In diesen Tagen verdichten sich die Meldungen, dass der Vatikan ein Dokument zum christlichen Menschenbild verabschiedet. Passend wäre der 25. März, an dem wir liturgisch feiern, dass Gott wie wir, sein Menschsein im Schoß einer Frau begonnen hat. Unser Autor, Helmut Müller, stellt sich nun vor, wie es wäre, wenn es kluge Bewohner des roten Planeten gäbe, die Feldforschungen über Bewohner des blauen Planeten in Auftrag gegeben hätten.

Was denken die Bewohner des blauen Planeten über sich selbst?

Aber zunächst: Was denken wir eigentlich über uns selbst,

  • humanwissenschaftlich,
  • philosophisch,
  • und was glauben wir, sagt der liebe Gott über uns in heiligen Schriften, etwa der Bibel?

Alles nur ganz kurz, nicht erschöpfend:

Was also humanwissenschaftlich? Ich beginne mit einer humangenetischen Perspektive. Die Chromosomenpaare XY oder XX haben einen „weiten Weg“ vor sich, wenn sie sich im Schoß einer Frau in diesen Kombinationen zusammenfügen und bis am Ende des Weges eine Person mit entsprechendem Chromosomenpaar von sich sagen kann: Ich bin ein Mann oder ich bin eine Frau oder fühle mich so und so und bin hingezogen zu. Das ist nicht nur ein langer Weg, es dauert auch Jahre bis der Weg, der mit Chromosomenpaaren angefangen hat, als originelle Person in der Spezies homo sapiens zu Ende gegangen wird. Bei dieser außerordentlichen Komplexität läuft nicht alles rund. Kann dann gesagt werden: Jedes Ergebnis des sich Fühlens und sich Hingezogenseins ist gottgewollt? Bei ganzen Scharen von Humanwissenschaftlern (Paläoanthropologen, Humangenetikern, Endokrinologen, Embryologen, Neurologen, Medizinern, Psychologen, Soziologen, Politologen, Psychiatern, Psychotherapeuten usw.) sind die Praxen voll (wenn Beratung oder Therapie angeboten wird). Oder sie suchen in Forschungszentren nach Lösungen. Und wieder andere debattieren mit Kollegen um Verhältnis und Differenz von Sachverhalten und bloßen Meinungen und streiten darüber, was als normativ angesehen werden kann. All das unter anderem, weil viele Betroffene selbst nicht damit leben können, dass sie sind, so wie sie sind. Viele würden darunter existentiell leiden, wenn sie hören, das sei gottgewollt. Georg Büchner würde sogar vor lauter Wut eine ungeheure Faust in den Himmel ballen wollen und Gott herbei reißen und ihn zwischen seinen Wolken schleifen.“  Denn dieser Planet ist für ihn mit allem was darauf kreucht und fleucht ein einziges Jammertal und Sex nur Anlass, sich obszön äußern zu können.

Seit 600 Millionen Jahren gibt es allerdings schon Sexualität. Und zwar, weil es von Vorteil ist, wenn die Genome zweier (!) Individuen zusammenschmelzen, um sich genetisch vielfältiger als Einzeller es könnten, fortzupflanzen. Seit dieser Sex am Ende dieser langen Zeit auch Personen „befällt“, nicht nur periodisch wie in Rauschzeiten das Schwarzwild und in der Brunft das Rotwild, sondern homo sapiens ganzjährig, gibt es Sexualität in immer komplizierteren Formen, und die sind nicht alle wünschenswert und schon gar nicht gottgewollt.

Was würden Mars-Bewohner über uns denken?

Gäbe es Wissenschaftler auf dem Mars und sie fänden ein Exemplar unserer Art, würden sie möglicherweise feststellen, dass es ein dazu unterschiedliches Ko-Exemplar geben müsste, ohne ein solches zunächst gesehen zu haben. Klar, sie müssten sehr genau hinsehen können, wenn sie das feststellen würden. Lassen wir einmal den Blinddarm außen vor: Es gäbe darüber hinaus noch eine Reihe Organe oder physiologische Prozesse, die ihnen funktionslos erschienen. Sollten sie das nicht erkennen, würden sie sofort einige Rätsel lösen können, wenn ihnen ein Ko-Exemplar zu Gesicht käme. Sie würden ein morphologisches, physiologisches und psychologisches Aufeinanderzu erkennen können. Sie würden aber auch feststellen, dass es in geringerer Anzahl nicht zu Passungen kommt und hätten dann die gleichen Fragen wie die oben genannten terrestrischen Humanwissenschaftler.

Wären sie auch philosophisch kompetent, würden sie bemerken, dass eine binär ins Auge springende Unterschiedlichkeit dominant ist, und sie würden wohl zunächst alle Individuen darunter so klassifizieren, wie ich noch vor Jahrzehnten eingeschult worden bin: Jungs hier, Mädchen dort. Wenn sie uns also schon vor mehr als 60 Jahren beobachten konnten, wäre ihnen die Klassifizierung leichter gefallen. Jedes Individuum war nämlich noch sehr bemüht, sich nicht bloß individuell zu präsentieren, sondern sich auch in diesem binären Ausdruck zuzuordnen. Heute ist alles viel grauer, bunter und exotischer. Jedenfalls wäre weiter eine Essenz erkenntlich, die offensichtlich die Existenz der Individuen formiert. Die Bewohner des roten Planeten würden sich dabei vermutlich für Thomas von Aquin[1] und gegen Jean Paul Sartre und seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir[2] entscheiden. Denn sie würden bemerken, dass einige wenige existierende individuelle Varianten sämtlich in gewisser Hinsicht dysfunktional sind, da offensichtlich nur die binäre Form der blauen Planetarier zukunftsfähig ist. Dies einfach deshalb, weil sie sich nur so reproduzieren können. Ob ihnen die Problematik, dass mit dysfunktional keine Abwertung der Individuen verbunden sein darf, bekannt ist, wird ihnen nur ersichtlich werden, wenn die Wissenschaftler des roten Planeten einen Sinn für Diversität haben. Das bedeutet, dass neben allem objektiv Feststellbarem auch subjektive Befindlichkeiten für jedes Individuum des blauen Planeten von Bedeutung sind und beachtet werden müssen.

Was Erd-Bewohner glauben, wie Gott sie gewollt hat und liebt

 Aber wie gesagt alles ganz kurz, daher nur den Blick in ein heiliges Buch von vielen heiligen Büchern, die die Bewohner des blauen Planeten haben und zwar in das auflagenstärkste, die Bibel. Christen glauben, dass Gott selbst wie sie, Mensch geworden sei und dieses Schicksal auf sich genommen hat. Das wird immer stärker hinterfragt auch in der Kultur, die sich auf dieses Ereignis zurückführt. So führt der Australier John Leslie Mackie über Christen in seinem Buch, das Wunder des Theismus alles auf, an was für wunderliche Dinge Christen so glauben. Nichtsdestotrotz sollten wir dabei nicht Dinge in die Bibel hineinlesen, die nicht drinstehen und wir gerne hätten, dass sie drinstünden, nur um diesem Spott zu entgehen. Jedenfalls muss in der Bibel zwischen von Gott gewollt und von Gott geliebt unterschieden werden. Niemand ist, so wie er ist, von Gott gewollt – keiner. Paulus kommentiert das in seinem Römerbrief bezogen auf unser Handeln recht drastisch: „…wie es in der Schrift heißt: Es gibt keinen, der gerecht ist, auch nicht einen, es gibt keinen Verständigen, keinen, der Gott sucht. Alle sind abtrünnig geworden, alle miteinander taugen nichts. Keiner tut Gutes, auch nicht ein Einziger.“ (Römer 3,10ff). Der Mensch gewordene Gott zeigt, in dem er unser Schicksal teilt, dass er uns liebt. Nur in diesem Verbund von Allmacht und Liebe in Gott kann der Mensch heil werden. Hans Urs von Balthasar hat unsere Verletztheit und Bedürftigkeit einmal auf den Begriff gebracht: „Irgendwo blutet jeder Mensch“. Aber jeder Mensch wird so, wie er gerade ist – und wo „er blutet“ – von Gott geliebt. Die Bibel macht diesen Unterschied auch, und wir lesen, dass es nach einem von Gott gewollten Anfang zahlreiche Brüche gegeben hat. Durch seine Menschwerdung will Gott selbst diese Brüche heilen. So macht er die Heilung zur Chefsache. Wenn also „vom Segen Gottes“ gesprochen wird, wird nicht alles abgesegnet, was der Fall ist, sondern es muss gefragt werden: Mit Balthasar gesprochen, wo blutet dieser Mensch? Wer oder was muss oder kann gesegnet werden? Wir werden durch diesen Segen nicht wie durch „einen Mausklick“ erlöst oder geheilt. Soweit es an uns liegt, wird Umkehr gefordert. Der Glaube an das Evangelium, die Botschaft dieses Mensch gewordenen Gottes und die Nachfolge in dieser Botschaft ist angesagt. Wie sollte der Segen formuliert werden, dass keiner mehr blutet? Oder wenn die Blutung gar nicht aufhört, wie mit der Blutung leben? In Rom haben sich der Papst und seine Kardinäle offenbar sehr viel mehr Gedanken über Segen und den Unterschied dazu, absegnen gemacht, als viele im Trend liegende Meinungen sich wirklich an humanwissenschaftlichen Sachverhalten orientieren und nicht bloß an Meinungen oder tatsächlich biblisch begründetem Glauben wiedergeben.

Wohin bloße terrestrische Schlauheit und Geschicklichkeit führen

Vielleicht hätten die Bewohner des roten Planeten die nötige Weitsicht, die uns fehlt – wenn es diese Bewohner denn gäbe. Literarisch hatte C. S. Lewis  diese Weitsicht den Bewohnern des roten Planeten jedenfalls in seinem Werk Jenseits des schweigenden Sterns zugebilligt. Die Bewohner des blauen Planeten kommen dabei sehr schlecht weg, weil sie sich im Gegensatz zu Bewohnern anderer Planeten die Botschaft aus einer alle anderen Planeten übersteigenden Welt nicht angeeignet haben. Sie meinten alles mit ihrer terrestrischen Schlauheit und Geschicklichkeit selbst regeln zu können und so frei zu sein, dass sie auf niemand anderes zu hören bräuchten als auf sich selbst.  


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag


[1] Die Essenz geht der Existenz voraus: Es gibt ein Wesen, in diesem Fall ein Geschlecht, in das man hineinwächst.

[2] Die Existenz geht der Essenz voraus: Es gibt mich und ich bestimme gänzlich wie ich sein will.


Bildquelle Adobe Stock, Midjourney

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