Hirtenhunde verbellen die Herde, damit sie zusammenbleibt und nicht auseinander läuft. Hirten sollen sie nach dem Psalmisten (Psalm 23) auf „grüne Auen“ führen. Aber tun sie das? Nicht jeder Bischof findet diesen Mut. Mancher reiht sich selbst sogar in die Herde ein und kommt vom Weg ab, der „zum frischen Wasser“ führt. Helmut Müller sorgt sich um die vielen jungen Menschen, die zu Orientierungswaisen (Hermann Lübbe) in unserer Kirche werden, weil sie ihrem – sich autonom wähnenden – Gewissen überlassen werden, das gar nicht oder nur unzureichend gebildet wird.
Orientierung in der Orientierungskrise
Bischof Bätzing hat dagegen in einem RTL-Interview[1] den Inhalt einer Gewissensentscheidung präzisiert: Ein Christ darf nicht die AFD wählen. Andererseits wird es – ohne inhaltliche Präzision – kirchlichen Mitarbeitern im reformierten Arbeitsrecht in einer Gewissensentscheidung, ohne Sanktionen zu befürchten, frei gestellt, wie sie ihr Sexualleben gestalten. Das heißt im politischen Bereich, der natürlich auch christlich zu gestalten ist, werden Direktiven zur Gewissensbildung gegeben, während sie im Kernbereich christlicher Lebensgestaltung diffus bleiben. Diesen Eindruck muss man gewinnen, wenn es dem kirchlichen Arbeitgeber egal zu sein schein, wenn in der Verkündigung und in der Caritas Tätige ihr Sexualleben ohne inhaltliche Direktiven – wie im o. g. Bereich des Politischen – in autonomer Gewissensbildung gestalten können.
Diese Gedanken beschäftigen mich zur Zeit, da ich für das kommende Sommersemester an der Universität Koblenz eine Vorlesung Orientierung in der Orientierungskrise halten werde. Ich habe mich entschlossen meine Studenten und Studentinnen nicht orientierungslos ihrer autonomen Gewissenbildung zu überlassen und werde sie in der ersten Sitzung mit einem Wort zuvor ansprechen:
Ein Wort zuvor
Das Gewissen lehrt die veritas vitae. Was ist damit gemeint?
- Die Wahrheit des ganz eigenen unverwechselbaren Lebens in seiner Ausrichtung auf den Willen Gottes. Das liest sich im Katechismus der katholischen Kirche wie folgt: Der Mensch „soll jedoch stets nach dem Richtigen und Guten suchen und den Willen Gottes, der im göttlichen Gesetz zum Ausdruck kommt, erkennen“ (KKK 1787).
- Konkret kann das heißen: Die meisten von Ihnen befinden sich in einer Lebensphase, in der Entscheidungen getroffen werden müssen, die Ihr weiteres Leben bestimmen werden; jetzt müssen die Weichen für einige Gleise gestellt werden, in denen Sie nachher Ihr Leben lang oder mindestens sehr lange fahren müssen: Es ist Ihre Berufsentscheidung und die Entscheidung für einen Lebenspartner. Es geht hier um ein ganzes Bündel von Entscheidungen, die natürlich nicht alle von sittlicher Qualität sind, sondern häufig nur schlicht vernünftig.
Aber für dieses Bündel von Entscheidungen gilt, was ein kluger Mensch einmal wie folgt ausgedrückt hat, Leben sei ein „Zeichnen ohne Radiergummi“:
Leben – Zeichnen ohne Radiergummi
Sie haben sich für ein Lehramtsstudium entschieden, das katholische Religionslehre enthält, oder Sie interessieren sich als Kulturwissenschaftler für das katholische Bekenntnis. Diese Entscheidungen sind nicht mehr rückgängig zu machen, diese Entscheidung wird in jedem Ihrer Lebensläufe auftauchen. Sicher, Sie können das Studium wieder abbrechen, aber die Tatsache, dass Sie hier in diesem Raum vor mir sitzen, können Sie nicht mehr ausradieren, Sie können bloß anders weiterzeichnen. Genauso ist es mit der Partnersuche. Sie können zwar Ihrem Freund oder Ihrer Freundin den Laufpass geben, aber die Zeit mit ihm oder ihr können Sie nicht mehr ungeschehen machen. Freudige oder schlimme Erinnerungen werden Sie begleiten, möglicherweise sogar Ihr Leben weiter bestimmen. Aus dem Gefühlsarchiv Ihres Lebens werden Sie Vieles nicht mehr tilgen können, Schlimmes und Schönes.
Das Gewissen ist kein Rabattorgan für sittliche Normen
Das Gewissen nun ist ein Organ in uns, das uns helfen soll, dass unser Leben gelingen kann, insoweit es um sittliche Fragen geht. Die christlichen Kirchen verstehen sich ja als Gemeinschaften, in einem engeren Sinn als regelrechte Gewissensschulen, die dem Menschen zur Seite stehen, dass er seine Weichen möglichst richtig stellt. Die hl. Schrift und die Lehre der Kirche wollen solche Wegweisungen sein. Das Gewissen macht nun diese allgemeinen Wegweisungen in konkreten Fällen, wenn alle allgemeinen Wegweisungen einer Konkretisierung bedürfen, zu „meinen“ Wegweisungen. Dem Wort Christi: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, dem Christen seit 2000 Jahren im Raum der Kirche begegnet sind, wird mir in sittlichen Entscheidungen durch das Gewissen als veritas vitae für mein Leben vermittelt. Vielfach wird Gewissen falsch verstanden, so als gäbe das Gewissen einen persönlichen Rabatt auf besonders harte und harsch empfundene allgemeine sittliche Weisungen. Das Gewissen ist kein Nussknacker, mit dem man das sechste Gebot (und auch alle anderen) so knackt, dass man mit den Bröseln ohne größere Anstrengung gut leben kann. Damit ist schon Paulus in Korinth konfrontiert worden. Es gab eine Gruppe von Gemeindemitgliedern, die der Auffassung war, dass ihnen in sexuellen Dingen alles erlaubt sei; was sie mit dem Leib täten, würde nicht weiter den Geist beeinträchtigen. Da waren sie aber bei Paulus an den „Richtigen“ geraten. Auf „alles ist mir erlaubt“ (1Kor 6,12), bekommen sie von Paulus zu hören „Doch nicht alles tut gut“ (ebd.), und schließlich ganz détailliert: „Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind? Werde ich nun die Glieder Christi nehmen und sie zu Gliedern einer Dirne machen? Das sei ferne! Oder wisst ihr nicht, dass wer einer Dirne anhängt, ein Leib mit ihr wird? … Flieht die Unzucht! Jede Sünde, die sonst ein Mensch begeht, ist außerhalb des Leibes, wer aber Unzucht treibt, der sündigt gegen seinen eigenen Leib. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt; ihn habt ihr von Gott, und nicht euch selber gehört ihr.“ (1Kor 6,15ff.).
Gibt es eine Gebrauchsanweisung für das Gewissen?
Sie werden jetzt fragen, wie funktioniert denn das Gewissen, das offensichtlich in jedem von uns „eingebaut“ ist? Gibt es eine Gebrauchsanweisung? Wie erschließt es mir den reichen Erfahrungsschatz gelingenden menschlichen Lebens, sodass ich wirklich auch mein Leben darin wiederfinde? Wie unterscheide ich schillernde Lebensmöglichkeiten, die viel versprechen und reizend sind, von denen, die wirklich, realistisch meine veritas vitae werden können und mein Leben gelingen lassen? Eigentlich Fragen, die jedem am Herzen liegen müssten, dem sein Leben wertvoll ist. Vielleicht haben die ersten von Ihnen auch schon Schiffbruch erlitten. In vielen Gesprächen ist mir immer wieder bewusst geworden, wie sehr auch Ihr Leben schon beschädigt worden sein kann. Manchmal blickt schon ein 25-Jähriger oder eine 25-Jährige[2] auf ein Leben zurück, in dem sich schon so viel Leid und Enttäuschung angesammelt hat, wie in meiner Generation erst mit 40 Lebensjahren. Andererseits haben Sie im Alter von 25 Lebensmöglichkeiten, aber auch schon Karrieren vor sich, von denen unsereins nur träumen konnte. Das fällt mir besonders auf, wenn ich in Vallendar Gespräche von WHU (Wissenschaftliche Hochschule für Unternehmungsführung) Studenten mitbekomme und höre, wo sie schon überall waren, was sie verdienen oder wo sie ihre Praktiken ableisten und welche Dienstwagenklasse ihnen zur Verfügung gestellt wird.
Das Gewissen als Mittelstreifen auf der Straße des Lebens
Ist das alles, das Gute und Schöne, das Leidvolle und Belastende allein dem Zufall, einer glücklichen oder unglücklichen Begabung überlassen, dem Schicksal? Wo wird der Maßstab angelegt, wenn man ein Leben als geglückt bezeichnen kann? Schon Sophokles fragt in seiner Antigone, ob man einen Menschen glücklich nennen könne, solange er noch nicht des Lebens Bahn durchlaufen habe. Das kirchlich gebildete Gewissen kann hier ein Kompass sein, der Mittelstreifen auf der Straße des Lebens. Das Gewissen ist damit die geballte sittliche Vernunft, orientiert am Glauben mit Ausrichtung auf mein Leben. In dieser Vorlesung geht es um seine Gebrauchsanweisung.
Nach diesem Ausflug ins Leben, wo sich das Problem für Sie stellt, nun zum Ausflug ins Lehrbuch. Da ich ja nicht Ihr Psychotherapeut bzw. Ihr Beichtvater bin, sondern einer Ihrer Lehrer, ist dieser Blick ins Lehrbuch vonnöten. Ich hoffe, es nervt Sie nicht zu sehr, dass wir diesen Weg miteinander gehen müssen, wenn Sie auch draußen auf dem Campus oder der Liegewiese sein könnten. Aber wir befinden uns ja in einem Hörsaal, nicht im Beichtstuhl – oder Zimmer und erst recht nicht auf der Couch.
Gott – der Personal Assistant für mein Leben
Moraltheologie bzw. theologische Ethik wird in diesem Vorlesungszyklus als dialogisches Geschehen
– zwischen Gott und Mensch
– zwischen Mensch und Mensch
– zwischen Mensch und Welt
– und dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst verstanden.
Diese Beziehungsverhältnisse sollen dem Verhältnis der drei göttlichen Personen in Gott selbst ähnlich werden. Sie hören ja eine theologische Ethik, in der Gott nicht die Rolle eines Rades spielt, bei dessen Drehung sich nichts mitdreht. In manchen theologischen Ethiken wird sogar versucht ihn regelrecht raus zu drehen, um möglichst kompatibel mit säkularen Ethiken zu bleiben. In der Ethik ginge es ja bloß um ein proprium humanum. Nach dem amerikanischen Theologen Stanley Hauerwas hört er immer mal von säkularen Ethikern folgendes: Say something theological, „Sag doch mal was Theologisches“. Das kommt davon, dass man das proprium Christianum delegiert hat an die Dogmatik.
Das werde ich nicht tun. Im Gegenteil: Ich empfehle Ihnen, sich Christus, den Globalplayer der Welt, als Personal Assistant für Ihr Leben zu wählen: Er wartet geradezu auf jeden von uns. Denn er ist die Liebe schlechthin. Die Beziehungsverhältnisse in Gott sind nämlich als liebender Dialog zu begreifen: Der Vater und der Sohn sind die Liebenden, der Geist die personifizierte Liebe. Liebe ist kein Egoismus zu zweit, so wie der Geist die bleibende Liebe Gottes in den Sakramenten stiftet und in der Kirche schenkt, so ist auch Liebe die Offenheit von Zweien zur Welt, eine Quelle von Freude und ein Trost im Leid. So wie sexuelle Liebe, von ihrem Wesen her offen für ein drittes, das Kind ist, so ist Liebe generell nicht die Selbstgenügsamkeit von Zweien, sondern von ihrem Wesen her Welt gestaltend. (Vgl. dazu die Enzyklika Deus caritas est)
Vom Orientierungswaisen zum Dialogpartner Gottes
Die vorangegangenen Vorlesungszyklen haben von daher schon im Titel versucht diesen Dialogcharakter darzulegen. In einem ersten Zyklus ging es um Anspruch und Zuspruch Gottes an die Menschen. Exemplarisch findet sich diese Eröffnung des Dialoges durch Gott an die Menschen in den 10 Geboten. Gott beginnt mit einem Zuspruch: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“ (EX 20,2) Er weist daraufhin, dass er sie befreit hat, dass er mit ihnen ist. Erst dann erhebt er einen Anspruch, nämlich die 10 Gebote. Selbst dieser Anspruch ist aber so geartet, dass die 10 Gebote eher als Lebensweisungen zu einem gelingenden Leben zu verstehen sind, als eine zu erfüllende Norm.
In einem zweiten Zyklus haben wir uns dann mit dem Dialogpartner Gottes, dem Menschen befasst. Das Problem war, wie kommen wir mit Gott ins Gespräch? Der Mensch ist Geschöpf Gottes und „Hörer des Wortes“, d. h. wir haben über die Struktur unserer Geschöpflichkeit den Dialog mit dem Schöpfer beginnen können. Die Glaubenstatsache, dass sich Gott in Schrift und Tradition, den Transmissionsriemen des „Wortes“ offenbart, ist die andere Schiene, über die wir mit Gott ins Gespräch kommen.
In dieser Art möchte ich meine Studenten ansprechen und Hilfe zur Orientierung geben, damit sie nicht zu Orientierungswaisen in dieser Gesellschaft, und wenn man Bischof Bätzing so hört, immer mehr auch in der Kirche Christi werden.
[1] Das Interview selbst kann man nicht mehr hochladen – weshalb auch immer, sehr wohl aber alle anderen – deshalb hier die Interpretation von Mathias von Gersdorff.
[2] So sagte mir einmal eine junge 25-jährige Studentin: „Ich liege so im Bett und denke, die Beine sind mir so schwer, die Pille nehmen und gleichzeitig rauchen, das ist es eigentlich nicht.“ Irgendwo hat sie vermutlich gehört, dass plötzlicher Tod bei jungen Frauen ab dreißig mit der Kombination Pille und Rauchen eindeutig korreliert.
Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag