Helmut Müller ist an einem Glühweinstand nachdenklich geworden. Wie viele andere freut er sich jedes Jahr auf die Glühweinzeit und kommt nach gründlichem Nachdenken zu der Erkenntnis, dass die Glühweinzeit die gegenwärtig letzte Mutation der Weihnachtszeit sei. Eine kleine Aufklärung für Glühweintrinker, die nicht mehr den Grund dieser freudigen Wohltat kennen.
Vor neun Monaten ist Gott für gläubige Christen in der Liturgie Mensch geworden. Ganz frei, nicht weil er musste, sondern weil er wollte, oder wie bei jedem von uns – es einmal Zeit dafür war. Er hat die Zeit seiner Ankunft gewählt, wir konnten das jedenfalls nicht.
Er tat es aber nicht, ohne vorher zu fragen, ob er es im Mutterschoß einer Frau werden darf. Eine Frau aus Nazareth in Galiläa hat dazu explizit Ja gesagt. Für die Römer in jenem Land geschah das alles irgendwo am Ende der Welt. Wann immer genau es sich vor mehr als 2000 Jahren ereignet haben mag – die Gelehrten streiten darüber – wir feiern es heute wie alle Jahre wieder. An Weihnachten.
Die erste Ankunft – im Mutterschoß
Es muss für ihn – wie für jeden von uns – neun Monate lange eine schöne Zeit der Totalversorgung gewesen sein, der Geborgenheit, der Wärme. In seinem Fall – und wohl auch den meisten Fällen bei uns – war es eine Zeit der Liebe der Mutter zu ihrem werdenden Kind. Wir wissen nicht genau und nicht wie weit wir von der Gefühlswelt der Mutter abgeschirmt waren, von ihren emotionalen Höhen und Tiefen. Schließlich war es dann bei ihm, wie bei jedem von uns, so weit: Er erblickte das Licht der Welt – wie der Evangelist erzählt – oder berichtet er sogar? In dieser Erzählung jedenfalls blickte er nicht nur in die Augen einer Mutter und eines Vaters, sondern darüber hinaus in eine raue ungemütliche Welt, vielleicht in einen Schafstall oder eine Höhle.
Die erste Aussicht – ein Schafstall
Es war mit einem Male nicht mehr kuschelig dunkel und warm, sondern kalt und hell, nur die Liebe der Mutter war sicherlich noch dieselbe. Er wurde in eine Welt geboren, die – wie wir glauben – sein göttlicher Vater geschaffen hat. Theologen sagen es genauer: In der Dreifaltigkeit seines Wesens schuf Gott die Welt. Diese Welt war nicht fix und fertig. Nach dem Willen des Schöpfergottes ist der Mensch gewordene Gott, wie wir, in eine Welt geboren worden, die wir Menschen mitgestalten. Leider muss man es sagen, auch in eine Welt, die wir auch an vielen Ecken und Enden regelrecht zugerichtet haben.
Sie ist dadurch vielfach zu einem schlimmen Ort geworden. Der Sohn der Maria des Markusevangeliums, und das Fleisch gewordene Wort des Johannesevangeliums, der Menschensohn des Buches Daniels, ist in dieser Welt nicht etwa im Himmelbett oder durch einen Herzinfarkt wieder entschlafen, sondern unter furchtbaren Qualen am Kreuz gestorben.
Alles hat seine eigene Zeit
Ein Künstler hat einmal das Holz der Krippe mit jenem des Kreuzes verbunden. In dieser Vorweihnachtszeit denken wir aber an das Holz der Krippe, nicht an das Holz des Kreuzes, das bei uns das ganze Jahr über in jedem Zimmer hängt. Vor Weihnachten und an Weihnachten denken wir nicht an das Schlimme – dafür gibt es auch eine Zeit in der Liturgie – sondern an das Schöne, Hoffnungs- und Verheißungsvolle im Schlimmen. Letzteres ist uns vielfach hautnah, auch wenn es am anderen Ende der Welt geschieht und in den Medien davon die Rede ist, geht es uns nicht selten wahrhaftig unter die Haut.
Der Lebemeister aus Nazareth unter Schreibtischtätern
Nein, wir feiern jetzt das Heil, das vor neun Monaten eine Gestalt dieser Welt angenommen hat und heute in der Gestalt eines Kindes sichtbar geworden ist. Wir glauben hier an Rhein und Mosel, am anderen Ende der damaligen Welt, dass Er uns am Jordan und seinem Umland schließlich einen Umgang mit dieser Welt gelehrt und vorgelebt hat. Für Christen ist er unser Lebemeister (Meister Eckhart) geworden, unter vielen manchmal unsäglichen Lesemeistern und Schreibtischtätern. Auch wenn wir unser Leben trotz seiner Anweisungen vielfach nicht auf die Reihe kriegen und sogar anderes Leben zerstören oder erschweren – nach seiner Vorgabe sollten wir es leben.
Jedenfalls beginnt es mit einer (Vor-)Freude, die über das Christentum hinwegschwappt: Jeder Glühwein, der in den Tagen davor in geselliger Form getrunken worden ist, ist in weit entfernter Ableitung – das habe ich noch vom Mathematikunterricht behalten – ein Ausdruck dieser Freude. Und diese Freude sollten wir uns nicht nehmen lassen – in einem Dank für diese Menschwerdung Gottes mit aller Verheißung und mit Plätzchen und Geschenken. Und wie gesagt in ferner Ableitung auch mit Glühwein.
Dr. phil. Helmut Müller ,Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag, Link: https://www.fe-medien.de/hineingenommen-in-die-liebe