Leib – Liebe – Lust
Wohin führt die Trennung von Natur und Person?
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
Der neue Mensch ohne Natur?
Leib – Liebe – Lust – was wäre schöner? Und doch finden gerade darum „ungeheuerliche Kriege statt in Zusammenhang mit (kleinen) Fragen der Theologie, Erdbeben der Erregung (.…). Es handelt sich nur um Fingerbreite, aber die Breite eines Fingers ist alles, wenn das Ganze in der Waagschale liegt. Wenn man eine Idee abschwächt, wird gleich die andere machtvoll.“ (Chesterton)
Um welche Ideen geht es? Um die Natur des Menschen. Ist der Mensch ein Chamäleon, das sich selbst auswechseln kann? In älterer Sprache heißt er ein „Fremdling“, der sich mit sich selbst nicht so recht auskennt. Nicht einmal mit seinem Leib.
Jüngst nach dem Synodalen Weg Anfang Oktober 2021 meldete sich ein Kardinal (übersetzt: eine Türangel) zu Wort: Aussagen über den Menschen gehörten zur „Dispositionsmasse“ des Christentums. Sie seien nicht „de fide definita“, über den Glauben definiert, sondern veränderbar. Also eine neue Ethik?
Ethik kommt von ethos, dem Weidezaun. Muss der bisherige Weidezaun zur Sexualität neu abgesteckt werden? Die erstaunlichen Aussagen in Forum IV über die Geschlechtlichkeit wollen den Zaun überhaupt aufmachen; eigentlich könnte ihn jeder abstecken. Brauchen wir ihn überhaupt noch? Von weiteren zwei Rednern, darunter einem Bischof, wurde diese „neue“ Sexualethik klar begrüßt: Endlich sei der Durchbruch geschafft: In der Liebe gelte nur die Person mit ihrer individuellen Freiheit. Die Natur = der Leib, das Geschlecht, die Anlage, sind bestenfalls Vorschläge, die man aber überreden, ändern kann. Heißt das nun: Der Leib ist nur Rohmasse meines Willens? Erstaunlich: Natur und Bio sind neuerdings in aller Munde, sie sollen geschont, wieder aufgepäppelt, nur nicht vom Menschen verändert werden. Gentechnik? Nein, danke. Aber bei uns selbst soll Natur ausgespielt haben? Also leib-lose Liebe? Un-natürliche Liebe? Nein, so war’s nicht gemeint, hört man gleich. Aber wie dann? Schauen wir uns das Schauspiel der Irrungen und Wirrungen an.
Vorsicht: „Die Verblendung des Geistes ist die erstgeborene Tochter der Unzucht.“, so Thomas von Aquin. Der angeblich revolutionäre Gedanke ist eine Verblendung: die Trennung von Natur und Person. Das ist keinesfalls so neu oder postmodern, es ist im Gegenteil schon lange formuliert. Auch seine Abwege sind sichtbar, und sie sind auch schon lange in der Kritik. Und sie sind widersprüchlich.
Mensch aus lauter Freiheit?
„Es ist die Natur des Menschen, keine Natur zu haben.“ Seit knapp 600 Jahren gibt es die berühmte Oratio de hominis dignitate (1486) Picos della Mirandola darin: Gott selbst gibt Adam (der übrigens ohne Eva antritt) die Freiheit gänzlicher Selbstbestimmung. Während alle Geschöpfe ihre eigene Wirklichkeit als göttliches Gesetz in sich tragen, ist der Mensch als einziger gesetzlos geschaffen. In die Mitte der Welt gesetzt hat Adam zugleich die unbedingte Macht über sich selbst wie über alles andere Mitgeschaffene. Noch unerschrocken formuliert dies ein Machen, Haben, Unterwerfen der gesamten Schöpfung unter die Ordnung des einen Herrengeschöpfes. Es übernimmt auftragsgemäß als „zweiter Gott” die Allmacht. Dieser „Gott, mit menschlichem Fleische umkleidet“1, wird sein eigener Schöpfer.
Picos Entwurf menschlicher (= männlicher) Freiheit hat allerdings die Rückseite solcher Kraftsteigerung nicht im Auge; bleibt gänzlich naiv.
Erstaunlich ist freilich, daß umgekehrt trotz des Freiheitsrausches der Mensch von der Naturwissenschaft und Technik in die Zange genommen wurde.
Andererseits: Natur als Maschine? Der „vermessene Mensch“
Die behauptete Macht erstreckte sich zunächst auf die äußere Natur (fabrica mundi): auf räumliche, materielle, den neuentdeckten Gesetzmäßigkeiten unterworfene Dinge, um „uns so zum Herren und Besitzer der Natur machen.“2 Heute kämpfen wir mit den Folgen.
Aus diesem „Herrschaftswissen“ entsprang rasch eine zweite Möglichkeit: Auch die „äußere“ Seite des Menschen selbst wurde mit den gewonnenen Methoden verrechnet – bildhaft und noch „unschuldig“ durch den „vermessenen“ Menschen Leonardos und Dürers, auf dessen Körper die Maße des goldenen Schnitts eingetragen sind.3 Als res extensa wird der Körper im Triumphzug des geometrisch-mathematischen Denkens schließlich dem Regelkreislauf einer Maschine verglichen – l’homme machine von La Mettrie (1748). Der Menschmaschine fehlte nur das seelenvolle Auge, so in E. T. A. Hoffmanns Menschenpuppe Coppelia. Auch hier kämpfen wir mit den Folgen, einem Transhumanismus, der Vermischung von Mensch und Roboter. Freiheit heißt hier wohl: sich mit Chips und Ersatzteilen aufrüsten zu lassen.
Tatsächlich fasst die Neuzeit seit etwa 500 Jahren die Natur als eine Art mechanischer Werkstatt auf, und auch der Mensch funktionierte als eine Naturmaschine unter anderen Naturmaschinen. Die Neurobiologie als neueste Disziplin verstärkt in einigen Vertretern die sehr schlichte Behauptung: Denken sei nichts als die Verschaltung von Gehirnsynapsen. Auch der Einwand, wenn alles determiniert sei, gelte das doch zuallererst für den Forscher selbst, stört dabei nicht. Ähnlich der Satz eines Nobelpreisträgers für Chemie, der Mensch sei nichts als Chemie. Hier hätte die Freiheit völlig abgedankt.
Stattdessen triumphiert sie aber wieder umgekehrt im Aufstand gegen das eigene Geschlecht. Einem Zerrbild der Natur entspricht ein Zerrbild der Freiheit.
Freiheit: Der denaturierte Mensch
Seit Judith Butlers „Gender Trouble“ 1990 zielt die Kultur auf einen erstaunlichen Extrempol: eine Umgestaltung bis Auflösung des Körpers im Cyberspace, im virtuellen oder auch realen medizinisch-technischen Raum. Schon die Unterscheidung von Leib und Körper kann als Leitfaden für das Spannungsfeld dienen, denn die beiden deutschen Begriffe weisen bereits auf eine verschiedene Ich-Wahrnehmung hin. So wird Körper vorwiegend verstanden als quantitativ-mechanische Hülle, während Leib den immer schon beseelten, lebendigen Leib meint. Körper kann man entsprechend verändern, bearbeiten, sogar (in Teilen) austauschen – sich also von seiner vorgefundenen „Natur“ unabhängig machen. „My body is my art.“ Körper wird Ort des Protestes gegen eine nicht autonom erstellte Identität. Utopien der fließenden Identität meinen den totalen Selbstentwurf des „Ich“.
Auch Geschlechtsleben wird „inszeniert“, das Ich trägt die jeweilige geschlechtliche Maske – mit der Folge, dass „diese Maske gar kein Ich verbirgt“ (Benhabib, 1993, 15). gender nauting ist angesagt: das Navigieren zwischen den Geschlechtern. Der Mensch ist seine eigene Software, jenseits von Leib und Geschlecht angesiedelt. In diese Richtung weist die gender-Debatte: Sie läßt das biologische Geschlecht (sex) im zugeschriebenen (kulturellen, sozialen, geschichtlichen) Geschlecht (gender) verschwinden. Statt Festlegung durch Natur wird willentliche Selbstwahl angeboten: Ist Frau immer schon Frau oder wer „macht“ Frau zu Frau und Mann zu Mann? Widerstandslos, ja nichtig bietet sich der Leib als „vorgeschlechtlicher Körper“ an. Das Ich kennt keine Fleischwerdung.
Nun braucht es einen roten Faden durch diese Widersprüche. Er heißt: keine Trennung von Natur, Kultur und Person. Einfacher: keine Trennung von Leib und Geschlecht, von Liebe und Dauer, von Lust und Kindern.
So braucht es eine Kritik der halbierten, auf Mechanik reduzierten Natur, aber ebenso der halbierten, auf reine Konstruktivität hin gelesenen Kultur.
Der Mensch ist vielmehr anderswo verankert: in der Richtung auf das Göttliche. Die menschliche Natur und erst recht die Kultur lebt „auf hin“. Die Größe der Natur ist, daß sie eigentlich nascitura heißt: die, die geboren werden will. Gerade die Natur sucht die freie Mitwirkung des Menschen an seinem „auf hin“: daß er seine Ausrichtung bejaht und vollzieht. Auf den Ursprung hin ist das Geschöpf geschaffen, es trägt sein Merkmal, seine Heimat ist dort, woher es kommt.
Das läßt sich schon am Motor des Geschlechtes lesen: Es ist Selbstverlust im anderen, es ist fleischgewordene Grammatik der Liebe. Leib ist Gabe, Geschlecht ist Gabe, ist Grund und Ur-Sprung des von uns nicht Machbaren, der Passion des Menschseins, der ungeheure Trieb nach Hingabe. Reich an dieser Zweiheit von Mann und Frau und arm durch sie – uns selbst nicht genügend, abhängig von der Zuwendung des anderen, hoffend auf die Lösung durch den anderen, die aus dem Raum des Göttlichen kommt und in ihrer höchsten, fruchtbaren Form dorthin zurückleitet (Gen 1,27f). Was im griechischen Denken ein „Fehl“ ist: die mangelnde Einheit, wird im biblischen Denken zum Glück der Zweiheit.
Geschlecht kann ja auch von seinem Wortsinn als „Geschlachtetsein“ oder Hälftigsein her gelesen werden. Die Brutalität des Nur-Geschlechts, der „Fluß-Gott des Bluts (…) ach, von welchem Unkenntlichen triefend“ (Rilke, 1980, 449), muß daher vermenschlicht werden. Leib ist ohne ein reizvolles, anderes Gegenüber schwer zu denken. Aber weder „Natur“ (Biologie) noch „Kultur“ (Selbstentwurf) sind von sich aus „heil“. Daher ist es entscheidend, den göttlichen Horizont zu kennen, die Weisungen zu kennen, die von ihm kommen. Erst dann kann man „sittlich handeln“, das heißt, „der Ordnung des Seins in Freiheit entsprechen“ (Thomas von Aquin).
Spannungsfeld Natur und Kultur
Der Gedanke der Selbstgestaltung des Menschen ist an sich weder sachlich falsch noch moralisch böse. Er gründet in der merkwürdigen – auszeichnenden wie gefährlichen – Tatsache, dass der Mensch unter den anderen Lebewesen tatsächlich eine Sonderstellung einnimmt, auch im Blick auf sein Geschlecht. Positiv: Er hat zwar keine Reiz-Reaktions-Sicherheit wie ein Tier, dafür aber Freiheit vom Instinkt, damit Freiheit zur Welt und zu sich – und: volles Risiko der Fremd- und Selbstgefährdung. Freiheit bildet zugleich die schöpferische Flanke: zur Gestaltung von Welt und Mensch. Der Menschen ist eine spannungsreiche Wirklichkeit, ausgespannt zwischen gegebener „Natur“ und dem Gegenpol der Veränderung: einem Werden, einem Futur, der „Kultur“. „Werde, der du bist“, formuliert der orphische Spruch, aber was so einfach klingt, ist das Abenteuer eines ganzen Lebens. Abenteuer, weil es weder eine „gußeiserne“ Natur noch eine beliebige „Kultur“ gibt, sondern beide in lebendiger Beziehung stehen: zwischen Grenze der Gestalt (dem „Glück der Gestalt“) und Kultur („dem Glück des Neuwerdens“).
Ein Tier hat sein Geschlecht und muß es nicht gestalten; daher ist seine naturhaft gesicherte Sexualität frei von Scham und funktional eindeutig auf Nachkommenschaft gerichtet. Ein Mensch ist und hat seine Geschlechtlichkeit und muß sie gestalten: Sie ist nicht einfach naturhaft gesichert, vielmehr kulturell bestimmt und schambesetzt wegen des möglichen Mißlingens; außerdem ist sie nicht notwendig an Nachkommenschaft gebunden. In der Geschlechtlichkeit tut sich ein Freiraum für Glücken und Misslingen auf, auf dem Boden der unausweichlichen Spannung von Trieb (naturhafter Notwendigkeit) und Selbst (der Freiheit). Fleischwerdung im eigenen Körper, seine Anverwandlung in den eigenen Leib, „Gastfreundschaft“ (hospitalité, Levinas) gegenüber dem anderen Geschlecht sind die Stichworte. Es steht nicht um Rebellion, Neutralisierung, Nivellierung und „Verachtung“ der Vorgabe.
Daher ist das zweifache Geschlecht einer kulturellen Bearbeitung nicht nur zugänglich, sondern sogar darauf angewiesen. Nur: Geschlechtlichkeit ist zu kultivieren, aber als Vorgabe der Natur (was könnte sonst gestaltet werden?). Kultivieren meint: weder sich ihr zu unterwerfen noch sie auszuschalten. Beides lässt sich an den zwei unterschiedlichen Zielen der Geschlechtlichkeit zeigen: der erotischen Erfüllung im anderen und der generativen Erfüllung im Kind, wozu allemal zwei verschiedene Geschlechter vorauszusetzen sind. Zur erotischen Rechtfertigung des Menschen gehört das Kind (vgl. Fellmann, 2005). Und auch das Kind selbst ist wiederum kein Neutrum, sondern tritt als „Erfüllung“ des Liebesaktes selbst in das zweiheitliche Dasein.
So wird Natur = nascitura: offen zur Freiheit
Anstelle einer verzerrten Natur also: Natur ist Vorgabe und meint zugleich nascitura: ein Werden, eine Entfaltung der Anlage. Dahinter bleibt die heutige Mechanisierung der Natur weit zurück, dahinter bleibt auch die Konstruktion weit zurück.
„Mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig. In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle Zwecke, für die er sich am Leben erhält, (…) nichtig.“4
„Was die Neuzeit Natur nennt, ist im letzten Bestand eine halbe Wirklichkeit. Was sie Kultur nennt, ist bei aller Größe etwas Dämonisch-Zerrissenes, worin der Sinn immer mit dem Unsinn gepaart ist; das Schaffen mit der Zerstörung; die Fruchtbarkeit mit dem Sterben; das Edle mit dem Gemeinen. Und eine ganze Technik des Vorbeisehens, des Verschleierns und Abblendens hat entwickelt werden müssen, damit der Mensch die Lüge und die Furchtbarkeit dieses Zustandes ertrage.“5
Also heraus aus der Lüge.
Was ist Person? Ein Doppeltes
Person meint ein Doppeltes – in sich stehen und sich übersteigen, auf hin. „‚Person’ bedeutet, daß ich in meinem Selbstsein letztlich von keiner anderen Instanz besessen werden kann, sondern mir gehöre (…), Selbstzweck bin.“ (Guardini, 1939, 94) In sich stehen betont, daß ich mir ursprünglich und unableitbar selbst gehöre.
Doch ist Personsein nicht stumpfer Selbstbesitz. Augustinus sprach von einer Selbstgehörigkeit, einer anima in se curvata, die in sich selbst abstürzt.6 Vielmehr: Ich erwache in Begegnung mit einem anderem Ich, das sich auch selbst gehört und doch auf mich zugeht.
Erst in der Begegnung kommt es zu einer Bewährung des Eigenen, zur Aktualisierung des Ich, insbesondere in der Liebe. „Wer liebt, geht immerfort in die Freiheit hinüber; in die Freiheit von seiner eigentlichen Fessel, nämlich von sich selbst.“ (Guardini, 1939, 99) Daher kommt in die Selbstgehörigkeit durch den anderen eine entscheidende, ja schicksalhafte Dynamik. Sie ergibt sich aus der konstitutiven Spannung vom Ich zum Du: im Übersteigen, Sich-Mitteilen, auch in der Leiblichkeit, immer auch in der Spannung zu Gott. In solcher Dynamik entfällt eine Selbstbewahrung, die das neutrale Subjekt-Objekt-Verhältnis schirmt, wie ein Stein auf einen Stein trifft, und es beginnt ein Sich-Aussetzen: Person wird auf Person resonant und von ihr her ins Antwortlose preisgegeben oder auch ins Unerschöpfliche geöffnet.
Hingabe an die Andersheit des anderen
Im Christlichen verliert die Selbstgehörigkeit nicht ihre erstrangige Stelle, vielmehr läßt sie sich überzeugender begründen: „Hinübergehen“ über sich, sich öffnen kann die Person nämlich, weil sie sich immer schon gehört. Diese These muß vertieft werden, ist damit doch ein entscheidendes Kennzeichen der Moderne, die Autonomie, herausgefordert.
Personsein ist, christlich gesehen, die Zuspitzung eines unterschätzten oder sogar geleugneten „Existentials“: Beziehung ist die Aktivierung der Selbstgehörigkeit. „Der Mensch (ist) kein Wesen, das geschlossen in sich stünde. Er existiert vielmehr so, daß er über sich hinausgeht. Dieser Hinausgang geschieht schon immerfort innerhalb der Welt, in den verschiedenen Beziehungen zu Dingen, Ideen und Menschen (…); eigentlicherweise geschieht er über die Welt hinaus auf Gott zu.“ (Guardini 1939, 124)
Weshalb aber werde damit Ich selbst nicht außer Kraft gesetzt? Weil auch das Gegenüber Person, also ebenso unter Selbstand und Hinausgehen über sich selbst zu denken ist. Dazu sind aber wesentlich nicht nur zwei Menschen, sondern zwei Geschlechter vonnöten – als gegenseitige unergründliche Fremdheit, unergründliche Entzogenheit, bis ins Leibliche , bis ins Seelische, bis ins Geistige hinein; gerade in der Geschlechtsliebe, die den Leib des anderen erfährt, geschieht das Transzendieren in die Andersheit des anderen Geschlechtes und nicht nur ein narzißtisches Sich-Selbst-Begegnen.
Erst im anderen Geschlecht ist wirkliche Andersheit, von mir nicht zu vereinnahmende, nicht mich selbst zurückspiegelnde wahrzunehmen: Frau als bleibendes Geheimnis für den Mann. Wer diesem zutiefst Anderen ausweicht, weicht dem Leben aus.
Könnte über alle Morallehren hinweg, die doch nicht greifen, die alte Genesis-Vision heute erneuert werden, daß in der Zumutung der beiden Geschlechter sich doch am Grund der Begegnung die göttliche Dynamik abspielt, das unerhörte Leben Gottes selber das Spiel der Geschlechter hervorruft, es als Bild für das alle Bilder Sprengende geschaffen hat? Und daß von daher das Sich-Einlassen auf das fremde Geschlecht die göttliche Spannung ausdrückt?
Nochmal das Doppelte in der Person: Selbstbesitz (Souveränität) und Hingabe schließen sich gerade nicht aus – weder in der göttlich-trinitarischen Beziehung noch in der menschlichen Liebe. Liebe ist Selbstverlust und Selbstgewinn in einem. Nicht ist der Mann Selbstand und die Frau Hingabe, wie eine Verzeichnung lautet. Im Menschlichen geben nicht zwei Hälften ein Ganzes, sondern zwei Ganze ein Ganzes. Jedes Geschlecht ist erstrangig von der Person getragen und von ihr ein Leben lang zu durchformen. Heutige Kultur neigt dazu, Selbstand zur Autonomie und Hingabe zur Preisgabe abzufälschen. Preisgabe wird sie, wo sie den anderen, die andere nur als Sexobjekt oder in einer „Rolle“, nicht aber als Person, leibhaftig, sieht. Nicht zufällig gehören im Deutschen die Wörter Leib, Leben, Liebe zum selben Wortstamm. Wer den Leib zu einer „Zuschreibung“, zum Selbstgenuß im anderen macht, unterbestimmt das Leben. Leben lässt den Menschen in sich gründen, treibt ihn aber zugleich immer über sich hinaus: dem anderen Geschlecht zu. Und die äußerste Provokation des biblischen Denkens geht sogar durch den Tod hindurch – in einen neuen Leib. Auferstehung des Leibes, meines Leibes, also als Mann oder Frau, ist die Botschaft der Freude.
Letzter Schritt: Caro cardo
Deswegen ist die Fleischwerdung Gottes die große Herausforderung – kann Gott überhaupt Leib und Geschlecht annehmen? Ja, er ist Mann geworden, geboren von einer Frau. Wäre das Ohr nicht so abgestumpft, wäre das eine Explosion. Der Sohn Gottes und Marias ist entgegen allen Idealisierungen leibloser Göttlichkeit die eigentliche Unterscheidung von anderen religiösen Traditionen, sogar vom Judentum. caro cardo – Fleisch ist der Angelpunkt. Damit kommt der Leib in ein neues, unerschöpfliches Licht (vgl. Henry, 2000) – bis zur leibhaften Auferstehung zu todlosem Leben. Auch Kirche ist als Leib gesehen, das Verhältnis Christi zur Kirche ist bräutlich-erotisch (Eph 5,25), und die Ehe wird zum Sakrament: zum Zeichen der Gegenwart Gottes in den Liebenden. Auch zu dieser Gegenwart im Ehesakrament muß das Geschlecht erzogen werden, aber nicht um seiner Zähmung oder sogar Brechung willen, sondern wegen seiner wirklichen und wirksamen Ekstase. Freilich: Das Glücken einer Ehe kann durch das Sakrament nicht garantiert werden, aber christlich angeben lassen sich die Elemente, unter denen die schwierige Balance gelingen kann: Du allein – Du für immer – von Dir ein Kind. Das ist kein naiver Naturbegriff mehr, sondern die schöpferische Überführung von Natur in kultivierte, angenommene, endliche Natur. Nie wird nur primitive Natur durch Christentum (und Judentum) verherrlicht: Sie ist vielmehr selbst in den Raum des Göttlichen zu heben, muß dort geheilt werden. Auch der Eros wird in den Bereich des Heiligen gestellt: im Sakrament. Auch Zeugung und Geburt werden in den Bereich des Heiligen gestellt: Sie sind paradiesisch verliehene Gaben (Gen 1,28). „Geschlecht ist Feier des Lebens.“ (Thomas Mann)
Die wirkliche menschliche Natur des Gottmenschen löst die leidvolle menschliche Natur. Ihm zu folgen meint, die versehrte menschliche Natur in seinen Radius stellen, sich vollenden lassen, wo wir nur wechselnde Neigungen haben. Wo es angeblich keine allgemeine Natur des Menschen gibt, sondern nur „Freiheit“, gibt es nur Entscheidungen von irgendjemand zu irgendetwas, aber keine grundsätzliche Befreiung unserer Natur. Die Fleischwerdung Jesu wäre dann überflüssig, auch sein Tod, auch seine Auferstehung. Immer vollziehen sie sich im Fleisch, warum? Simchat thora, Dein Gesetz ist meine Freude: das Gesetz meines Leibes, meines Lebens, meiner Lust, das der Schöpfer auf den Leib geschrieben hat. Nicht der freie Wille erlöst uns, sondern Seine Vorgabe.
Leib – Liebe – Lust: Alle drei Bausteine gründen in der Natur, werden geformt in Kultur, werden schön und menschlich in der personalen Beziehung: Ich meine Dich allein – für immer – freue mich auf unser Kind. Das ist die Antwort, die wir einander geben und die wir von dem Geliebten hören wollen. Aber diese Antwort wird überdreht, wenn sie nicht auf unsere Natur gegründet, nicht hoffnungsvoll geben wird in der Hoffnung auf göttliche Hilfe. Leiblos – lieblos – lustlos sind heute schon Erfahrungen einer Cyberwelt: Sie bietet unentwegt Lust an, virtuell ohne Leib, real ohne einen wirklichen Anderen oder mit wechselnden Anderen, oder mit Vinyl-Sexpuppen, virtuell ohne Kinder: nur in Abwehr und Verhütung. Liebe, die keine Dauer will, Lust, die mir selbst gilt, Leib, den ich selber schnitze…: lauter Bruchstücke eines Ganzen, das den Sinn zerbricht.
Halten wir uns an das Ganze. Nochmals Chesterton: „Es ist leicht verrückt zu sein; leicht, ein Häretiker zu sein. Es ist immer leicht, die Welt überhandnehmen zu lassen: schwierig ist, selbst die Vorhand zu behalten. Es ist immer leicht, Modernist zu sein, wie es leicht ist, ein Snob zu sein. In irgendeine dieser offenen Fallen des Irrtums und der Übertretung zu geraten, die eine Modeströmung und Sekte nach der andern dem Christentum auf seinen geschichtlichen Weg gelegt hatten – das wäre in der Tat leicht gewesen. (…) Sie alle vermieden zu haben, ist ein wirbelndes Abenteuer; und in meiner Vision fliegt der himmlische Wagen donnernd durch die Jahrhunderte – die langweiligen Häresien straucheln und fallen der Länge nach zu Boden, die wilde Wahrheit aber hält sich schwankend aufrecht.“
- Über die Würde des Menschen, übers. v. H. W. Rüssel, Amsterdam 1940, 49f.↩︎
- René Descartes, Discours de la méthode, 6.↩︎
- Vgl. den doppelsinnigen Titel: Sigrid Braunfels u. a., Der „vermessene Mensch“. Anthropometrie in Kunst und Wissenschaft, München 1973.↩︎
- Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1971, 51.↩︎
- Romano Guardini, Der Mensch. Umriß einer christlichen Anthropologie, (unveröfftl.), Archiv Kath. Akademie München, Typoskript S. 45.↩︎
- Romano Guardini hat in diesem Kontext auf die Gefahr der Selbsterziehung aufmerksam gemacht; vgl. Guardini: Der religiöse Gehorsam (1916), in: ders., Auf dem Wege. Versuche, Mainz 1923, 15f, Anm. 2.: „Es widerspricht katholischem Geiste, viel von Persönlichkeit, Selbsterziehung usw. zu reden. Dadurch wird der Mensch beständig auf sich selbst zurückgeworfen; er gravitiert in sein eigenes Ich und verliert eben dadurch den befreienden Blick auf Gott. Die beste Erziehung ist, sich zu vergessen und auf Gott zu schauen, denn ‘wird’ und ‘wächst’ der Mensch in der göttlichen Atmosphäre. […] Nichts zerstört die Seele so tief wie die Ethistik. Was sie beherrschen und erfüllen soll, sind die göttlichen Tatsachen, Gottes Wirklichkeit, die Wahrheit. Darin geschieht, was aller Erziehung Anfang und Ende ist, das Herausheben aus dem eigenen Selbst.“↩︎
Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Religionsphilosophin, ehem. TU Dresden, jetzt Professorin und Vorsitzende des Europäischen Instituts für Philosophie und Religion, Heiligenkreuz, Synodalin im Forum III (Frauen). Vortrag vom 7. November 2021 im Rahmen des 3. Online-Studientages der Initiative NeuerAnfang.online. Der Vortrag kann auch als Video auf dem Youtube-Kanal von NeuerAnfang angesehen werden unter diesem Link: und steht als PDF-Download hier zur Verfügung:
Weiterführende Quellen:
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Gerl-Falkovitz, H.-B., 31995: Die bekannte Unbekannte. Frauen-Bilder aus der Kultur- und Geistesgeschichte, Mainz.
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Gerl-Falkovitz, H.-B., 2001b: Zwischen Somatismus und Leibferne. Zur Kritik der Gender-Forschung, in: IKZ Communio 3, 225 – 237.
Guardini, R., 1939: Welt und Person. Versuche zur christlichen Lehre vom Menschen, Würzburg.
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