boten Jesu zuerst dort zusprechen, wo sie hinkommen. Dieser Friede ist aber keine Allerweltsansage. Er wird von den Boten Jesu wirksam zugesprochen. Wiederum gilt: Hinter diesem Zuspruch steht die verborgene Gegenwart dessen, der seinen Boten folgt, ja in ihrem Zuspruch schon geheimnisvoll da ist. Er ist es, der die Wirklichkeit zu seinem Frieden hin verwandelt. Der Friedenszuspruch seiner Boten, in dem er selbst gegenwärtig und wirksam ist, hat deshalb die Kraft, „wölfische“ Wirklichkeit zu verwandeln. Wölfe wandeln sich und werden Teil der Herde des Herrn, werden selber zu wehrlosen Gesendeten, behütet durch den großen, guten Hirten – und beginnen selbst seinen Frieden demütig und wirksam zuzusprechen. Diese Verwandlung der wölfischen Wirklichkeit durch den göttlichen Frieden, der in Jesus Raum greift und durch seine Boten zugesprochen wird, ist der glühende Kern unseres Evangeliums. 

Söhne des Friedens  

Aber er ist kein Automatismus und keine Magie. Auf den Söhnen des Friedens vermag der zugesprochene Friede wirksam zu ruhen – von den anderen prallt er ab und kehrt zurück. Aber was ist nötig, um ein „Sohn des Friedens“ zu sein? Eben wurde doch behauptet, dass der Zuspruch des Friedens wölfische Wirklichkeit zu verwandeln vermag. Aber müsste nicht ein „Sohn des Friedens“ immer schon ein Lamm sein? Nein, bei Wölfen, die nur ein Minimum an verborgener Sehnsucht und Offenheit in ihrem Herzen tragen; den Krampf der unbedingten Selbstbehauptung, Selbstbewahrung und Selbsterhaltung hinter sich zu lassen; den Krampf und Kampf, bei dem in der Tat der „Mensch dem Menschen ein Wolf“ ist, beim dem kann der Friede Gottes, den Jesus im Wort seiner Boten bringt, andocken. Da wird diese Sehnsucht im Wolf durch das Wort der Boten geweckt und mächtig, weil sich darin eine ganz neue, heilende, befreiende Perspektive öffnet. Da ist Bekehrung und Verwandlung möglich, weil diese Sehnsucht menschlich und der Krampf der unbedingten wölfischen Selbstbehauptung am Ende heillos und unmenschlich ist. Wir haben sie nur immer wieder vergessen, weil der Fall unserer Ureltern uns in diese Falle der Selbsterhaltung um jeden Preis gelockt und wir die ursprünglichere Wirklichkeit eines Lebens im Vertrauen von Gott her, vor ihm und auf ihn hin dauernd zu vergessen drohen. Königsherrschaft Gottes in Jesus vermag diese verschüttete Wirklichkeit zu wecken, zu erinnern, zu befreien, einen neuen Anfang freizusetzen. Und im Wort seiner Boten ist dieser Neuanfang da – und wirksam und braucht nur ein wenig Sehnsucht des Herzens….

Vom Ernst der Entscheidung

Wer allerdings ganz und vollständig „zumacht“, den vergewaltigt Jesu Wort im Wort der Boten nicht. Der bleibt im heillosen Krampf der wölfischen Wirklichkeit zurück. Dem wird Jesu Wort vorerst zum Gericht. Den Staub der Stadt, die die Boten nicht aufnimmt, schütteln die Boten von den Füßen und sagen damit: Keine Gemeinschaft – wir überlassen euch eurer Heillosigkeit. Ob es uns passt oder nicht: Der Text unseres Evangeliums ist hier von größter Klarheit und absolutem Ernst. Die Verse zwischen Anfang und Schluss des Sonntagsevangeliums, die wohl in der Sorge vor zu großer Länge ausgelassen wurden, würden das noch viel deutlicher machen: Wer die Boten abweist, bleibt heillos zurück. Es gibt hier keine Neutralität. Aber dennoch steht auch hier nicht der Fluch am Schluss, sondern die Wiederholung der Botschaft: Gottes Königsherrschaft ist nahe herbeigekommen! Das hält die Situation auch derer, die vorerst zumachen, offen. Gerade Lukas betont, dass diese Situation offen bleibt, gerade weil Jesus am Kreuz die eigene Verwerfung trägt und sich schützend vor die Verlorenen stellt: „Vater, vergib ihnen. Denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Und für den einen Schächer wird die Stunde seiner Hinrichtung zur Stunde des Heils. Aber der Ernst bleibt!

Von der Freude der Erwählung

Als die Jünger von ihrem Botendienst heimkehren, freuen sie sich über die charismatische Ermächtigung, die ihnen widerfahren ist. Im Namen Jesu, in dessen Vollmacht und Gegenwart sie gehandelt haben, haben ihnen sogar die Dämonen gehorcht. Das heißt: Sie konnten im Namen Jesu Menschen aus der Gebundenheit befreien und gerade jene Wirklichkeit überwinden, die den Krampf der wölfischen Selbstbehauptung um jeden Preis immer neu anstachelt und entfacht. 

Dieses Zeugnis bringt Jesu dazu, visionär zu reden und das, was die Jünger erfahren haben, in den großen heilsgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen: Jesus sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel stürzen. Das heißt: Der Anspruch Satans, den Menschen vor Gott zu verklagen, ist gebrochen. Deshalb hat er seinen Ort im Himmel verloren. In der anbrechenden Königsherrschaft Gottes geschieht Neuanfang und Heil für die Verlorenen jenseits der menschlichen Schuldgeschichte, auf der dieser Anspruch beruhte. In der Offenbarung (12,10) des Johannes heißt es entsprechend: Und ich hörte im Himmel eine mächtige Stimme rufen: Jetzt ist erschienen das Heil und die Kraft und die Königsherrschaft unseres Gottes und die Vollmacht seines Gesalbten. Denn hinabgeworfen ist der Ankläger unserer Brüder und Schwestern, der sie Tag und Nacht verklagt hat vor unserem Gott.“ Diese Stelle steht in unmittelbarer Entsprechung zu unserem Evangelium. Jesus ist allerdings noch kühner, wenn er das für seine Gegenwart aussagt, was die Offenbarung erst kommen sieht. (Worin kein Widerspruch besteht, sondern einfach die Spannung zwischen dem initialen Geschehen im Wirken Jesu und der Vollgestalt zum Ausdruck kommt.)

Zum Schluss aber ist alle charismatische Vollmacht nur ein Zeichen für eine noch viel tiefere Wirklichkeit: Wer mit Jesus wirkt, wer sich vertrauend als sein Werkzeug zur Verfügung stellt für sein Wort und Wirken, der darf auch vertrauen „im Himmel verzeichnet“ zu sein, zum Leben hinübergegangen zu sein, weil er zum Leben erwählt ist und darin Anteil an Gott hat. Das aber ist eine Freude von unsäglicher Tiefe. Gott aber will alle hineinholen und niemanden davon ausschließen. So will er, so wirkt er. Und wir dürfen an diesem Wirken als seine Werkzeuge teilhaben!


Dr. theol. Martin Brüske,
geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.


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