Seit etwa 1760 pflegte der große französische Aufklärer Voltaire (1694-1778) jeden seiner Briefe an vertraute Freunde mit dem Appell „écrasez l’infâme“ zu unterzeichnen. Das heißt soviel wie: „Zermalmt das Infame!“, „Zerbröselt das Niederträchtige“. Dieser Ausspruch hat Geschichte geschrieben; er wurde zum Kampfruf aller antikirchlichen und antiklerikalen Bestrebungen seither. Mehr für die Nach-Denker Voltaires als für ihn selbst bestand die Infamie allein schon in der Tatsache einer mit aufgeklärter Vernunft nicht zu vereinbarenden Offenbarungsreligion und dem Ärgernis ihrer Präsenz in Gestalt der römisch-katholischen Kirche. So lasen und lesen immer mehr Menschen das „écrasez l’infâme“ im Sinne von „Vernichtet die Kirche!“ Als in Paris – aus noch immer ungeklärten Ursachen – die Kathedrale Notre Dame brannte, freuten sich möglicherweise nicht nur die Islamisten.

Die Rastlosigkeit der Ungläubigen

Dass Menschen, die mit der Kirche und dem Glauben nichts am Hut haben – früher nannte man sie „Heiden“ -, dieser Institution keine gedeihliche Entwicklung wünschen, ist verständlich. Weniger verständlich ist es, dass Menschen, die sowieso nicht als Christen leben möchten, die schiere Existenz einer vom Evangelium her anfordernden Kirche als Vorwurf und persönliche Beleidigung begreifen. Schließlich fordert niemand von ihnen – den Ungläubigen – Glauben, Gehorsam, Demut, oder gar, dass sie sich um ihres ewigen Heiles willen „von Unzucht und Schamlosigkeit jeder Art“ (Eph 5,3) fernhalten, – am Ende gar noch, dass sie töten sollen „die Unzucht, die Schamlosigkeit, die Leidenschaft, die bösen Begierden und die Habsucht, die ein Götzendienst ist.“ (Kol 3,5)

Alles, was von ihnen verlangt wird, ist: dass sie nach ihrem Gewissen vernünftig und – gemäß der Natur der Dinge – gut handeln. Wer glaubt, dass es dazu noch eine grundstürzende Info von ganz oben gibt, wird vielleicht Christ. Dann freilich ist das „neue Leben“ (Röm 6,4) im Anschluss an Jesus und die Weisungen der Heiligen Schrift ein „must“ und kein „nice to have“. Johannes Hartl hat es einmal auf die schöne Formel gebracht: „Es ist nicht mein Job, in der Welt rumzulaufen und zu sagen, wie sündhaft alle sind. Aber wenn jemand fragt, wie soll ich vom Evangelium her leben, dann würde ich ihm natürlich eine Antwort geben …“

Verfolgung in Seinem Namen

Man muss kein Prophet sein, um zu sagen: Das Kesseltreiben gegen die Kirche als Institution und gegen jeden Einzelnen, der auch in Zukunft nicht bereit ist, das Anstößige des Evangeliums zu verschweigen, wird zunehmen. Ich erinnere nur an die finnische Parlamentsabgeordnete Dr. Päivi Räsänen, die sich am 24. Januar 2022 vor Gericht verantworten musste, weil sie genau das getan hatte: Sie hatte mit Bibelzitaten das offizielle Sponsoring der LGBT-Veranstaltung „Pride“ durch ihre Kirchenleitung hinterfragt. Soweit so schlecht. Jesus hat den Seinen keine Jubeleskorten verheißen, sondern in Joh 15,20 das denkwürdige Wort hinterlassen: „Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen; wenn sie an meinem Wort festgehalten haben, werden sie auch an eurem Wort festhalten.“

Allianzen der Selbstdemontage

Nun haben wir es in der deutschen Kirche aber mit einer fundamentalen Novität, mit etwas nie Dagewesenem zu tun. Seit geraumer Zeit ertönt das „écrasez l’infâme“ nämlich nicht mehr nur von außen. Es kommt von innen, aus dem Herzen der Kirche heraus – oder zumindest von denen, die sich für das „Herz der Kirche“ halten. Man hat den Eindruck, als gäbe es nie gekannte Allianzen – eingeschworene Kirchenfeinde mit festangestellten Kirchenmenschen, humanistische Antiklerikale mit moralisierenden Theologen, LGBTQI-Aktivistinnen* mit Bischöfen im römischen Kragen, Gottesleugner mit Ordensfrauen, BILD mit der Wahrheit – und wenn man nach dem Tertium Comparationis von Feuer und Wasser fragt, kommt man auf das „écrasez l’infâme“, den Hass auf die real existierende Kirche.

Mit der Berufung auf Missbrauch können sich von der Kirche bezahlte Mitarbeiter und für die Kirche lehrende Theologen nicht mehr einkriegen beim Schlechtreden der Kirche. Kein linker Schreiberling, kein Voltaire und kein in der Wolle gefärbter Atheist muss mehr Schweiß und Tinte aufwenden, um die Kirche kaputtzuschreiben. Das erledigen die eigenen Leute. Wie sagte der hellsichtige Harald Schmidt schon 2019? „Die Kirche zerlegt sich gerade sehr solide selbst.“

Von Reform zum Missbrauch des Missbrauchs

Nun ist der Missbrauch – das sage ich als „Opfer“ (ich liebe das Wort nicht, setze es hier aber bewusst) – eine Katastrophe, und die komplizenhafte Hinnahme von Untaten noch eine, und die Vertuschung eine dritte, und der Missbrauch mit dem Missbrauch ein vierte. Dennoch gehöre ich keiner „Täterorganisation“ an. Ich lasse es nicht zu, dass konkrete Verbrechen allen in der Kirche angelastet werden – ironischerweise auch mir. Wegen Missbrauch brauchen wir Missbrauchsverfolgung und keine „Reform der Kirche“. Die brauchen wir auch – und sehr umfassend und radikal, viel radikaler als sich das einige so vorstellen. Aber aus ganz anderen Gründen.

Kirchenfürsten, die ihre Hausaufgaben nicht machen – darüber sollten wir vorweg mal reden. Was mich betrifft so bin ich Teil des Leibes Christi; ich gehöre zur Braut, für die der Bräutigam Christus gestorben ist; ich glaube an die eine, heilige, katholische ( = allgemeine) und apostolische Kirche, deren Reichweite größer ist als ihre äußeren Grenzen. Eine Kirche, die Sündern wie mir eine Heimat bietet – Sündern die ihr Antlitz entstellten und ihr bis zum Jüngsten Gericht fortlaufend ins Gesicht spucken. Eine Kirche aber auch, die eine fantastische Heils-Geschichte ist und mehr Menschenfreundlichkeit und Humanität in die Welt gebracht hat als alle anderen Organisationen zusammen. Dass die Kirche über ihre verfasste Gestalt hinausgeht, merke ich in gerade besonders, wo bibelorientierte evangelische Christen Seite an Seite mit denen kämpfen, die der katholischen Selbstauslöschung durch Verrat und Anpassung an die Welt Widerstand entgegensetzen.

„Religion“ ohne Gott

Ich habe mich nie so geschämt für die Katholische Kirche in Deutschland wie in diesen Tagen, in denen mit bischöflicher Beteiligung ein von langer Hand inszenierter Putsch gegen alles stattfindet, was Kirche in der Kontinuität mit Schrift und Überlieferung ausmacht. Es ist zu befürchten, dass hier eine neue, humanistische „Religion“ in Szene gesetzt werden soll, für die man eines oder einen am wenigsten braucht: Gott. Dafür muss die Schrift neu interpretiert, die Heiligen vom Sockel gestoßen, die Meister blamiert, die Ikonen übermalt, die Institution als Tyrannis, ihre Autorität als Gewaltherrschaft, ihre Geschichte als Terror, ihre Moral als Missbrauch und ihre Lehren als Lüge erwiesen werden. Und dafür, dass eine „neue Kirche“ entstehen kann, müssen erst mal die Heroes zur Strecke gebracht werden. Das passiert gerade. Ich bekenne: Dieser „Kirche“ werde ich mich niemals anschließen. Ich halte sie schon jetzt für schismatisch.

von Bernhard Meuser

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