Seit meinen Kindertagen habe ich mich nicht mehr für den „Eurovision Song Contest“ interessiert. Mein Interesse erwachte, als die Medien mich darauf aufmerksam machten, die Gruppe „Lord of the Lost“ solle Deutschland im internationalen Sangeswettstreit vertreten. Das Bild der volksvertretenden Sangestruppe sprang mich an. Verhauene, zerstörte Gesichter. Brutal. Fratzenhaft. Grell. Geil. Böse. Wollen die nur spielen? Jedenfalls sind die jungen Männer, die auf den ersten Blick so aussehen, als müsste man die Frauen vor ihnen warnen und die Kinder vor ihnen verstecken, first choice des deutschen Fernsehvolks. Trendy auch der Auftritt: Als sich die Finalisten präsentierten, hüllten sich die jeweiligen Künstler in ihre Landesflagge ein. „Lord of the Lost“ machte da eine Ausnahme. Sie versammelten sich hinter der Regenbogenfahne.

„König der Loser“

Der Ausgang des Wettbewerbs tröstete mich. „Lord of the Lost“ belegte den letzten Platz. Deutschland wurde zu „Lord of the Loser“. Gesamteuropa scheint sich also noch nicht in Gänze vom gesunden Menschenverstand verabschiedet zu haben. Dennoch bleibt für mich die deutsche Frage. Es ist die Frage nach der kollektiven ästhetischen Geschmacksverirrung einer Fernsehnation, deren Ergötzen sich in keiner Weise mehr am Guten, Wahren, Schönen orientiert, sondern beklatschenswert findet, was böse, falsch und hässlich daherkommt. Schon klar: Auch hinter Rex Gildo, Roy Black und Roberto Blanco taten sich Krater auf. Aber vom Missfallen an einer verlogenen, falschen Glätte in die Zelebration der Abgründe zu verfallen und eine satanische Band vertretbar zu finden, das ist eine Art High End Stufe, die man kulturphilosophisch betrachten muss.

Charles Taylor bietet die Kategorie „soziales Vorstellungsschema“ an, um die „hochindividualistische, ikonoklastische, sexuell besessene und materialistische Mentalität“ (Carl R. Trueman) unserer Zeit zu verstehen. Taylor spricht vom Zeitalter des „expressiven Individualismus“, in dem gut nicht mehr das ist, was allgemein gut ist. Gut soll sein, was das sich selbst erschaffende individuelle Subjekt aus sich macht und freimütig – man könnte auch sagen schamlos – veröffentlicht.

Unter der Hand wechseln wir von Sein in Schein, von Charakter in Charakter-Darsteller, von Ikone in Stil-Ikone. In der „Kultur der Authentizität“ kann das Böse cool sein, weil das Coole nicht böse sein kann. Charles Taylor schreibt zur Kultur der Authentitzität:

„Damit meine ich die Auffassung des Lebens, … wonach jeder seine eigene Art hat, sein Menschsein in die Tat umzusetzen, und wonach es wichtig ist, den eigenen Stil zu finden und auszuleben, im Gegensatz zur Kapitulation vor der Konformität mit einem von außen – seitens der Gesellschaft, der vorigen Generation oder einer religiösen oder politischen Autorität – aufoktoyierten Modell.“


Bernhard Meuser
Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral

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