Die Faszination am Schönen führt zu Gott

Für Millionen von Jugendlichen war der Weltjugendtag nur eines: wunderschön. Papst Leo selbst knüpfte beim Schönen an und machte eine alte Straße auf dem Weg zu Gott neu auf. Wer darüber mehr wissen will, ist bei Josef Pieper, Hans Urs von Balthasar und Robert Barron an der richtigen Adresse. Und bei unserem Hausphilosophen Helmut Müller. Der erklärt´s.

Das Pieper-Symposion hat wieder deutlich gemacht, warum das „Hohe Mittelalter“ kein „finsteres Mittelalter“ war. Diese Diffamierung stammt aus der Epoche der Aufklärung, dem, wie sie sich selbst nennt, „siècle de la lumière“, Jahrhundert des Lichts. Im Symposion wurde klar, dass Josef Pieper mit seiner Thomas-Rezeption wieder einen neuen Anfang gesetzt hat, den Bischof Barron fortsetzt. Als jetzt auch noch Papst Leo XIV. die Jugend der Welt aufforderte, nach dem Schönen zu streben, war für mich klar, etwas zu schreiben, was aus dem Schönen des Hohen Mittelalters auf der Tagung und vor deren Türen bis zu den Windelhühnchen von Paderborn geworden ist.

Vom Maß des Schönen

„Das Schöne zieht uns an. Deshalb empfiehlt Barron der Kirche als Erstes einen Wechsel von Kant zu Goethe. Hans Urs von Balthasars „Theologische Ästhetik“ lässt grüßen“, so brachte es Ludger Schwienhorst-Schönberger auf den Punkt, wider einen beigen Katholizismus (Bischof Barron), wie wir ihn vor den Tagungsstätten in Münster und auch sonstwo immer wieder erleben. Wenn dann jemand einwenden würde: “Ja die Kirche ist doch bunt” –  “Ja, bunt wie ein angemalter Luftballon.” Eine Nadelspitze zeigt schon, wie weit es mit der Buntheit her ist.

Schon „für Platon war das Schöne nicht von dieser Welt. Auch wenn es sich in angenehmen Abbildern zeigt, wird Schönheit nur im Reich der Ideen geboren und bleibt nicht greifbar. Im Mittelalter war Schönheit etwas, was vom göttlichen Glanz des Schöpfers für den Menschen abfiel. Ein kleiner Blick auf seine Vollkommenheit, nach der die Irdischen streben“. (Dagmar Reiche) „Gott ist nicht nur das Vorbild der Schönheit, sondern auch das einzige Wesen, dem mit vollem Recht der Wesenszug des Schönen zusteht. Daher lautet die ,,conditio sine qua non“ der Schönheit: Ähnlichkeit mit Gott. […] Der Schönheitsbegriff des Aquinaten ist ein ästhetisches Ideal, das – auf eine kompakte Formel gebracht – auf Vollkommenheit, Harmonie und Klarheit beruht. […] Andererseits ist aber die Häßlichkeit – und das ist das Wesentliche der thomistischen Theorie – nichts anderes als eine privatio pulchritudinis (De div. Nom. 4,21,554) (Elke Kania). So brachte das Schöne eine junge Frau 1997 in einer Seminararbeit an der LMU auf den Begriff.
Was für das Schöne gilt, gilt auch für das Gute und das Wahre. Zusammengenommen werden das Wahre, das Gute und das Schöne die drei Transzendentalien genannt, die in Gott ihr vollkommenes Urbild haben, dem wir im Geschaffenen nur in Abbildern begegnen. Was ist heute davon übrig geblieben?

Das Wahre im Kerker der Aufklärung

Angestrebt wurde nämlich im Hohen Mittelalter das Wahre, das Gute und das Schöne. Und was ist im Gefolge der Aufklärung geschehen? Das Wahre hat René Descartes (1596 – 1650) in ein Verlies geworfen, wo das Ich jetzt mit sich allein geblieben ist und sich nur seiner selbst sicher gewesen ist. In seinem berühmten Denkansatz cogito ergo sum haben nicht die eigenen Sinne nunmehr Zugang zur Wahrheit schaffen können, sondern allein Gott – an den Descartes noch glaubte – sorgte für die Vermittlung. David Hume (1711 – 1776) dagegen, glaubte an gar nichts mehr, entmächtigte das Ich – das für Descartes das einzig Sichere war – und sah nur rätselhaft zusammenhanglose Dinge, die sich mit den von Descartes entmächtigten Sinnen wahrnehmen ließen. Das war für Kant (1724 – 1804) die Katastrophe schlechthin: Die Vernunft im Kerker und die Sinne ohne Aufsicht freilaufend draußen, wenn ich das einmal so pointiert sagen darf. Er nahm zunächst einmal die kontinentale Position von Descartes und Leibniz (1646 – 1716) gegen die angelsächsische von Hume ein und bemerkte in einer Analyse des von Descartes eingekerkerten Ichs, dass es Kerkerfenster gab, durch die Licht fiel. Das analysierte der Verstand. Die Vernunft sorgte durch drei Ideen für den Zusammenhang des Analysierten. Kant fand nämlich noch im Ich drei Ideen:

  • die Idee der Welt – des Gesamtzusammenhangs dessen, was draußen geschieht, 
  • das Ich, das drinnen war und den Grund für alles Wahrgenommene und Zusammenhängende bilden musste. 
  • Und schließlich brauchte Kant auch noch eine weitere Idee, nämlich Gott, den Descartes auch noch gebraucht hatte und für Kant das Prinzip unseres Erkennens in Hinsicht auf Herkunft, Ziel und Grund alles Seienden ist. 

Der Philosoph mit dem Hammer

Nietzsche (1844 – 1900) hat dann das Lebenswerk Kants zertrümmert – er nannte sich nicht umsonst den Philosophen mit dem Hammer. Er hat auch Gott, den Garanten der Wahrheit bei Descartes und Kant, aus seinem Denken entfernt und entsorgt und damit den Menschen zum Eckensteher gemacht. D. h. die Gesamtperspektive, die nur Gott haben konnte, ist verloren gegangen und Wahrheit ist zur bloßen Meinung verkommen, die jeder aus seiner „Ecke“ im Blick auf die Welt haben kann und die derselbe oder dieselbe dann „meine Wahrheit“ nennt. Übrig bleiben dann nur subjektive Perspektiven. Allerdings ist der „Hammerphilosoph“ nicht ganz zufrieden mit seiner Arbeit: „Ich befürchte, wir sind Gott nicht los, weil wir immer noch an die Grammatik glauben.“

Das Gute unter der Macht des Willens

Mit dem Niedergang des Wahren ist auch das Gute in Mitleidenschaft gezogen worden. Duns Scotus (1265/66 – 1308) hat noch nicht geahnt, was es bedeutet, das Gute als erkennbar Strebenswertes bei Platon, Aristoteles und Thomas aus der partiell selbstständigen Erkennbarkeit der Welt in die Unerkennbarkeit zu verlagern, nur um Gottes Allmächtigkeit nicht auf diese Welt festlegen zu müssen (in seiner Allmacht hätte er ja auch anders können), sondern in seinen nur partiell erkennbaren Willen. Für Duns Scotus war es nun klar, dass nicht unser Streben nach dem Guten verlässlich sein kann, sondern nur in einer Orientierung am Willen Gottes, der uns das Gute zeigt. Daran hat Kant zwar nicht angeknüpft, aber dass er in der abgeschlossenen Einsamkeit seines Kerker-Ichs nicht auf den Informationen, die die Welt durch das Kerkerfenster liefert, eine Strebensethik bauen konnte, sondern nur auf seinen Willen, der einen rätselhaften Zugang zu dem „moralischen Gesetz in mir“ – wie er schrieb – hat.  Daraus wurde dann eine Willensethik. Auch die hat dann Nietzsche mit seinem Hammer zertrümmert, weil er Kant für einen „hinterlistigen Christen“ hielt, der das moralische Gesetz in ihm, irgendwie als autonome Ethik, christentumsfrei, autonom, verkaufen wollte. Damit war der Zugang zum Guten verbaut und der Weg zum „Besseren“ und „Schlechteren“ offen, mit dem mich meine Kinder, als sie noch klein waren, ohne Nietzsche zu kennen, immer wieder vorgeführt haben: es gäbe schlechtere Kinder als sie. Das ließ ich nie auf mir sitzen: Sie bekamen regelmäßig die Antwort: Es gäbe auch schlechtere Väter als mich. So fiel das Gute und das Böse des Hochmittelalters unter die mehr oder weniger aufgeklärten Räuber. Es erlebte seinen Niedergang vom philosophischen Katheder als Pflichterfahrung zum frei Jonglierbaren zwischen Besserem oder Schlechterem, je nachdem welches Maß der „Vernunftgebraucher“ mit seinem Werkzeug Vernunft festlegte. Es gab kein Maß mehr auf Erden, weil man es nicht mehr vom Himmel  nahm. Egal, ob dies nun unter dem Schlüsselbegriff Sternenhimmel, d. h. als Maß eines von Natur her Richtigem zu verstehen war, wie es von den Griechen bis zu den Chinesen begriffen wurde oder von einem Gott, der aus seinem Himmel das Maß auf steinernen Tafeln auf der Spitze des Sinai an Berufene hinab reichte.

Das Schöne unter den “tantalischen Schmertzen” Kants

Das Schöne trieb Kant Sorgenfalten ins Gesicht. Wo war es unterzubringen in seiner Reflexion? Weder die theoretische noch die praktische Vernunft eignete sich dafür. So schrieb er eine weitere Kritik, die Kritik der Urteilskraft, die am wenigsten beachtete seiner Kritiken. Am Ende seines Lebens, im Jahre 1797, sieben Jahre vor seinem Tod, spürte er einen tantalischen Schmertz (Originalorthographie), wie er schrieb, weil er meinte, zu alt zu sein, um noch einmal Welt und Wirklichkeit begrifflich abschreiten zu können und sein Denken neu zu konzipieren. Schließlich hatte er auch eine Idee, die man im unveröffentlichten Opus postumum noch nachverfolgen kann. Richtiger wäre es gewesen, die Vermessung der Welt mit dem Maß der Kritik der Urteilskraft zu beginnen und die beiden anderen nur als Ableitungen dieses Maßes zu verstehen. Was heißt das? Erstaunen über Erhabenes oder etwas weniger ergriffen, einfach die schlichte Anmutung alles sinnlich Erfahrenen als Einstieg in die Wirklichkeit zu nehmen. Lange Zeit, besonders in der Zeit des Neukantianismus, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hatte man das Opus postumum mit einer Senilität des alternden Kants zu erklären versucht. Er hätte nämlich „das Ganze der Philosophie“, wie er 1797 seinen “tantalischen Schmertz” beschreibt, nicht mehr in der Reihung Epistemik (Kritik der reinen Vernunft), Ethik (Kritik der praktischen Vernunft) und dann erst Ästhetik (Kritik der Urteilskraft), mit der Ästhetik, dem Schönen begonnen.

Auch das Schöne unter dem Hammer Nietzsches

Vielleicht wäre dann auch das Urteil Nietzsches weniger heftig über den „Begriffskrüppel“ oder den großen Begriffschinesen aus Königsberg ausgefallen. So markierte er die in seinem Verständnis verstiegenen begrifflichen Begründungen Kants. Nietzsche hasste Kants Pflichtethik und polemisierte dagegen, weil Kant Moral, also die Reflexion über das Gute oder dessen Derivate überhaupt zu retten versuchte. Der Philosoph mit dem Hammer ließ von allen Transzendentalien allein noch vom Schönen etwas übrig. Was davon übrig blieb, hatte aber nichts mehr mit dem Bezug des Schönen im Hochmittelalter zu Gott zu tun. Das Gegenteil war der Fall. Im Willen zur Macht wurde „das Schöne“ zu einem eigenmächtigen Lebensstil kreiert, der weniger vernunft-, sondern willensförmig – in der Sprache Nietzsches „vom Leib der großen Vernunft“ – bestimmt wurde. Diese „Leibvernunft“ bäumte sich im Zarathustra auf, in dem das Geschöpf – Nietzsches Übermensch – den Schöpfer, in Gestalt der Sonne, blasphemisch segnete: „Du großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest! Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich,[…]Aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Überfluß ab und segneten dich dafür.“ 

Windelhühnchen als künstlerischer Ausdruck?

Im Gefolge Nietzsches, allen voran französische Philosophen und Künstler, wurde fortan das Schöne eigen- und selbstmächtig bestimmt, etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Marcel Duchamps Flaschentrockner. Duchamp (1887 -1968) kaufte einen solchen industriell hergestellten in einem Pariser Kaufhaus und die reine Bestimmung – das sei ein Kunstwerk – machte den Flaschentrockner dazu. Nicht mehr Schönes als vielleicht noch so entfernter Abglanz Gottes, sondern das reine Machtwort eines Menschen, der sich und den man als Künstler ansah, machte ein Kunstwerk daraus, unter Absehung jeder Anmutungsvalenz des Schönen, als auch des Gegenteils des Hässlichen. Postmoderne Kunsttheoretiker wie der französische Philosoph Jean-François Lyotard (1924-1998) haben deshalb gefordert, alle Kunstregeln aufzugeben. Auch die Form eines Kunstwerks und sein Herstellungsprozess können auf Nicht-Darstellbares anspielen. 

Wer erinnert sich bei diesen Zeilen nicht an die Darstellung der Kunstaktion im Paderborner Dom mit den vermutlich auch im Supermarkt gekauften Windeln und tiefgekühlten Hühnchen, die dann zu Windelhühnchen wurden. Und das geschah alles vor den Augen eines Bundespräsidenten, eines Ministerpräsidenten und des Bischofs, dem eigentlichen Hausherrn des Doms, die vermutlich – von einem solchen Kunstbegriff eingeschüchtert, nicht wagten einzuschreiten. Skandalös war, dass die Gruppe, die solches vortrug, auch noch mit Steuergeldern des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert wurde.

Ist eine blühende Wiese nicht wunderschön? (Leo XIV.)

Soviel zum aktuellen Niedergang des Schönen, aus dem Hohen Mittelalter bis in die Gegenwart. Mir ging das Herz auf, als Papst Leo XIV. vor Tor Vergata den Jugendlichen zurief: „Ist eine blühende Wiese nicht wunderschön?“  Er regte sie dazu an, „wie Kinder auf Zehenspitzen durch das Fenster der Gottesbegegnung zu sehen.“ Er meinte damit sicher nicht den Blick durch das Fenster des Kerkers, in dem sich ein erheblicher Teil der Elite der Neuzeit wähnt, sondern eher die blühende Wiese des Papstes, auf die uns Josef Pieper und Robert Barron mit dem Denken des Aquinaten wieder geführt haben. So animierte er die Jugendlichen, sich wieder an Höherem zu orientieren. Dieses Höhere hat nach wie vor in mir den Klang von Bischof Barrons Stimme auf dem Symposion.


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag.  Helmut Müller ist Mitautor des Buches „Urworte des Evangeliums“.

Bildquelle: © Adobe Stock / Icemanphotos

Melden Sie sich für unseren Newsletter an