Wer gesellschaftspolitisch Akzeptanz gewinnen will, muss normalisieren. Aber manchmal überlagert die behauptete Normalität die Phänomene. Deshalb fragt Helmut Müller sokratisch und um der Klarheit des Begriffs willen: Was ist das eigentlich – „normal“?


Spaemann und die Normalität

Der Begriff des Normalen oder der Normalität ist keine Erfindung der Moderne. In seinem Standardwerk „Natürliche Ziele“ (Stuttgart 2005), das Robert Spaemann gemeinsam mit seinem Meisterschüler Reinhard Löw schrieb, findet man folgende Aristotelesstelle mit Kommentar:

„´ Wenn jemand sagen würde, er kenne sich aus mit Pferden, könne aber ein krankes von einem gesunden Pferd nicht unterscheiden, dann würden wir ihn nicht einen Pferdekenner heißen. ´

Eine Sache kennen heißt, eine bestimmte, dieser Sache angemessene Verfassung kennen und von ihr anderen, unangemessene Verfassungen unterscheiden können. Um überhaupt von Missratenheit – auch bei Kunstdingen, bei Häuser, Schuhen, Schiffen etc. -, von Krankheit, Verkümmerung, Abnormitäten sprechen zu können, muss man den Begriff einer Normalität voraussetzen, der nicht statistische, sondern teleologisch fundierte Normalität bedeutet.

Wenn es durch eine globale Katastrophe mehr Hunde mit drei als mit vier Beinen gäbe, die Mehrzahl sich also hinkend fortbewegen müsste, würden wir die Dreibeinigkeit bei Hunden ebenso wenig als normal bezeichnen wie wir Kopfschmerzen oder Blindheit als normal bezeichnen würden, auch wenn 60 % der Menschen darunter litten.

Mit dem reflexiv eingeführten Begriff der Normalität wird Aristoteles zum Begründer der Wissenschaft vom Lebendigen.“


Alte Normalitäten in der Schweigespirale

Eben ist der Monat Juni zu Ende gegangen, für die LGBTQ-Bewegung der Pride-Month. Wird der Herz Jesu Monat auch für Katholiken jetzt zum Pride-Month? Wenn es nach Philipp Greifenstein ginge, ja. Sogar Abtreibung scheint immer „katholischer“ zu werden.  „Alte“ Normalitäten wie eucharistische Anbetung auf dem Adoratio-Kongress Mitte Juni in Altötting,  werden offenbar – sogar in manchen Bistumsblättern wie dem Paulinus in Trier – in der Schweigespirale verschlungen wie das Land Phantásien in Michael Endes Unendlicher Geschichte. Sie müssen „neuen“ Normalitäten Platz machen: Hält man sich nicht daran, gerät man selbst in Gefahr in dieser Schweigespirale zu verschwinden.

Was ist normal?

Was ist also normal? Wer weiß es? Bischöfe? Wissenschaftler oder hat es jeder schon im Urin? Eng mit der Frage Was ist Wahrheit, hängt die Frage Was ist normal zusammen. Diese Frage darf man sich nicht ersparen, gerade angesichts der Möglichkeiten, die der Fall sein können. Fangen wir da an, wo man sich noch einig ist, was normal ist: Verkehrsregeln, Umgangsregeln, Rechte, die man hat, Pflichten, die zu erfüllen sind, jede Tätigkeit, jeder Beruf kennt einen Normbereich, in dem sich Tätigkeiten oder berufliche Anforderungen bewegen. Je nach Schwere der Abweichung und Schuld des Abweichenden kann man sogar vor Gericht, in der Nervenklinik, beim Psychiater oder Psychotherapeuten landen. Allerdings kann man mit Normabweichungen „nach oben“ auch Nobel- oder Literaturpreisträger werden, Olympiasieger, Klassenbester oder einfach ein Original oder ein Kauz sein. Andererseits holt man Geisterfahrer aus dem Verkehr, Farbenblinde dürfen keine Elektriker werden und bei der Bundeswehr keine Fernmelder, Nichtschwimmer keine Schwimmlehrer und sprichwörtlich Böcke keine Gärtner. Über die Anforderungen an Politiker möchte ich mich nicht äußern.

Statistische, demoskopische, gefühlte Normen?

Allgemein sollte gelten: Soviel Freiheit wie möglich, soviel Regeln wie notwendig. Offensichtlich muss es eine Spannbreite des Normalen geben, an der Freiheit ihre Grenzen findet und Regeln ihre Notwendigkeit. Der Normbereich kann nicht die demoskopische, auch nicht die statistische Mitte sein. Dann hätte die normale Hand 5,ooo~1 Finger, weil es mehr Sechsfingrige als Vierfingrige gibt – Arbeiter im Sägewerk nicht mitgezählt. Jeder weiß: Eine menschliche Hand hat fünf Finger. Das genetische Programm von homo sapiens zielt Fünffingrigkeit an. Halten wir fest: Im Bereich des Lebendigen werden offensichtlich Zielgrößen angepeilt, die jedem Lebendigen schon wesentlich innewohnen und es als solches kenntlich machen: Hasen sind auf Geschwindigkeit ausgelegt und nicht auf Anschleichen wie die Katzen. Unter den heimischen Vögeln werden Stare offenbar in ihrem Schwarmverhalten im Windkanal „getestet“ und nicht wie Lerchen, die auf Sommerwiesen förmlich „stehen“.

Wie ist es mit Farbenblinden? Gibt es alternative Weisen des Sehens beim Menschen? Und wie ist es mit den Geschlechtern? Gibt es davon so viele, wie Gefühle dafür reklamiert werden? Ist es bei der sexuellen Liebe sinnvoll, sie auf bestimmte Geschlechterkonstellationen zu begrenzen? Können wir uns auf unsere Gefühle verlassen? Sie zum letzten Kriterium machen? Um uns herum haben wir handfeste Kriterien für unser Handeln: Die Umwelt, das Klima, die Ozeane; da gibt es jede Menge Normgrößen, die beachtet werden müssen damit es nicht zu Kipppunkten kommt, kurzum: Naturvorgaben erscheinen als Normenparameter.

Ins Korsett von Heteronormativität gezwungen?

Aber was ist, wenn diese Naturvorgaben in mich hineinreichen? Klar, ein großes Blutbild könnte die Ernährung bestimmen und Geschmack, Vorliebe und Gefühl auf die Plätze verweisen. Die Norm ist der Cholesterinspiegel – gutes und schlechtes Cholesterin. Er diktiert den Speiseplan. Bei der  Heteronormativität – den Begriff gibt es seit 1991 – findet nun offenbar aber eine Revolution gegen Naturvorgaben in mir  statt: Alle Macht den Gefühlen! Da wird sogar operativ angepasst, wenn der Körper nicht zum Gefühl passt. Bringen wir die Sache auf den Punkt: Was ist normal, wenn die Natur um uns herum vor meinem Innern nicht halt macht, wenn sie in mich hineinragt und mich gnadenlos in ein XX oder XY Korsett zwängt?

Ich will es machen wie Sokrates: Ich werde frag-würdige Fragen stellen, die sich jeder selber beantworten kann. Bei Sokrates steckte Klugheit dahinter, bei mir möglicherweise Feigheit oder einfach der Wunsch, unbehelligt vom „großen Bruder“ weiter vor mich hinschreiben zu können.

Dürfen wir alles, was wir können?

Am 5. 12. 2019 meldete, wie ich aus „Kirche und Leben“ erfuhr, die Pressestelle der DBK: Familien-Kommission der Bischofskonferenz berät für Synodalen Weg: Homosexualität ist normal, sagen Bischöfe und Wissenschaftler in Berlin.“ Das erscheint mir frag-würdig. Ich meine natürlich: Das ist eine Meldung, die ich weitergehender Fragen würdig finde.

  • Ist es normal, dass die homosexuelle Form des Liebens wesentlich immer unfruchtbar ist und nicht nur von Fall zu Fall, wie bei heterosexuellen Paaren? Handelt es sich vielleicht im ersten Fall um eine defekte Liebe und im zweiten Fall um eine Liebe mit Defekten? Übrigens sind alle Liebenden davon betroffen, selbst platonisch Liebende. Es gibt nämlich kein perfektes Menschsein. Das ist Alltagswissen.
  • Ist es normal, wenn man diesen Paaren trotzdem den menschlich verständlichen Kinderwunsch erfüllt, das Kind aber in der Petrischale gemacht und nicht in einem Mutterschoß gezeugt, und dann gegebenenfalls von einer Leihmutter ausgetragen wird? Sollte das nicht nachdenklich machen, wenn der „Ursprung der Welt“ – immerhin jedes Einzelnen von uns – nicht im Mutterschoß, sondern in einer Petrischale beginnt? Können wir ein Menschlein so „machen“, so über einen Anderen verfügen? Ist das für das Kind zumutbar, nur damit eine unspezifische Paarkonstellation glücklich wird? Dürfen wir alles was wir können?

Ursprung der Welt im Mutterschoß oder in der Petrischale?

  • Ist es normal und zumutbar, wenn in solchen Fällen das Naturrecht des Kindes auf einen Vater und eine Mutter willkürlich missachtet wird?
  • Ist es normal, dass man über prinzipielle Defekte – wie Unfruchtbarkeit – als vernachlässigbar hinwegsieht, während das Gegenteil Fruchtbarkeit durch Zweigeschlechtlichkeit, geradezu das unterscheidende Merkmal ist, weshalb man ab dem ersten Auftreten (immerhin schon seit über 600 Millionen Jahren) dieses Phänomen Sexualität nennt?
  • Ist es normal, wenn von manchen Personen trotz physiologischer Stimmigkeit, d. h. der unmittelbaren Reziprozität der heterosexuellen Organe, prinzipiell psychisch kein Reiz vom Gegengeschlechtlichen gespürt wird? Vorausgesetzt: Das geschlechtliche Auf-einander-zu beim Menschen ist eines von Leib und Geist!

Nur soziale Treue – aber sexuelle Freiheit?

  • Ist es normal, wenn die Liebesorgane bei gleichgeschlechtlichem Verkehr physiologisch nicht zueinanderpassen, auch die Funktionsabläufe nicht und die bei gleichgeschlechtlichem Verkehr gereizten Schleimhäute hochverletzlich sind? Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, um zu belegen, wie wenig da zusammenpasst.
  • Ist es normal,  wenn behauptet wird, zur homosexuellen Kultur passe nur soziale, nicht sexuelle Treue (Volker Beck), was dann aber nicht mehr Liebe genannt werden kann. Oder muss auch nach der Norm von Liebe gefragt werden?
  • Ist es normal, wenn Menschen meinen, im falschen Geschlechtskörper zu stecken und dann alles versucht wird, sogar operativ, den gewünschten Geschlechtskörper herzustellen, demgegenüber aber verboten werden soll, bloß die Orientierung gleichgeschlechtlichen Fühlens zu ändern, auch wenn dies ein gleichgeschlechtlich Fühlender aus freien Stücken ändern möchte und schon der Wunsch danach in jedem Fall als manipuliert abgetan wird?

Richtige Gefühle im falschen Körper?

  • Ist es normal, dass gleichgeschlechtlich Liebende als Risikopersonen bis 2017 nicht Blut spenden durften und danach nur unter besonderen Bedingungen?
  • Ist es normal, dass offenbar kein bei der oben genannten Kommission anwesender Humanmediziner mehr weiß, was der ehemalige Bonner Direktor des medizinischen Instituts der Universität August Wilhelm von Eiff noch wusste, immerhin der medizinische Sachverständige von Franz Böckle, einem der Väter der autonomen Moral, nämlich dass Sperma beim Analverkehr vom körpereigenen Immunsystem angegriffen wird, aber beim Vaginalverkehr nicht? Weshalb lädt man dann überhaupt Humanmediziner ein, wenn medizinisches Wissen offenbar nur eine marginale oder gar keine Rolle spielt?
  • Ist es normal, wenn von Eiffs qualitatives Urteil von damals als Mediziner, Homosexualität sei aus oben genannten Gründen contra naturam, mit einem Denkverbot belegt wird? Eine qualitative Unterscheidung von Spaemann als Philosoph, zwischen natürlich und naturwüchsig zu unterscheiden, kann hilfreich sein, den quantitativ forschenden Bonner Mediziner zu verstehen. Von Eiff und Spaemann waren keine Freunde, Böckle und von Eiff aber sehr wohl. Auf Farbenblindheit wie auch gleichgeschlechtliches Lieben trifft also offensichtlich Naturwüchsigkeit zu.

Naturwüchsige Realität und natürliche Wahrheit?

  • Ist es normal von Naturwissenschaftlern und Humanmedizinern, die empirisch und quantitativ forschen, zu erwarten, dass sie auch philosophisch kompetent sind, einen qualitativen Begriff des Normalen definieren zu können? Ist etwa Fallhäufigkeit und Signifikanz (wie hoch?) das Kriterium oder einfach das pure Faktum oder ist alles, was es gibt, einfach normal? Ist das Wort normal dann nicht überflüssig?
  • Ist es normal, dass ein Begriff, den man eigentlich aufgegeben bzw. in „Vielfalt“ aufgelöst hat und das geradezu feiert, aber ihn dann wieder verwendet, wenn es gerade passt?
  • Ist es normal, dass man sich von Demoskopen und Statistikern sagen lässt, was normal ist und sich von ihnen die roten Linien ziehen lässt und den Begriff erst nach dem Messen „entwickelt“, ohne vorher zu wissen was „normal“ bedeutet?
  • Ist es normal, dass sich mittlerweile immer mehr Theologen, Philosophen und leider auch Bischöfe Zeitgeist-Theoremen folgen, statt Empirie zur Kenntnis zu nehmen?  Wo sind sie, – die „neuen humanwissenschaftlichen Erkenntnisse“, die es im Kreuz haben, eine „neue Normalität zu begründen? Warum folgt man eher den Sex- und Machttheorien eines Michel Foucault, statt sich der knochennüchternen Rationalität eines Robert Spaemann auszusetzen.

Lebenswirklichkeiten contra Lebensordnungen

So weit die Fragen, die Sokrates auf dem Marktplatz von Athen gestellt hätte.

Ich wage nicht, Antworten zu geben, aus oben genannten Gründen. Der Grat zwischen Beurteilen und Verurteilen ist auf diesem Gebiet denkbar schmal. Nicht nur historisch – auch heute noch sind wir durch Unverständnis, Schuld, Unduldsamkeit, Ungeduld und Ungerechtigkeiten belastet. Dennoch darf auf die Kunst der Unterscheidung nicht verzichtet werden, wo Lebenswirklichkeiten auf Lebensordnungen prallen. Nur in totalitären Systemen darf man keine Fragen mehr stellen. Die behauptete „neue Normalität“ ist m. E. offensichtlich fragwürdig.

Eine nähere Bestimmung ist mir wichtig: Das Gegenteil von normal ist nicht notwendig krank, auch nicht einfach gestört. Wo wir von Defekten und Dysfunktionen sprechen, geht es um Phänomene, die in noch zu klärender Weise anders  sind. Auch das Originale sprengt die Norm, ebenso der Klassenbeste. Aber ist damit Vielfalt schon die Norm? Zumindest Begriffe wie „Heirat“ – in allen bisherigen Kulturen mit Heterosexualität verbunden – oder geschlechtsdifferente „Elternschaft“ können nicht gleichsinnig auf gleichgeschlechtlich Liebende übertragen werden.


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag

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