Der Tempel, den König Salomo dem Herrn des Himmels und der Erde errichtete, muss von einer unvorstellbaren Pracht gewesen sein. Gerade veröden unsere Kirchen. Werden sie zu Museen eines toten Gottes? Das muss nicht sein, meint Bernhard Meuser. Aber es kostet.
Wir können uns heute kaum mehr vorstellen, was das für ein Tag war, als König Salomo den Tempel auf dem Zionsberg mit einem Gebet eröffnete. Das Zelt auf der Wüstenwanderung – und endlich das Wunderwerk des Salomonischen Tempels – waren für das Volk Israel überaus heilige, vollkommen reale Wohnorte Gottes.
„Gottes Liebe zu Israel manifestierte sich darin, dass er aus den weiten Fernen seines Thrones über den sieben Himmeln herabkam, um in einem Zelt aus Ziegenhaut zu wohnen, das er ihnen zu bauen befohlen hatte“ (George Foot Moore).
Auch Carol Meyers beschreibt das Wesen des Jerusalemer Tempels als „irdische Wohnstätte Gottes“, als den “Ort, an dem sich Himmel und Erde berührten; von hier aus übte Gott seine Kontrolle über das Universum aus.“ Flankiert von brennenden Seraphen und jubelnden Cherubim stieg die Herrlichkeit selbst herab in unsere katastrophische Welt und beengten Verhältnisse.
Damals war es, dass Salomo das „Weihegebet“ sprach, das wir im ersten Buch der Könige finden:
„HERR, Gott Israels, im Himmel oben und auf der Erde unten gibt es keinen Gott, der so wie du Bund und Huld seinen Knechten bewahrt, die mit ungeteiltem Herzen vor ihm leben.“
So lautete das Gebet Salomos, mit dem er den Tempel Gott weihte und dem Volk einen Ort der Unmittelbarkeit mit dem Ewigen schenkte.
Der Tempel ist zerstört
Der von Menschenhand gebaute Tempel des Königs Salomo hatte keinen Bestand. Deshalb hat Gott aber sein Immobilienkonzept, sein Wohnen wollen unter den Menschen nicht aufgegeben. „Die Herrlichkeit … voll Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14) sollte uns nach dem Willen Gottes noch näher auf die Haut rücken, so dass der erste Johannesbrief von etwas sprechen kann, „was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben“ (1 Joh 1,1): das Geheimnis Gottes wird in Jesus Christ zum sprechenden Geheimnis: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“
Mit der Ankunft Christi bricht die alte Tempelherrlichkeit zusammen, um in den drei Tagen von Golgota in nie gekannter übernatürlicher Schönheit wieder aufgebaut zu werden. Christus selbst ist nun der gloriose, geschichtsfeste Tempel, den keine Römer mehr zerstören können, ER der wahre Kult vor dem Vater, der Hohepriester, der „heilig …, frei vom Bösen, makellos, abgesondert von den Sündern und erhöht über die Himmel“ (Hebr 7,26) für uns da ist – zeitgleich im Himmel und auf der Erde.
Und was ist mit der Kirche, dem Volk Gottes? Was ist mit uns? „Ihr“, sagt Paulus, „seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Eckstein ist Christus Jesus selbst. In ihm wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn.“ (Eph 2,20-21)
Museen eines toten Gottes oder Orte der Auferstehung?
Unser Land ist übersät von Kirchen, Kapellen und Kathedralen, die fast nur noch von älteren Menschen betreten werden, sei es, um die Architektur und die künstlerische Ausstattung zu bewundern, sei es, um an spärlich besuchten Kulthandlungen teilzunehmen, sei es, um zu beten. Die Katholische Kirche befindet sich im freien Fall. Von außen offensiv angefeindet, von innen anderskatholisch unterhöhlt, von den Jungen verlassen, von den Intellektuellen verachtet, tendieren ihre Überlebenschancen, rein menschlich gesehen, gegen Null. Werden die prächtigen gotischen Dome, die barocken Wunderwerke, die Zeugnisse einstiger Frömmigkeit in zwanzig Jahren nur noch Museen eines toten Gottes sein? Wird man unter den Kreuzgewölben fröhlich tafeln? Wird man Hallenkirchen in Trampolinparks und Kapellen in Afterwork-Lounges verwandeln, die Krypta in einen Kellerschuppen, in dem Gothic-Klamotten vertickert werden?
Ich traf dieser Tage eine junge Frau, fertigstudierte evangelische Theologin, Berufsabsicht: Pastorin. Nur ließ sie – während sie ihre ersten Berufserfahrungen sammelte – die Theologie nicht los. Sie studierte die Väter der frühen Kirche und wurde, dem hl. John Henry Newman nicht unähnlich – sozusagen wider Willen katholisch. Sie konvertierte und fiel ins Nichts der real existierenden Katholischen Kirche:
„Wo finde ich eine Verkündigung, die den Namen verdient, eine Predigt, die von Gott spricht? Wo finde ich eine leuchtende Theologie, die aus den Quellen der Schrift schöpft? Wo ist eine Kirche, in deren Liturgie sich Himmel und Erde berühren? Wo ist die Gemeinde, die mich sieht, mich haben will, mich mit Liebe begrüßt und umarmt? Wo ist mein Platz in dieser Kirche? Ich wurde katholisch wegen der Wahrheit und der Schönheit – und finde sie verraten. Manches von dem, was ich in der Katholischen Kirche suchte, kannte ich viel besser von dort, wo ich herkam: Wertschätzung des Wortes Gottes, Sorgfalt seiner Auslegung, menschliche Wärme, Entschiedenheit für Jesus, Freude im Heiligen Geist …“
Ich schwieg lange, dachte an John Henry Newman, der einst (vor seiner Konversion) mit seinem Freund Wilberforce gebetet hatte, der Herr möge sie eher sterben lassen, als dass sie zur Kirche Roms übertreten müssten. Und dann musste er genau das tun, mit einer irren, unbestechlichen inneren Konsequenz, musste all seine Freunde verlassen, die ihn angriffen, attackierten oder auslachten, weil er – der Startheologe in Oxford – zur „Religion der Dienstboten“ überlief. Und kaum war er katholisch, wurde er „verkannt, verdächtigt, verleumdet, mit äußerstem Misstrauen behandelt und zurückgesetzt“ (Matthias Laros), bis er als alter Mann von Leo XIII erkannt wurde, der ihn, den fast Vergessenen, zu „il mio Cardinale“ machte. Heute ahnt man: Newman ist der epochale Lehrer und Heilige ist, den die Katholische Kirche braucht, um ihre Identität in einem tödlichen Umfeld wiederzufinden.
Aussteigen aus der Kirche der Mitläufer, und doch nicht aufhören beherzt zu singen „… und gib, dass ich an deinem Leib, dem auserwählten Weinstock, bleib ein Zweig in frischem Triebe“. Wissen, dass die Betreuungskirche an ihr natürliches Ende gekommen ist, nicht um in einem Allerweltshumanismus aufzugehen. Nein, dafür, dass sie nach Gottes Willen und nach drei dunklen Tagen erneut aufersteht – als eine Kirche der freien Jünger und stolzen Subjekte, eine Kirche der Liebevollen, die sich durch persönliche Hingabe an den Herrn im Leib Christi wiederfinden, sich als Gemeinschaft im Heiligen Geist erkennen, sich aneinander wärmen und miteinander an Gott freuen. Das hat uns Newman zu sagen – er, der den Gang durch die Wüste nicht scheute.
Es ist wahrlich schwer, sich heute zur real existierenden Katholischen Kirche zu bekennen, ohne dass man sich schreienden Missverständnissen aussetzt. Es ist nicht einfach, sie zu lieben, sie zu verteidigen, das Geheimnis Gottes in ihr zu bezeugen und SEINE reale Gegenwart – aber gegen die Resignation und die Feigheit gibt es Psalm 84:
„Lieber an der Schwelle stehen im Haus meines Gottes als wohnen in den Zelten der Frevler.“
Eine Werbeagentur für die Neuevangelisierung?
Man kann diese Kirche heute schon finden, freilich eher an den Rändern der großen Institutionen als in ihrer Mitte. Manchmal denke ich, es bräuchte eine Werbeagentur für die Neuevangelisierung, aber dann weiß ich auch, dass es Plakate und Kampagnen nicht richten, sondern das Netzwerk derer, die mit König Salomo beten:
„HERR, Gott Israels, im Himmel oben und auf der Erde unten gibt es keinen Gott, der so wie du Bund und Huld seinen Knechten bewahrt, die mit ungeteiltem Herzen vor ihm leben.“
Schließlich sagte ich der jungen Frau: „Sie haben ein Stück Himmel erwartet und finden das Kreuz. Sie haben Sicherheit von Menschen erhofft und werden auf den Herrn zurückgeworfen. Sie haben Gemeinschaft ersehnt und wurden in Wüste und Einsamkeit geführt. Vielleicht hat Gott Sie in seinem langen Atem für einen prophetischen Dienst bestimmt, ein Warten in der Verborgenheit auf das, was kommen muss im Vertrauen auf den Herrn …“
Übrigens hatte sie Newman schon gelesen.
Bernhard Meuser
Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral.