„Was ist aus unseren Hirten geworden, dass sie Maß nehmen am Säkularen auf Kosten des Sakralen?“, fragt Helmut Müller. Angesichts der Verweigerung von vier Oberhirten, eine Verstetigung des Synodalen Weges weiter zu finanzieren, meinen die 23 anderen offenbar, man könne fehlende ekklesiale Einmütigkeit durch monetäre Transaktionen und plebiszitäre Übereinkünfte ersetzen. Während die Menschwerdung Christi seit 2000 Jahren das Maß für die Mitte der Zeit ist, scheinen 23 Bischöfe mit dem ZdK dieses Maß wohl gerade durch die gefühlte Höhe der Zeit ersetzen zu wollen. Der Altar konkurriert mit dem Parlament oder sakrale Vollmacht wird durch ein profanes Votum ersetzt: Der Hirtenbrief wird nur noch als Herdenbrief akzeptiert. Das ZdK wirft den vier Bischöfen – die noch als Hirten agieren – sogar Machtmissbrauch vor. Die Warnung vor der Verweltlichung der Kirche der beiden Päpste Benedikt und Franziskus nimmt in Deutschland Fahrt auf.

Denken auf der Höhe der Zeit?

Die Menschwerdung Gottes wird wohl mit einer Vermenschlichung sakramentaler Strukturen seiner Kirche verwechselt: Man meint sakramentale Vollmacht in der Weise der Selbstbindung einem parlamentarischen Plebiszit unterwerfen zu können. Wenn das vornehmlich in Deutschland geschieht, gewinnt es einen faden Beigeschmack von am deutschen Wesen soll die Welt genesen, wenn man sich gegen Rom und dazu auch noch die Weltkirche positioniert. Sicher, man beruft sich auf einen ähnlichen Geist in Rom und der Weltkirche, den man dort auch gefunden hätte. Menschen meiner Generation erinnern sich an angebliche Hilferufe aus dem Westen, die man im kommunistischen Osten gehört haben will und dann bereitwillig zu Hilfe gekommen ist. Klar, überall gibt es fünfte Kolonnen, in der Weltkirche monetär abhängig von den Hilfswerken und doktrinär, etwa durch einen Doktortitel, erworben an der Freiburger theologischen Fakultät. Diese Dominanz der gefühlten Höhe der Zeit über ihre Mitte hat ihre eigene Geschichte und hat einmal ganz anders angefangen.

Auf dem Weg zur Mitte der Zeit

Schon im Alten Testament, das sich noch auf die Mitte der Zeit zubewegte, gab es schon ein Maß dem Israel folgen sollte: Signum levatum inter nationes[1] sollte es sein, das hocherhobene Zeichen unter den Völkern. Das war der Grund, weshalb Mose berufen wurde, Israel aus Ägypten, dem Sklavenhaus mit vollen Fleischtöpfen herauszuführen. Sie sollten in der Wüste einen „reinen“ Gottesdienst feiern, der unbeeinflusst von „fremden Göttern“ war. Im „gelobten Land“ sollten sie unter anderen Völkern Jahwe in einem Bund mit seinem Volk nach dem in der Wüste gelernten Ritus verehren. Schon in der Wüste rebellierte das Volk, ähnlich dem ZDK („Murrerzählungen“, Ex 15,22-27; 16; 17,1-7; Num 11,1-3; 11,4-35; 12; 13-14; 16-17; 20,1-13; 21,4-9), weil die „Fleischtöpfe Ägyptens“ anziehender waren als der Bund mit Jahwe. Gleichermaßen war es mit dem Kult: Der „Tanz ums goldene Kalb“ (Exodus 32, 1-6) mit dem willfährigen Hirten Aaron kam besser an als der abbildlose Gott des strengen Oberhirten Mose. Auch im Gelobten Land herrscht keine Zufriedenheit – „Wir wollen sein wie alle Völker und einen König haben.“ (Jotam-Fabel, Ri 9,8–15). Es wurden Propheten bestellt als „Wächter über das Haus Israel“ (Ezechiel 33,7), die sich nicht nur mit einer unfolgsamen Herde auseinandersetzen mussten, sondern auch mit falschen Propheten (Jeremia 23,9-40). Auch das ZdK und die Mehrheitsfraktion der Bischöfe können sich offensichtlich auf eine „Tradition“ berufen.

Die Mitte der Zeit

Bis zur Ankunft des Messias in der Mitte der Zeit war die Versuchung groß, werden zu wollen wie die anderen Völker. Und als er gekommen ist, wurde er vom Großteil des Volkes als solcher gar nicht erkannt, obwohl ein unmittelbarer Vorläufer, der letzte Prophet des Alten Testamentes – Johannes der Täufer – geradezu mit dem Finger auf ihn hingewiesen hatte. Jesus erweitert den Bund Gottes mit dem herausgerufenen Volk Israel aus dem Alten Testament auf die ganze Menschheit. So versteht sich auch die junge Kirche als Ecclesia, herausgerufen, das Evangelium vom Reich Gottes zu verkünden. Aber auch schon in den Anfängen im neuen Bund wird ER „ein Zeichen sein, dem widersprochen wird.“ (LK 2, 34) Auch hier befindet sich das ZdK offensichtlich in einer ungebrochenen Tradition.

Die Mitte der Zeit und ihre Merkmale

Dem Signum levatum inter nationes, das jetzt die Mitte der Zeit markiert, widerspricht das ZdK. Es versteht sich offensichtlich als Kirchenparlament. Denn das Signum levatum inter nationes wird im Neuen Testament mit einem Missionsauftrag verknüpft und hat folgende Merkmale:

  1. Dieses Reich ist ohne Machtstrukturen konzipiert.
  2. Sakrale Vollmacht rekrutiert zum Dienst.
  3. In der Allegorie vom Leib Christi geht Hierarchie vom Haupt Christus aus und wird als orientierend verstanden.
  4. Funktion der Hierarchie ist es, die einzelnen Glieder in ihren Diensten zu organisieren.
  5. Die, die Leitung ausüben, sind berufen durch eine sakrale Vollmacht, die sich historisch im Weihesakrament auszeitigt und nicht als Selbstbindung sich von irgendwem verpflichten lassen darf.
  6. Davor erfolgte wie bei allen anderen „Herausgerufenen“ die Eingliederung durch die Initiationssakramente in den Leib, dessen Haupt Christus ist.

Jesus unterschied zwischen Sacrum und Saeculum

Schon Jesus unterscheidet also zwischen Sacrum (Gott) und Saeculum (Kaiser): Dienen durch Vollmacht und Regieren mit Macht. Im Laufe der Kirchengeschichte ist spätestens mit der konstantinischen Wende ein Konfliktfeld eröffnet worden. Seither finden wir Vollmacht immer mehr durch reale Macht kontaminiert. Bis in die Neuzeit äußert sich das als eine Auseinandersetzung zwischen Thron und Altar. Mit der Aufklärung wurde dieses Konfliktfeld immer mehr abgelöst und in einem „Aufstand gegen die Ewigkeit“ (Walter Hoeres) ein neues Konfliktfeld eröffnet. Und gegenwärtig meint man den Altar durch ein Parlament ersetzen zu können. Dieses ist gekennzeichnet durch eine sich mehr und mehr vom sakralen Glauben befreiende säkulare Vernunft.

Das II. Vatikanische Konzil mit seinem biblischen Ansatz wollte die Kirche wieder als Signum levatum inter nationes verstehbar machen. Das beinhaltete auch eine osmotische Durchdringung jeder Gegenwartsgesellschaft unter Wahrung der biblisch-kirchlichen Identität, eine Offenheit für den Geist der Zeit (wie die christliche Antike offen war für Plotin) und eine assimilative Abwehr des Zeitgeistes (wie sie sich damals angesichts der Konfrontation mit der Gnosis ereignete).

Communio oder Consilium – Gemeinschaft oder Ratsversammlung?

Vielfach wurde jedoch eine Karikatur dieses Ansinnens daraus. Stichworte in der Gegenwart sind Geist des Konzils oder Konzil der Medien. Diese Karikaturen des Konzils wollen aus der ursprünglichen Communio sanctorum ein Consilium – eine Ratsversammlung – machen. Die sich als autonom begreifende säkulare Vernunft nimmt ihr Maß an säkularen Formen der Legitimierung von Macht und will infolgedessen auch den sakralen Glauben säkular durchrationalisieren.

Das Signum levatum inter nationes wandelt sich dann von einem vernünftigen Glauben, der im Licht der Offenbarung das „Dunkel der Welt“ (Gustav Siewerth) erhellen sollte, in ein „Licht der Vernunft“, das in das Dunkel des Geheimnisses denken will, darin immer mehr agnostisch verharrt (z.B. Magnus Striet) und eigentlich gar kein Signum mehr sein will – und wenn doch, dann ein Signum flectum, das sich in die Gegenwartsgesellschaft konturlos integriert. Leiturgia, Martyria, Diakonia und Coinonia erfahren dadurch eine andere Fundierung. Es geht nicht mehr um die spezifische Wahrheit in diesen Merkmalen von Kirchlichkeit. Es geht nur noch um das Recht auf Meinungen und ihre Manifestationen in Vielfalt, sowie das selbstbestimmte Tätigwerden von möglichst vielen, für die die Mitte der Zeit offenbar durch die „gefühlte“ gegenwärtige Höhe ersetzt wird.

Vom Heerlager zum Feldlazarett?

Die Kirche auf dem Synodalen Weg, die sich durch einen synodalen Ausschuss offensichtlich verstetigen will, scheint mir diesen Weg zu gehen: Man versucht alles Sakrale, das noch begegnet, in die Normierungen und Muster der säkularen Gegenwartsgesellschaft zu drehen, mit einer – allerdings ignoranten – Berufung auf die Humanwissenschaften. Häufig werden nämlich eigentlich deskriptive humanwissenschaftliche Fakten präskriptiv kommuniziert. Diesen, nicht auf den ersten Blick zu erkennenden Dreh ins Werk zu setzen, fällt den Protagonisten umso leichter, als aus der acies bene ordinata, dem geordneten Heerlager (wie vor allem die Katholische Aktion die Kirche verstand), ein Feldlazarett (Papst Franziskus) wurde, in dem selbst die Ärzte, die Hirten, einem säkularen Virus zum Opfer gefallen sind.

Hier setzt auch der Synodale Weg an; und er fügt noch einmal eine unmerkliche Drehung hinzu: Die seit Beginn des neuen Jahrtausends offenkundig gewordene „gewalttätige Sexualität“ (Bernhard Meuser, Freie Liebe. Über neue Sexualmoral, Basel 2020, 155, 408) von Klerikern wird notorisch in „sexualisierte Gewalt“ verdreht und umfirmiert. Aus einem gewalttätigen Einzelnen wird so unter der Hand eine sakrale Gruppe, die man als strukturell gewalttätig verdächtigen darf. Man darf mutmaßen, dass die missliebige sakrale Struktur in eine säkulare verwandelt werden soll. Der Ursprung der Gewalt im einzelnen Täter soll ins Systemische einer begünstigenden Struktur verlagert werden.

Die Verdrehung von gewalttätiger Sexualität in sexualisierte Gewalt

Das heißt, der einzelne Täter sollte im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Und da helfen humanwissenschaftliche Erkenntnisse weiter: Männliche Sexualität ist physiologisch in archaischen Hirnstrukturen (Stichwort „Reptiliengehirn“) mit Aggression gepaart. Das männliche Sexualhormon Testosteron wird ausgeschüttet, und das dem entsprechende Verhalten wird von Triebtätern kaum noch von der „Großhirnrinde“ gesteuert. In soziologischer Perspektive wird diese „programmierte“ Aggression allerdings strukturell unterstützt, und sie spielt jeweils eine Rolle, wo es um ein Verhältnis von Vorgesetzten zu Untergegebenen geht. Das ist hominides Erbe, kein klerikales Sondergut. Deshalb ist es bei Sport-, Musik- und Reitlehrern nicht anders als bei Klerikern, wo es natürlich besonders verwerflich ist, wenn das Muster nicht durchbrochen wird. Sind Kleriker doch zu Dienst und Heil bestellt und nicht zur Verkehrung in Unheil schaffen und Macht ausüben. Klar ist: Klerikaler Missbrauch kann nicht auf die Struktur gewalttätiger Sexualität reduziert (und verharmlost) oder sogar in sexualisierte Gewalt umbenannt werden, nur um einem Hebel in der Hand zu haben, eine missliebige sakrale Struktur zu entlarven. Richtig ist, dass in einer Minderheit von Fällen und in abscheulicher Weise auch sexualisierte Gewalt im Wortsinn bei Klerikern vorkommt. Dieser Sachverhalt liegt vor, wenn gezielt und vollbewusst die klerikale Vollmacht als Macht missbraucht wird. Sexualisierte Gewalt bedeutet nämlich, Abhängige oder Besiegte – wie das in Kriegen der Fall ist – sexuell zu missbrauchen und die sexuelle Lust in einer besonders perfiden Form von Gewalt einzusetzen. Die ursprüngliche sexuelle Gewalttätigkeit in der Struktur der Persönlichkeit des Täters darf nicht in einer kirchenpolitischen Strukturdebatte verzweckt werden, die ein ganz anderes Interesse hat und die Opfer ebenso vergisst oder missachtet wie der Täter. Ganz selbstverständlich ist aber, dass weder eine gewalttätige Sexualität noch sexualisierte Gewalt einen Schutzraum in der Kirche finden sollten.

Die Hirten der kleinen Herde

Das prophetische Wort Kardinal Ratzingers kurz vor seiner Papstwahl 2005 beim Kreuzweg in Rom ist so doppelt wirklich geworden: Das abscheuliche Versagen von Menschen, die in sakralen Struktur eingebunden sind, was er angeklagt hat, wollen die Mehrheitsbischöfe zusammen mit dem ZdK aufheben durch säkulare Korrekturen. Damit verzichtet die Kirche darauf, Signum levatum inter nationes zu sein. Das möge Gott verhüten. Drei Bischöfe von der Donau und einer vom Rhein sind zu Hirten der kleinen Herde des Evangeliums geworden. Aber mit der großen heiligen Theresia gesprochen: Gott und ich sind immer in der Mehrheit. Und dazu ein Predigtimpuls von einem indischen Priester zu Ps 69, 8 u. 10: Herr, deinetwegen erleide ich Hohn und Schande bedeckt mein Angesicht. Denn der Eifer für dein Haus hat mich verzehrt, die Verhöhnungen derer, die dich verhöhnen, sind auf mich gefallen“: „Wenn ihr aufhört, die Wahrheit zu verkündigen, hören auch die Verfolgungen auf.“ Was lernen wir daraus? Die Wahrheit hat ihren Preis: Deshalb sind die Hirten in der Minderheit und die Herde ist so klein.


[1] „Im Vatikanum I ist der Ausdruck signum levatum inter nationes zu finden, der im Vatikanum II verständnisvoll weitergeführt wird. Das aus Jesaja 11,12 zitierte „herausgehobene Zeichen“ wird in der Bergpredigt aufgegriffen: Ihr seid das Licht der Welt, das auf einen Leuchter gehoben für alle da ist. Diese Formulierung des Vatikanum I verbindet mit Lumen Gentium, das die Kirche als signum et instrumentum bezeichnet. Das „Licht für die Völker“ ist nicht mehr die zu sich einladende Kirche wie in Vatikanum I, sondern Christus selbst. Daher wird für diesen anderen Akzent statt Jesaja das Nunc dimittis (vgl. Lk 2,29-32) des Simeon zitiert.“ (Benedikt Johannes Michal, Die Kirche als „Mysterium“. Eine analytische und synthetische Lektüre des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dissertation an der Universität in Wien, Betreuer: Bertram Stubenrauch, Wien 2012, 128) http://othes.univie.ac.at/25518/1/2012-09-17_9804937.pdf Zugriff 30. 9. 21


Dr. phil. Helmut Müller

Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag, Link: https://www.fe-medien.de/hineingenommen-in-die-liebe


Bildquelle: Adobe Stock, Christus als Allherrscher im Baptisterium in Florenz
Der Beitrag erschien zuerst als Gastkommentar auf kath.net.

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