Der Versuch der Selbsterhaltung der Kirche wird zu deren Sterben führen. Gelebter Glaube und missionarische Jüngerschaft können sie neu erblühen lassen. Dazu stellte Dr. Martin Brüske am 31. Januar 2025 anlässlich der Pressekonferenz zur Präsentation des neuen Buches „Urworte des Evangeliums“ seine Thesen vor.
Von der Religionsverwaltung zu Evangelisierung und Mystagogie
„Wer sein Leben behalten will, wird es verlieren. Wer es aber um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.“
- Dieses Logion Jesu ist kein Paradox in einem unverständlichen frommen Überbau, sondern ein sozialwissenschaftlich präzise rekonstruierbarer Satz. Er gilt für Individuen wie für ein soziales System wie die Kirche. Es besagt: Der Versuch der Selbsterhaltung um jeden Preis ist ein am Ende des Tages tödliches Projekt für alle, die den Grund ihres Lebens nicht in sich selbst tragen. Wie wir alle. Und wie die Kirche: Wer nur noch um sich selber kreist – Papst Franziskus benannte das 2013 präzise als autoreferencialidad, Selbstreferenzialität – schneidet sich vom Grund seines Lebens ab.
- Der Sozialgestalt der Großkirchen des Westens in der Neuzeit ist diese Gefahr in besonderer Weise immanent: Sie entwickelten sich zu Virtuosinnen der Religionsverwaltung – wie keine Gestalt des Christentums vor und neben ihnen. Die Verwaltung von Religion ging überdies einher mit der Disziplinierung der Subjekte und mit ihrer Rekrutierung durch Vorgänge der Sozialisation jenseits individueller und ganzheitlicher Plausibilisierung. Bürokratien haben aber die innere Tendenz zur Selbstbezogenheit.
- Die Missbrauchskrise offenbarte Selbstreferentialität in ihrer brutalsten und perversesten Gestalt. „Missbrauch“ und „Vertuschung“ zeigen in dramatischer Weise Individuen und Institutionen, deren unbedingte Bindung an Transzendenz zusammengebrochen ist, und die deshalb nur noch um sich selbst kreisen: Täter, deren nicht integrierte Sexualität nur noch die eigene Bedürftigkeit kennt, und disziplinierte Funktionäre, die eine Institution repräsentieren, die nur noch am eigenen Selbsterhalt interessiert ist. Eine solche Institution ist ein Moloch, Vertuschung in einem theologischen präzisen Sinn Götzendienst (ein Götze entsteht durch die Aufladung einer endlichen Wirklichkeit mit der Energie des Absoluten) und ekklesialer Atheismus, „Missbrauch“ wie „Vertuschung“ notwendig Akte der Apostasie, des Glaubensabfalls – selbst wenn dabei ein orthodoxes Credo aufgesagt wird.
- Der Synodale Weg war der verzweifelte und zum Scheitern verurteilte Versuch, durch eine gewaltige Anpassungsleistung, die faktisch einem Verrat am historischen Christentum gleichkommt, Religionsverwaltungskompetenz zu stabilisieren und noch einmal gesellschaftlich zu legitimieren. Die Selbstbezüglichkeit dieses Systems wurde dabei nicht aufgebrochen, sondern noch gesteigert. Die einzigen Fragen, die relevant sind: „Wie gelangen Menschen heute in höchstpersönlicher Weise in die Beziehung zu Jesus Christus und können dann darin wachsen?
Und wie werden sie darin zu geistlich selbständigen Subjekten ihres Glaubens?“ – Diese Fragen wurden nicht nur nicht beantwortet, sondern nicht einmal gestellt.
- Wenn Papst Franziskus als Alternative zur autoreferencialidad von einer evangelisierenden Kirche spricht und von einer Kirche der missionarischen Jüngerschaft, dann meint er damit nicht eine bloße zusätzliche Aufgabe pastoraler Art, sondern eine grundsätzlich andere Sozialgestalt von Kirche: Eine Kirche, die nicht mehr geprägt ist von der Dichotomie von Betreuern und Betreuten, von Verwaltern und Verwalteten, sondern die lebt und lernt in gemeinsamer Jüngerschaft – auf dieser Ebene übrigens strikt egalitär. In der dennoch apostolische Sendung und Autorität in Verkündigung, Heiligung und Leitung existieren, legitimiert und unterscheidbar in ihrem Dienstcharakter, weil strikt ausgerichtet auf geistliche Selbständigkeit und Subjektwerdung im Glauben.
- Eine solche Kirche ist „dezentriert“ (Papst Franziskus im Interview mit P. Spadaro über die Gesellschaft Jesu): Sie lebt aus der Quelle ihres transzendenten Grundes – vor dem Vater, in Christus, aus dem Hl. Geist – und bindet sich immer neu daran, und sie geht in die Sendung bis an die vielfältigen Ränder. So und und nur so wird ihre Selbstbezogenheit grundsätzlich aufgebrochen, indem sie zugleich kontemplativ und missionarisch ist. So ist sie Fortsetzung der trinitarischen Sendungen, der Sendung des Sohnes und des Geistes, in die Welt hinein. Und dies ist dann keine leere theologische Phrase, sondern die Umschreibung einer höchst konkreten Realität.
- Diese evangelisierende Kirche missionarischer Jüngerschaft ist zugleich zutiefst mystagogisch. Sie weist ein in eine gemeinsame Lebensform, in der das Leben vor, in und mit Gott gelingen kann. Sie weist ein in eine Lebensform, in der die Geheimnisse des Glaubens existentiell realisiert werden können – immer tiefer und in lebendiger Bewältigung des kulturellen Drucks, unter dem das Christentum heute steht. Im gelingenden Leben vor Gott leuchtet so die Attraktivität des Christentums neu auf. So unglaublich, wie das heute klingen mag: Eine dezentrierte Kirche lebt, wächst und hat ihre beste Zeit noch vor sich. Davon sind die Autorinnen und Autoren unseres Buches felsenfest überzeugt.
Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau.
Beitragsbild: Dr. Martin Brüske; Fotograf: Thomas Esser