Römischer Unfug? Oder: Gibt es mehr als zwei Geschlechter?[1]
Thomas Hieke, Professor für Altes Testament in Mainz, hat eine Lanze für Gender gebrochen. In katholisch.de und im Deutschlandfunk reagierte er scharf auf die Rede von Erzbischof Nikola Eterović vor der deutschen Bischofskonferenz. Er warf dem Erzbischof vor, die römische Theologie sei anthropologisch nicht auf Höhe der Wissenschaft. Hier werde Heilige Schrift instrumentalisiert, um Menschen auszugrenzen. „Das Gerede von der ‚Gender-Ideologie‘ “ sei „hohl“; das Lehramt müsse „stärker auf die Humanwissenschaften achten . . .“, auf das, „was in Wissenschaften wie Psychologie und Biologie Stand der Forschung“ sei. Bei Menschen, die sich zwischen den Polen von ‚männlich und weiblich‘ fänden, handle es sich um „Normvarianten des Menschlichen, die genauso zu akzeptieren sind wie unterschiedliche Hautfarben. Theologisch gesprochen: die zu akzeptieren sind als Teil von Gottes guter Schöpfung.“ Sein renommierter Wiener Kollege, der Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger, wollte das so nicht stehen lassen. Der biblischen Schöpfungserzählung steht die statistische Norm von zwei biologischen Geschlechtern vor Augen, ihr geht es nicht darum, Normvarianten zu leugnen oder sie gar zu diskriminieren.
Lesen Sie seine kluge Replik:
Leider muss ich den meisten Aussagen des Kollegen Thomas Hieke widersprechen. Die Frage, die Frau Florin im Interview mit Thomas Hieke im Deutschlandfunk gestellt hat, wie es denn sein kann, dass Theologen über 2000 Jahre hin Gen 1,27 („…Männlich und weiblich erschuf er sie“) falsch verstanden haben und die „römischen Theologen“ ihn heute noch falsch verstehen, ist völlig berechtigt. Die Antwort kann nur lauten: Weil das die Bedeutung des biblischen Textes ist. Natürlich liegt die revidierte Einheitsübersetzung mit der Wiedergabe von „männlich und weiblich“ statt „Mann und Frau“ in Gen 1,27 richtig; der Grund der Revision verdankt sich jedoch nicht Erkenntnissen der Gender-Theorie, sondern liegt auf der Linie der quellsprachenorientierten Revision der Einheitsübersetzung, denn in Gen 1 steht nicht „isch“ und „ischah“, sondern „zakar“ und „neqebah“, also „männlich“ und „weiblich“. Das ändert jedoch nichts am Gesamtverständnis, denn die Fortsetzung in Gen 2 interpretiert dies im Sinne der binären Geschlechterkonstellation von „isch“ und „ischah“, also: „Mann und Frau“. Ob nun Gen 2 der ältere (wie früher oft vertreten) oder der jüngere Text (wie heute oft behauptet) ist, tut nichts zur Sache. Dass die Bibelauslegung des Lehramtes der Katholischen Kirche sowie die des Nuntius dem neuesten Stand der Bibelwissenschaft widerspreche, wie Hieke behauptet, ist irreführend. Ich zitiere aus einem der jüngsten Kommentare zum Buch Genesis von Georg Fischer, Herders Theologischer Kommentar, Freiburg 2018, S. 154f:
„Dieses Menschengeschlecht ist also eines, und es begegnet in zwei Ausgestaltungen. ‚männlich und weiblich‘ (ebenso Gen 52). Frauen und Männer sind beide in gleicher Weise als Gottes Statue geschaffen und haben demnach dieselbe Würde und denselben Wert. Zudem deutet die Aufgliederung in die beiden Geschlechter an, dass sie aufeinander verwiesen sind, auch wohl, dass sie nur gemeinsam ‚Menschsein‘ verkörpern, und vielleicht sogar, dass sie nur zusammen Gottes Statue sind.“
Die Auslegung ist völlig korrekt und gibt den Stand der Wissenschaft wieder. So hat es auch der Nuntius ausgedrückt.
Animus und anima (C. G. Jung)
Im Interview auf katholisch.de hat Hieke Gen 1,27 „männlich und weiblich“ im Sinne der Spektrum-Theorie gedeutet, wonach es zwischen den Polen „männlich“ und „weiblich“ ein vielfältiges Spektrum an Geschlechtern gäbe. Im Hintergrund steht offensichtlich die Animus-Anima-Theorie von C. G. Jung, die in einer frühen Phase des Feminismus (z. B. bei Maria Kassel) sehr verbreitet und beliebt war. Dieser Theorie zufolge sind in jedem Menschen männliche und weibliche Eigenschaften angelegt, die im Zuge der Reifung (Individuation) in eine gute Balance zu bringen sind. Das ist eine schöne Deutung, die zwar nicht der Intention des biblischen Autors und der Bedeutung des Textes entspricht, gegen die von der Sache her jedoch nichts einzuwenden ist, wenn man Identität nicht als ein biologisches Faktum, sondern als das individuelle und kulturelle Selbstbild versteht, das eine Person sich von sich macht. Dagegen gibt es meines Wissens von Seiten des Lehramtes der katholischen Kirche keinerlei Bedenken. Was mich beim Kollegen Hieke wundert, ist, dass er als Sympathisant der Gender-Theorie mit derartigen essentialistischen Zuschreibungen (männlich und weiblich) operiert. Innerhalb der Gender-Theorie passt das nicht, weshalb C.G. Jung in diesen Kreisen weitgehend out ist.
Berufung auf die Humanwissenschaften
Was nun die vermeintliche Missachtung der Erkenntnisse der Humanwissenschaften anbelangt, so finde ich beim Natur- und Sozialwissenschaftler und Leiter der Forschungsstelle „Theorien der Geschlechter und der Homosexualität“ sowie Mitarbeiter der Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und des Instituts für Geschichte und Ethik in der Medizin an der Berliner Charité, Rainer Herrn, eine scharfe Kritik am „verhängnisvollen Versuch“ der „Re-Biologisierung der Homosexualität“. Er kritisiert die seit den 1990er Jahren verbreiteten biologischen Deutungen der Homosexualität und deren „Rezeption in der breiten Öffentlichkeit“:
„Der gemeinsame Nenner, auf den diese Überlegungen, Ansätze und Arbeiten zu bringen sind, ist der unverbrüchliche Glaube an einen biologischen Ursprung der Homosexualität“ (114).
Der Autor kritisiert nachdrücklich den „Natürlichkeitsdiskurs“ (118) und die sich aus einer vermeintlich biologischen Anlage ergebende sexuelle Identität:
„Außerdem ist die von den Forschern beschriebene Schaffung von Identität durch biologische Befunde kurzschlüssig, denn Identität stellt sich nicht durch Biologie her, sondern durch psychische Verarbeitung und soziales Handeln im Alltag“ (118).
Bis heute, so Rainer Herrn, wurde „weder eine biologische Anlage für Homosexualität nachgewiesen […], noch eine entsprechende ‚Verursachungs-Substanz‘ im Körper gefunden“ (124) (Rainer Herrn, Über neue biologische Deutungen der Homosexualität – Ein Rückschlag, in: Jahrbuch für kritische Medizin 35 [2001] 114–128). Als Theologe kann ich diese Aussagen fachlich nicht beurteilen, wohl jedoch feststellen, dass genau das auch die Position der katholischen Kirche ist, wenngleich sie sicherlich in ethischer Hinsicht nicht mit der Ansicht von Rainer Herrn, soweit ich sehe, übereinstimmt.
Der Galilei-Mythos
Auch der Fall Galilei, den Hieke anspricht, ist weitaus komplexer, als er es darstellt. Ich zitiere Carl Friedrich von Weizäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, Stuttgart 61990, 107:
„Aber warum gelang es ihm [Galilei] nicht, die Kirche zu überzeugen? Ich fürchte, ich muss antworten: weil er eben nicht eine klar erkennbare wissenschaftliche Wahrheit gegen mittelalterliche Rückständigkeit verteidigte. Die Dinge lagen eher umgekehrt: er [Galilei] konnte nicht beweisen, was er behauptete, und die Kirche seiner Zeit war nicht mehr mittelalterlich. Er war der Fanatiker in dieser Auseinandersetzung.“
Der Astronom Franz Kerschbaum schreibt:
„Das Hauptproblem im Streit um Galilei und seine Lehren war eigentlich, dass es zu diesem Zeitpunkt noch keine ausreichend guten Beweise für das neue Weltbild gab.“
Galileis Argumentation mit den Gezeitenkräften hat sich später als falsch herausgestellt. Hieke ist dem „Galilei-Mythos“ aufgesessen.
Familie
Dass die katholische Kirche angesichts der „Gender-Ideologie“ eine Gefährdung der (traditionellen) Familie sieht, ist kein Phantom, wie Hieke behautet, sondern wird durch Äußerungen von engagierten Vertretern der Queer-Theorien genauso behauptet. Das kann man beispielsweise nachlesen in dem Buch von Mike Laufenberg, Queere Theorien. Zur Einführung, Hamburg 2022: Ging es der Schwulen-Bewegung in einer frühen Phase um die Beseitigung von Diskriminierung und Ungleichbehandlung, so geht es jetzt um die Überwindung einer hegemonialen heteronormativen Matrix in allen Bereichen der Gesellschaft:
„Queere Theorien sind an einer praktischen Veränderung der Gesellschaft orientiert und müssen entsprechend an diesem Anspruch gemessen werden. Wie bei allen kritischen Theorien bestätigt sich ihre Richtigkeit (oder nicht-Richtigkeit) erst ‚diesseitig‘ von theoretischen Gedankenübungen, denn ‚die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorien, sondern eine praktische Frage‘ (Marx 1969, MEW 3: 5)“ (21).
Unter ausdrücklicher Berufung auf die „Aufhebung der Familie“, wie sie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest als eines der Ziele des Kommunismus gefordert haben (199),
„prägt die Ablehnung der bürgerlichen Kleinfamilie das queere Denken. Sie gilt ihm nicht nur als Keimzelle von Kapitalismus und Nation, als Bastion männlicher und weißer Vorherrschaft, sondern auch als Agentin gesellschaftlicher Queer- und Transfeindlichkeit“ (203).
Es geht darum,
„die verschiedenen Vorstöße, Familie zu pluralisieren, zu diversifizieren und egalitärer zu gestalten, dialektisch mit dem Projekt einer Aufhebung der bürgerlichen Familienform zu vermitteln“, um „Liebe, Sexualität und Intimität auszuweiten – so dass sie universell und öffentlich, jenseits der exklusiven Formen des Paares und des Familienhaushaltes, verfügbar werden“ (204f).
Man wird es der Kirche doch wohl nicht verübeln dürfen, wenn sie andere Ziele verfolgt und dafür auch gute Argumente in Anschlag bringen kann.
Begrenzte Sinnoffenheit biblischer Texte
Was mich bei den Äußerungen von Thomas Hieke befremdet, ist, dass er noch vor einigen Jahren zu den Vertretern jener Gruppe von Exegeten gehörte, die mit einer gewissen Sinnoffenheit biblischer Texte rechnete. Jetzt vertritt er im Fall von Gen 1 eine Eindeutigkeit im Sinne der Spektrum-Theorie, die geradezu fanatische Züge erkennen lässt. Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass die einschlägigen biblischen Texte ein Sinnpotenzial enthalten, innerhalb dessen die offizielle Position der Katholischen Kirche als sehr plausibel anzusehen ist. Sie hat den biblischen Text also nicht „gegen den Strich“ gelesen. Da hat Frau Florin schon Recht, wenn sie fragt, wie es denn sein kann, dass studierte Theologen wie der Nuntius und eine 2000-jährige Geschichte der Kirche diese Texte so gelesen haben. Antwort: Weil es plausibel ist und auch in neuesten wissenschaftlichen Kommentaren so vertreten wird. – Und ein Hinweis noch an Frau Florin: Katholiken sind nicht der Auffassung, dass die Bibel die Offenbarung Gottes ist, sondern dass die Bibel die Offenbarung Gottes bezeugt. Und dieses Zeugnis bedarf selbstverständlich der Interpretation. Wir sind also keine Bibelfundamentalisten (nachzulesen vor allem in der Habilitation von Joseph Ratzinger und dem Dokument der Päpstlichen Bibelkommission „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ vom 23. April 1993).
[1] Bei dem Text handelt es sich um eine Stellungnahme, die am 03.10.2023 auf der Facebook-Seite von Ludger Schwienhorst-Schönberger veröffentlicht wurde. Sie bezieht sich auf zwei Interviews, die Thomas Hieke auf katholisch.de am 27.09.2023 und im Deutschlandfunk am 02.10.2023 gegeben hat; in den beiden Interviews ging es u. a. um die Ansprache des Nuntius Nikola Eterović, die dieser vor der Deutschen Bischofskonferenz am 25.09.2023 in Wiesbaden-Naurod gehalten und in der er auf die Schöpfungserzählung der Bibel Bezug genommen hat. Zur ausführlicheren Diskussion sei verwiesen auf: Ludger Schwienhorst-Schönberger, Ehe und Freundschaft unter dem Segen Gottes. Schriftauslegung im Lichte der Schöpfungstheologie, in: Jan-Heiner Tück / Magnus Striet (Hg.): Jesus Christus – Alpha und Omega (FS für Helmut Hoping zum 65. Geburtstag), Freiburg i. Br. 2021, 442-471.
Ludger Schwienhorst-Schönberger wurde 1957 in Lüdinghausen geboren. 1989 promovierte er mit einer Arbeit zum Thema „Das Bundesbuch“ und habilitierte sich an der Universität Münster mit einer Arbeit über das Buch Kohelet. 1993 wurde er Professor für Alttestamentliche Exegese und Hebräische Sprache an der Universität Passau. 2007 folgte Schwienhorst-Schönberger einem Ruf für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an die Universität Wien. 2021 wurde ihm für seine Verdienste der Joseph-Ratzinger-Preis verliehen. Zudem ist Schwienhorst-Schönberger Mitglied der Theologischen Kommission der Österreichischen Bischofskonferenz.
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