Vielen Debatten in der gegenwärtigen Kirche liegt das Verständnis oder eben das Missverständnis eines Geheimnisses zugrunde, das uns immer wieder an den Rand der Sprache bringt: Was bedeutet es, ein Geschöpf zu sein, eine gottebenbildliche Person, die Gott gehört und gerade deshalb frei ist, zu lieben? Martin Brüske führt in diese Wirklichkeit ein.
Aus dem Nichts…
Gott ist Gott und der Mensch ist Mensch – so klar und einfach sagt es der große Schweizer und Theologe Karl Barth, wenn er deutlich machen will, dass sich Gott und Mensch als Schöpfer und Geschöpf gegenüberstehen. Gott hat den Menschen in einem souveränen Ruf aus dem Nichts geschaffen, ihn gerufen ins Sein. Dieses Nichts ist nicht doch ein „Etwas“, ein Gegenprinzip zu Gottes Schöpfermacht, sondern das schlichte und einfache Nicht-Sein. Gott hat bei seiner schöpferischen Tat keinerlei Gegenüber. So ist Gott als Schöpfer keine Idee oder gar eine Projektion des Menschen – er ist vielmehr die alleinige Urwirklichkeit, aus deren Hand alle geschaffene Wirklichkeit in jedem Augenblick hervorgeht und von der sie in jedem Augenblick vollständig abhängt.
Der Mensch ist überflüssig – und das ist gut so…
Dabei genügt sich Gott selbst. Er ist von Ewigkeit zu Ewigkeit dreifaltige Fülle des Seins, liebende Gemeinschaft der Personen von Vater, Sohn und Geist. Er braucht die Schöpfung nicht, kein Zwang liegt auf ihm, keinerlei Notwendigkeit. Er schafft, weil er es will, nicht aber, weil irgendetwas ihn nötigt. So bezeugt es die Bibel.
Dann ist das Geschöpf, ist der Mensch also überflüssig? Ja, so ist es! Das ist im ersten Augenblick vielleicht überraschend, ja schockierend: Wir sind für Gott nutzlos. In Wahrheit leuchtet in diesem negativen Befund schon etwas vom tiefen, positiven Geheimnis der Schöpfung auf. Ja, wir sind für Gott nutzlos, wir sind keine Momente auf dem göttlichen Weg zu seiner Selbstverwirklichung, wir sind nicht bloß Funktionen in der Weise, wie Gott zu sich selbst findet. Gott schafft nicht, weil er es braucht, sondern weil er es will. Und er will es aus freier Güte. An der Wurzel des Schöpfungsakts steht die freie, vollkommen ungenötigte Liebe, die pure, zwanglose Freude am Sein.
Von Ewigkeit zu Ewigkeit: freie Güte
Wir dürfen uns dabei nicht vorstellen, dass Gott sich „irgendwann“ entschließt zu schaffen. Denn die Ewigkeit kennt ja nicht die Erstreckung der vergehenden Zeit. Gott ist von Ewigkeit zu Ewigkeit sich selbst bestimmende Freiheit. Und so ist er von Ewigkeit zu Ewigkeit frei entschlossen zur Schöpfung. Er ist ewige, freie Lust am Sein der Geschöpfe.
Diese göttliche Freude am Sein des anderen, des geschöpflichen Seins ist gleichzeitig ohne jedes Moment von Willkür. Der freie Entschluss zur Schöpfung ist kein Zufall. Er entspricht zutiefst einer Güte, die sich auf ihrer höchsten Stufe frei verströmen will. Das Gute will sich von sich aus mitteilen. Das Gute ist nicht in sich verschlossen – schon gar nicht das höchste, göttliche Gute. Der Schöpfungsakt ist so zutiefst sinnvoll, aber eben ohne allen Zwang. Die göttliche Güte ist zugleich Weisheit, weise Güte und gütige Weisheit.
Die Hochzeit von Freiheit, Sinn und Notwendigkeit
Freiheit und Sinn verbinden sich so doch auch wieder zu einer geheimnisvollen, anderen Art von „Notwendigkeit “ jenseits des Zwangs. „Geheimnisvoll „, weil hier die Freiheit in keiner Weise verletzt wird und wir doch den Eindruck haben: Alles muss so sein, wie es ist. Es kann nicht anders sein. Wir geraten hier an die Grenzen des Sprechens (wie könnte es auch anders sein, wenn wir von Gott sprechen?). Aber es gibt eine – in doppeltem Sinn – geschaffene Wirklichkeit, die uns helfen kann, uns dieser paradoxen Wirklichkeit anzunähern: Große Kunstwerke machen auf uns genau diesen Eindruck, dass nichts an ihnen anders sein kann als es ist und dass sie zugleich ganz und gar der schöpferischen Freiheit des Künstlers entspringen und Freiheit in ihnen gleichsam atmet. Überein kommen also göttliches und menschliches Künstlertum eben in der geheimnisvollen Hochzeit von Freiheit, Sinn und „Notwendigkeit“.
Freiheit, die wirkliche Freiheit schafft
Worin aber besteht der Unterschied zwischen dem Schöpfertum des göttlichen Künstlers und dem eines menschlichen, das doch dieses göttliche Schöpfertum ein wenig abbildet? Zum einen muss menschliches Künstlertum immer auf Gegebenes, auf irgendein Material zurückgreifen – Gott aber schafft wirklich, wie wir sahen, ohne irgendeinen Rückgriff, eben aus „Nichts“. Zum anderen aber atmet das göttliche Kunstwerk nicht nur die Freiheit des Künstlers, sondern das höchste Schöpfertum Gottes schafft sich das wirkliche Gegenüber der Freiheit: Die umgeschaffene Freiheit Gottes verwirklicht ihr höchstes Schöpfertum, indem sie sich geschaffene Freiheit in der Welt der Menschen (und, nach biblischem Zeugnis, auch der Engel) gegenübersetzt – der personale, dreipersönliche Gott schafft Personen, die selbst fähig zur Selbstbestimmung sind.
Die geschaffene Freiheit der Personen ist der höchste Ausdruck dessen, was überhaupt für das göttliche Schaffen charakteristisch ist: Gott schafft nicht Schein, sondern wirklich selbständige Wirklichkeit. Wieder geraten wir hier an eine Grenze des Sprechens. Beim einmaligen Vorgang des göttlichen Schaffens sind die höchste Abhängigkeit und die höchste Selbständigkeit nicht zu trennen: Nur weil alles Geschaffene in jedem Augenblick – auch jetzt! – total aus der schaffenden Hand Gottes hervorgeht, kann es zugleich wirklich selbständig sein. Gott entlässt das, was in jedem Moment total seinem Schöpfertum entspringt, in jedem Moment in die Selbständigkeit – und in der höchsten Verwirklichung: in die Freiheit der Person.
Teilhabe: Keine Gottlosigkeit des Menschen, keine Menschenlosigkeit Gottes
Jetzt sehen wir: Dort, wo sich zunächst das wirkliche Gegenüber von Gott und Mensch zeigte (Gott ist Gott und der Mensch ist Mensch, Barth), die Transzendenz und vollkommene Souveränität des Schöpfers gegenüber dem Geschöpf und damit der radikale Unterschied, ja die Trennung zwischen Schöpfer und Geschöpf, zeigt sich jetzt auch die tiefste Verbindung. Gott gibt an der Wirklichkeit, am Sein wirklich Anteil. Und das Urbild aller Wirklichkeit ist natürlich sein eigenes Sein. So spiegelt sich – über alle Trennung hinweg – seine Wirklichkeit in der Wirklichkeit der Geschöpfe. Die höchste Spiegelung aber ist das Bild seiner unendlichen Freiheit in der geschaffenen Person. Deshalb ist der Mensch Ebenbild Gottes, und in seiner tiefsten Tiefe berührt er seinen Schöpfer, ohne sich seiner bemächtigen zu können. Wieder kommen wir hier an eine Grenze des Sprechens: Gottes absolute Jenseitigkeit und das Geschenk der Teilnahme an der Wirklichkeit, die sein Bild in sich trägt und das Geschöpf mit ihm verbindet, liegen untrennbar ineinander. Gott ist Gott und der Mensch ist Mensch, ja, aber zugleich: keine Gottlosigkeit des Menschen, keine Menschenlosigkeit Gottes – so sagt es derselbe Karl Barth. Denn Gott trägt ja auch das Geheimnis des Menschen von Ewigkeit zu Ewigkeit in sich.
Das wirkliche Gegenüber des Menschen, des Menschen, der also zur freien Antwort der Liebe fähig ist, kann Gott selbst lieben, kann es bejahen und in den Dialog der Liebe eintreten. In dem er den Menschen als den im Urgrund ihm verbundenen und zugleich freien und deshalb liebesfähigen schafft, wird die Partnerschaft der Liebe möglich, das ganze gott-menschliche Drama, das die Bibel erzählt.
Die Geschöpflichkeit ist die Wahrheit des Menschen – und sie führt zur Anbetung
Diese Grundstrukturen der Geschöpflichkeit bilden die Wahrheit des Menschen. Weil sie einmalig sind und nicht einfach die Verhältnisse fortsetzen, die sonst zwischen Menschen und Dingen herrschen, bringen sie uns immer wieder an die Grenze der Sprache und des Denkens. Und doch gibt es eine ganz einfache (nicht unbedingt: leichte) Weise, sie zu vollziehen: Sammeln wir uns, versuchen wir zu realisieren, dass wir in jedem Augenblick aus Gottes gütiger Hand mit unserem Sein hervorgehen und dass wir uns dabei selbst in die Hand gegeben sind als höchster Ausdruck der Großzügigkeit Gottes, die sich ständig ereignet. Nehmen wir uns in die Hand und schenken wir uns ihm in liebender Hingabe zurück – voller Dank und Lobpreis (z.B. mit einem Psalm). Üben wir dies immer wieder und immer tiefer. Denn das, was einfach, aber nicht leicht ist, will geübt sein. Was wir dann vollziehen, ist die Anbetung. So oft wir sie vollziehen, realisieren wir neu, was wir sind. Und werden so immer mehr wahr.
Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau.
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