An „Fiducia supplicans “ scheinen sich die Geister zu scheiden. Zwischen Hoffen und Bangen schweben so manche Betroffenen, Entsetzen und Unverständnis bei den Traditionalisten, Frohlocken und Euphorie bei Modernisten. Stephan Raabe versucht eine „Unterscheidung der Geister“ vorzunehmen, relativiert manches Extreme und bringt Klarheit in die Lesart des Textes.
Zur Weiterentwicklung des kirchlichen Segensverständnisses in der Erklärung „Flehendes Vertrauen“
Die Erklärung des Glaubens-Dikasteriums über Segnungen vom 18. Dezember 2023, die Papst Franziskus approbiert hat, führte weltweit zu sehr unterschiedlichen Reaktionen in der Kirche: von Lob und Dank über viele verhaltene Kommentare bis hin zur Ablehnung. Extrem sticht dabei die Kritik von Gerhard Ludwig Kardinal Müller hervor, dem Präfekten der Glaubenskongregation von 2012 bis 2017 (der Vorläuferin des Glaubens-Dikasteriums): er bezeichnet die Erklärung als Anleitung zu „sakrilegischen“ und „blasphemischen“ Taten und ruft Bischöfe und Priester international dazu auf, diese zu verhindern.[1] Das geht theologisch jedoch an der Sache im Kern vorbei und ist respektlos gegenüber Papst und Lehramt mit ihrem pastoralen Anliegen.
Worum geht es?
Die Erklärung mit dem Namen „Flehendes Vertrauen“ (Fiducia supplicans) greift auf rund zehn Seiten erneut das Thema der Segnung von Paaren auf, die nicht in einer kirchlichen Ehe zusammenleben, also von unverheirateten, weltlich wiederverheirateten oder gleichgeschlechtlichen Paaren.[2] Sie will „neue Klarstellungen“ vornehmen, die lehrmäßige und pastorale Aspekte „kohärent verbinden“. Ziel ist es, „einen spezifischen und innovativen Beitrag zur pastoralen Bedeutung von Segnungen zu bieten“, eine „wirkliche Weiterentwicklung“ im Verständnis des kirchlichen Segens. Die vom Präfekten des Dikasteriums Víctor Manuel Kardinal Fernández unterzeichnete Erklärung stützt sich dabei ausdrücklich „auf die pastorale Vision von Papst Franziskus“.
Hintergrund für die erneute Klarstellung sind die unterschiedlichen Reaktionen auf das Schreiben der Glaubenskongregation vom 22. Februar 2021 unter dem damaligen Präfekten Luís Ferdinand Kardinal Ladaria SJ, das auf die Frage, ob „die Kirche die Vollmacht (habe), Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts zu segnen, mit einem klaren „Nein“ geantwortet hatte, was von Papst Franziskus ebenfalls approbiert worden war. In der erklärenden Note dazu wird begründet, warum die Kirche nicht „über die Vollmacht (verfügt), Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts“ im Sinne von Sakramentalien zu segnen. Allerdings schloss die Kongregation nicht aus, „dass Segnungen einzelnen Personen mit homosexueller Neigung gespendet werden“.[3]
Worin liegt die Weiterentwicklung des kirchlichen Segens?
Indem jetzt in einem klar umrissenen pastoralen Horizont auch „die Möglichkeit der Segnung von Paaren in irregulären Situationen und von gleichgeschlechtlichen Paaren“ eröffnet wird. Deren Form dürfe allerdings „von den kirchlichen Autoritäten nicht rituell festgelegt werden“; der Segen dürfe zudem keinesfalls als Legitimation der Paarbeziehung missverstanden werden (31). Die Rede ist von einem „einfachen Segen“, einem nicht liturgischen, nicht sakramentalen, nicht formellen, nicht innerhalb von offiziellen Feiern der Kirche gespendeten Segen aus individueller pastoraler Fürsorge (10, 12, 34, 38). In der Konsequenz dürfte dieser einfache, diskrete pastorale Segen auch für andere „irreguläre Situationen“ Anwendung finden, was ein weites Feld des Lebens umfasst. Oder wird ein guter Seelsorger diesen Segen verwehren, wenn etwa jemand ernsthaft darum bittet, der aus der Kirche ausgetreten ist, eine demokratisch bedenkliche Partei unterstützt, die Ehe bricht, der Prostitution nachgeht oder diese nutzt, als Betrüger bekannt ist, im Gefängnis büßt etc.?
Dementsprechend stellt die Erklärung des Glaubens-Dikasteriums gleich zu Anfang in der Präsentation unmissverständlich klar, dass es in diesem Kontext keine Veränderung der „überlieferten Lehre der Kirche über die Ehe“ (und damit über die Sexualität) und auch „keine Art von liturgischem Ritus oder diesem ähnliche Segnungen“ geben wird, „die Verwirrung stiften könnten.“ Gleich viermal wird im folgenden Text darauf hingewiesen, dass alles, was diesbezüglich der Lehre der Kirche widerspreche und für Verwirrung oder Skandal sorgen könne, unzulässig sei (4, 5, 30, 39). Gewarnt wird insbesondere vor jedweder Ritualisierung, die die einfache Segensgeste zu einem „liturgischen oder halbliturgischen Akt“ machen möchte, „der einem Sakrament ähnelt“, und damit die Seelsorger der „Freiheit und Spontanität in ihrer seelsorglichen Begleitung der Menschen berauben“ würde (36).[4]
Sodann erweitert die Erklärung „das klassische Verständnis von Segnungen“ in der oben bereits genannten Weise auf Paare außerhalb der Ehe, wobei abermals an gleich sieben Stellen betont wird, dass damit keine Anerkennung oder sittliche Legitimierung der Paarbeziehungen, keine Änderung der Lehre der Kirche oder eine neue Norm einhergehe (Präambel, Abs. 3; 11, 31, 34, 37, 38, 40). Es geht vielmehr um eine neue pastorale Haltung, die unter der Prämisse der Evangelisierung (3, 25) „unter bestimmten Umständen Teil der pastoralen Klugheit sein“ könne (37): nämlich denjenigen, die um Gottes Segen bitten, das Leben für Gott zu öffnen (40), die Nähe Gottes und das Vertrauen in Gott zu stärken, den Samen des Heiligen Geistes zu nähren und nicht zu behindern (33), für sie um Frieden, Gesundheit, Geduld, gegenseitige Hilfe, aber auch um Verständnis und Kraft zu bitten, Gottes Willen erfüllen zu können (38). Wer in diesem Zusammenhang nur in vorgegebenen Normenkategorien zu denken und handeln vermag, wird diesen pastoralen Ansatz mit Blick auf das individuelle Leben mit seinen Brüchen und auf Gottes Liebe vor aller Leistung und trotz aller Schuld kaum richtig verstehen.
Gottes helfende Gnaden
Damit öffnet das Lehramt mit ausdrücklichem Bezug „auf die maßgebliche Lehre des Heiligen Vaters Franziskus“ (45) einen erweiterten informellen, diskreten pastoralen Freiraum. In diesem können einzelnen Menschen, Paaren, Gruppen aus pastoraler Fürsorge „bedingungslos“ (12, 16, 27, 29), selbst in „Situationen, die aus objektiver Sicht moralisch inakzeptabel sind“ (26), die „helfenden Gnaden“ (31) des Segens Gottes zugesprochen werden, sofern sie darum bitten. Der Segen bezieht sich dabei auf das und nur auf das, „was in ihrem Leben und ihren Beziehungen wahr, gut und menschlich gültig ist“. Er bedeutet keine Anerkennung des moralisch Inakzeptablen. Die Erklärung knüpft hier an einen Absatz aus der Antwort der Kongregation für die Glaubenslehre vom 22. Februar 2022 an, in dem es in Anlehnung an Papst Franziskus heißt: „Gleichzeitig erinnert die Kirche daran, dass Gott selbst nicht aufhört, jedes seiner Kinder zu segnen, die in dieser Welt pilgern, denn für ihn ‚sind wir […] wichtiger als alle Sünden, die wir begehen können‘. Aber er segnet nicht die Sünde und er kann sie nicht segnen: Er segnet den sündigen Menschen, damit er erkennt, dass er Teil seines Liebesplans ist, und sich von ihm verändern lässt. Denn er ‚nimmt uns so, wie wir sind, aber lässt uns nie so, wie wir sind‘.“
Nicht die sittliche Legitimität der Lebenssituation, die Übereinstimmung und Treue zum Evangelium und zur Lehre der Kirche, die bei liturgischen Segensfeiern grundlegend sind, bilden bei diesem einfachen, informellen Segen also den Maßstab, sondern der sündige Mensch mit seiner Bitte um Gottes Hilfe für ein besseres Leben (40). „Diese Bitte sollte in jeder Hinsicht wertgeschätzt, begleitet und mit Dankbarkeit aufgenommen werden“, heißt es (21). Darum geht es Papst Franziskus in seiner evangelisierenden Pastoral: gläubige Menschen in der Kirche zunächst einmal ohne moralische Bewertung willkommen zu heißen und mit dem Segen Gottes auf ihren nicht immer geraden Wegen zu begleiten.
Trost, Fürsorge und Ermutigung durch Segen
Die fruchtbare Nutzung des erweiterten Raumes der „Spontanität“ und „Freiheit“ (23, 36) der seelsorglichen Begleitung von Paaren im Sinne von „Integration, Solidarität und Stiftung von Frieden“, von Trost, Fürsorge und Ermutigung durch Segen (19) hängt allerdings von den jeweils individuellen und auch sozial-kulturellen Umständen ab. Mehrmals wird davor gewarnt, durch unkluges pastorales Handeln Verwirrung und Skandal unter den Gläubigen zu verursachen. Da sind die Verhältnisse etwa in weiten Teilen Afrikas andere als in denen Westeuropas, weshalb pastorale Klugheit hier wie dort wohl zu regional unterschiedlichem Vorgehen führen dürfte.
Auf jeden Fall ist eine Haltung der seelsorglichen Annahme und Nähe, aber auch Unterscheidung nötig, pastorale Sensibilität und zugleich theologische Klarheit sind erforderlich, um das pastorale Anliegen nicht zu verfälschen. Kirchenpolitisch droht Gefahr durch diejenigen, die das dem Epikie-Prinzip folgende pastorale Handeln als Missbrauch kirchlichen Segens zu delegitimieren trachten oder aber durch Ritualisierung und Reklamation einer neuen Lehre für ihre Veränderungsagenda zu nutzen suchen. Deshalb scheiden sich an der vatikanischen Erklärung über Segnungen aktuell die Geister: den „Progressiven“, wie den Vertretern des „Synodalen Wegs“ in Deutschland, geht sie längst nicht weit genug: sie wollen eine andere Lehre und den formellen kirchlichen Segen; den „Konservativen“ geht sie dagegen bereits zu weit, gilt manchem sogar als „Sakrileg“ – ein enormer Spannungsbogen. Das Ziel der Erklärung, für mehr Klarheit in diesem umstrittenen Bereich zu sorgen, wird jedoch nur erreicht, indem Bischöfe, Priester und Gläubigen zu dem pastoralen Kernanliegen vordringen, Segen als „pastorale Ressource“ auf dem Weg der Evangelisierung zu begreifen und nicht als „Risiko oder Problem“ (23). Ein frommer Wunsch, nicht nur zur Weihnachtszeit.
[1] „Die echte Segnung der Mutter Kirche ist die Wahrheit, die uns frei macht“. Hinweise zur Erklärung „Fiducia Supplicans“, kath.net (21.12.2023).
[2] Erklärung Fiducia supplicans über die pastorale Sinngebung von Segnungen (18. Dezember 2023) (vatican.va)
[3] Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubenslehre über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts (22. Februar 2021) (vatican.va)
[4] In diese Richtung geht der „Synodale Weg“ in Deutschland, der die offizielle Einführung von Segensfeiern für Paare anstrebt; die Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung hat dazu bereits im April 2023 die 50seitige pastoral-liturgische Arbeitshilfe: „Die Feier des Segens für Paare“ mit verschiedenen Formen von Segensfeiern herausgebracht: endf_f_230517_die_feier_des_segens_fuer_paare_web.pdf (akf-bonn.de)
Stephan Raabe,
M.A. studierte Geschichte, Katholische Theologie, Philosophie und Politikwissenschaften in Bonn und München. Nach der Wiedervereinigung war er zehn Jahre in der Jugendseelsorge im Erzbistum Berlin tätig. Als Bundesgeschäftsführer des Familienbundes der Katholiken gehörte er 2002/03 dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken an. Dann ging er als Projektleiter und Berater für sieben Jahre nach Polen und Belarus und arbeitet seitdem in leitender Funktion in der Politischen Bildung in Brandenburg.
Bildrechte: Imago Images (digital bearbeitet)