Wie geht es einem leidenschaftlichen Seelsorger, wenn er davon liest, dass immer mehr Menschen die Katholische Kirche verlassen? Bodo Windolf ist Pfarrer der Gemeinde Christus Erlöser in München-Neuperlach und über seinen engeren Wirkungskreis hinaus dafür bekannt, dass er in seiner Gemeinde neue Wege geht, um Menschen anzusprechen und für das Evangelium zu begeistern. Er hat eine klare Meinung zur Krise der Kirche und hält damit nicht hinter dem Berg. Lesen Sie seinen spannenden Beitrag!

Für die Kirche in Deutschland ist es die Horrorzahl des Jahres: annähernd 523.000 Getaufte verließen 2022 die katholische Kirche. Der Vorsitzende der DBK, Georg Bätzing, bezeichnete diese Zahl als alarmierend und kommentierte: „Wir müssen weiter konsequent handeln und die Menschen müssen erfahren, dass wir an ihrer Seite stehen und für sie da sind.“ Nun ja, was soll er auch sagen? Und dennoch fragt man sich, ob es noch hilfloser geht. Vielleicht wäre es besser, unsere Bischöfe würden sich bei der nächsten Horroraustrittszahlmeldung in Schweigen hüllen, anstatt sich weiter in ritualisierte Betroffenheitsfloskeln zu flüchten. Oder wie wäre es mit einem Satz wie diesem, dem Evangelium abgelauscht:

‚Wir, die Kirche, allen voran wir Bischöfe, müssen umkehren, Buße tun, beten, nicht ständig um die Kirche und ihr Ansehen kreisen, sondern viel intensiver Christus und den dreifaltigen Gott in die Mitte der Verkündigung und aller Reformbemühungen stellen?‘

Vordergründige und tiefergehende Beweggründe für Kirchenaustritte

Wenn man nach den Gründen der hochschnellenden Austrittszahlen fragt, wird man am Thema Missbrauch nicht vorbeikommen, aber auch auf die derzeit ungewohnt hohe Inflation verweisen, die die Bereitschaft erhöht, sich durch den Kirchenaustritt auch finanziell mehr Luft zu verschaffen. Doch die eigentlichen Gründe liegen tiefer. Die im Alltag gelebte Religiosität geht schon seit Jahrzehnten eklatant zurück. Während frühere Generationen vielfach noch ganz selbstverständlich im Rhythmus des Kirchenjahres lebten, spielt dieses heute so gut wie keine Rolle mehr. Weihnachten wird zwar noch gefeiert, aber in der Regel in einer aller religiösen Bedeutung entkleideten Form, auch deswegen, weil kaum mehr jemand weiß, was dieses Fest eigentlich bedeutet. Taufe, Erstkommunion, Firmung, Eheschließung und Beerdigung sind zwar, wenn auch mit deutlich rückläufiger Tendenz, immer noch bei einer größeren Zahl nachgefragt. Aber sie sind nicht mehr in eine kirchliche Glaubenspraxis eingebunden. Im Grunde sind es Lebens(wende)feiern mit einmaligem Eventcharakter, Teil einer ästhetischen Inszenierung des eigenen oder familiären Lebens.

Boom spiritueller Sinnsuche und Angebote

Auf der anderen Seite aber gibt es auch einen Boom (religiöser) Sinnsuche, ein Ausprobieren verschiedenster spiritueller Angebote, wobei keine Rolle spielt, aus welchen religiösen oder auch esoterischen Traditionen sie sich speisen. Dieser Boom geht fast gänzlich an den Kirchen vorbei. Es scheint, dass sie nicht bieten, was der postmoderne Sinnsucher von Religion und Glaube erwartet. Religionssoziologen beschreiben die Erwartung als „funktionales Eigeninteresse“, d.h. nachgefragt ist vor allem die Lebenshilfefunktion von Religion und Glaube. Die Frage an den jeweiligen Anbieter lautet: Wie hilft mir Religion, Glaube, Spiritualität in meiner jeweiligen Lebenssituation, in meinem Alltag und bei meiner Lebensbewältigung? Wie kann ich meinem Leben einen höheren Sinn geben, den ich aus dem Alltag nicht zu ziehen vermag?

Lösungsansätze

Was könnte die Kirche tun? Momentan sind, soweit ich sehe, drei Antworten im Angebot: 1. Anpassung; 2. Restauration; 3. Evangelisierung.

Der Synodale Weg der Anpassung

Zu 1.: Der Synodale Weg (SW) geht unübersehbar den Weg der Anpassung. Man sieht das Heil der Kirche nicht in einer entschiedenen Rückbesinnung auf das Evangelium, sondern in einer Angleichung an Standards der Moderne wie Demokratie und Gewaltenteilung, Geschlechtergerechtigkeit und weitgehende Übernahme der faktisch gelebten Sexualität. Diese Orientierung an Leitbildern, die bezüglich der ihnen innewohnenden Problematiken kaum reflektiert werden, wird unterfüttert durch die Orientierung an kirchenfremden Quellen: die Humanwissenschaften – die es in der Homogenität, die man behauptet, gar nicht gibt; die „Zeichen der Zeit“, denen, und zwar in der Lesart der Protagonisten des SWs, eine in der Kirchengeschichte nie dagewesene Offenbarungsqualität zugesprochen wird.

Dabei hat sich, was demokratische Verfahren betrifft, der SW selbst wahrhaftig nicht mit Ruhm bekleckert. Die Verweigerung geheimer Abstimmungen trotz entsprechender Anträge und die namentliche Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse haben einen psychologischen Druck ausgeübt, dem so mancher Bischof nicht gewachsen war. Auch die Wertung von Enthaltungen wie nicht abgegebene Stimmen war ein die eigenen Regeln konterkarierender Verfahrenstrick, damit am Ende auch wirklich das „richtige“ Ergebnis herauskommt. Mit demokratischer Ergebnisoffenheit hatte das alles nichts zu tun. Es tut mir sehr leid, es so formulieren zu müssen: Demokratie kann wohl jeder Kaninchenzüchterverein besser.

Auch das neue kirchliche Arbeitsrecht, das zentrale Anliegen des SWs aufnimmt und für kirchliche Angestellte, Mitarbeiter und Religionslehrer kurzerhand das 6. Gebot aufhebt, ist ein Werk reiner Anpassung. Von nun an bleiben „Beziehungsleben und Intimsphäre rechtlichen Bewertungen (durch den kirchlichen Arbeitgeber) entzogen“, auch dann, „wenn es öffentlich wahrnehmbar ist, grundlegende Werte der katholischen Kirche verletzt und dadurch deren Glaubwürdigkeit beeinträchtigt“. Übrigens sind Kleriker und Ordensangehörige von dieser neuen Regelung ausgenommen. Offensichtlich gelten hier in Zukunft – übrigens auch für normale Gläubige, die nicht kirchlich angestellt sind – unterschiedliche ethische Maßstäbe. Arbeitsrechtlich handelt es sich um eine klare Ungleichbehandlung und damit Diskriminierung, die im Klagefall sicher vor keinem weltlichen Arbeitsgericht Bestand hätte.

Etikettenschwindel, Illusion und Kirchenspaltung

Des Weiteren: Anstatt nach einer Gestalt kirchlicher Verwaltungsgerichtsbarkeit zu suchen, die das Bischofsamt und damit die sakramentale Struktur der Kirche nicht antastet, aber eine Appellationsinstanz auf ortskirchlicher Ebene wäre, die auch, nicht zuletzt durch Laien, Kontrolle darüber ausübt, ob Bischöfe und ihre Personaler ihren Pflichten nachkommen, versteift man sich auf einen weiteren Rat – als ob es deren nicht schon genug gäbe – einen „Synodalen Rat“. Mir ist schleierhaft, welche erneuernde Kraft man sich davon verspricht. Sinn ergibt dieser auch nur unter Voraussetzung eines Etikettenschwindels. Denn in Wahrheit plant man ein Entscheidungsgremium in Verbindung mit der Hilfskonstruktion einer „Selbstbindung“ der Bischöfe an die Entscheidungen des „Rats“ – und das trotz des mit höchster Verbindlichkeit ausgesprochenen Verbots aus Rom. Das und manches andere hat das Zeug zu einer Kirchenspaltung. Will man die nicht, arbeitet man hier (für viel Geld) an einer weiteren Illusion, die nur zu Frustration und weiterer enttäuschter Wut unter vielen Laien führen wird. Wahrscheinlich haben selten in der Kirchengeschichte so manche Bischöfe eine solch klägliche Figur abgegeben: von außen getrieben und irgendwie doch nicht von ihrer bischöflichen Macht ablassend.

Nach wie vor muss zu denken geben, dass die evangelische Kirche längst den Weg der Anpassung gegangen ist und alle deutsch-synodalen Reformwünsche seit Jahrzehnten realisiert hat, ohne dass man hier auf blühende Kirchenlandschaften stoßen würde. Immer wieder hört man, dieser Vergleich sei unzulässig, bleibt aber eine plausible Begründung schuldig. Jedenfalls ist es ein Weg der Selbstsäkularisierung (Wolfgang Huber), von dem nicht ersichtlich ist, dass er eine echte Kirchenreform bewirken könnte.

Ein wahrhaftiger Blick auf das II. Vaticanum

Zu 2. Es gibt eine kleine, aber nicht unbedeutende Minderheit, die alles Übel der momentanen Glaubens- und Kirchenkrise durch das II. Vaticanum und die Liturgiereform verursacht sieht, das Heil in der Pflege der tridentinischen Messe und in einem Zurück vor das letzte Konzil sucht. Ich selbst bin der Auffassung von Papst Benedikt, dass eine Messform, in der die Kirche über Jahrhunderte hinweg die Eucharistie gefeiert hat, nicht verboten werden darf und auch heute eine legitime Weise ist, die hl. Messe zu feiern. Aber ich erwarte von ihr nicht das Heil für die Kirche unserer Zeit. Ebenso ist es Verrat am Heiligen Geist, das letzte Konzil abzulehnen, das u.a. die Kluft zwischen letztlich allein handelnden und lehrenden Klerikern einerseits und hörenden und folgenden Laien andererseits aufgehoben hat, und zwar ganz in Übereinstimmung mit der hl. Schrift. Nicht die Klerikalisierung von Laien, wohl aber ein Ernstnehmen und Fördern ihrer priesterlich-prophetisch-königlichen Würde und Berufung in und für die Welt wäre Reform der Kirche ganz im Sinne des letzten Konzils.

Ein entschiedenes Zeugnis für Christus ist gefragt

Zu 3. Der Weg der Evangelisierung setzt nicht auf Volkskirche und kirchenpolitischen Einfluss der Kirche, sondern rechnet damit, dass die Kirche ärmer und machtloser wird und sich statt auf staatliches Wohlwollen und innerkirchliches Behördengehabe allein auf Jesus Christus stützt. Das Wort von Papst Paul VI. hat nichts an Aktualität verloren: Wir brauchen nicht in erster Linie Lehrer, sondern Zeugen. Diesen – und nicht blasiertem und routiniertem kirchlichen Betrieb wird auch der ein oder andere Mensch der Moderne Gehör und Glauben schenken. Man wird sich, um sich gegenseitig im Glauben zu stärken, in kleinen Gemeinschaften (Hauskirchen) zusammentun, um Gottes Wort zu teilen, gemeinsam zu beten, einander zu unterstützen. So wird man miteinander die „Freude am Herrn“ erfahren und am Sonntag die hl. Messe als „Gemeinschaft der Gemeinschaften“ feiern. Nicht Privilegien, sondern das entschiedene Zeugnis für Christus wird der Kirche Bestand verleihen, manche neugierig machen und auch anziehend wirken. Statt einer ausgelaugten Kirche der faulen Kompromisse und Halbheiten wird sie sicher kleiner, dafür aber geisterfüllter, profilierter, entschiedener, kraftvoller, persönlicher, sprachfähiger in Bezug auf den Glauben und nicht zuletzt freudvoller sein.

Selbstevangelisierung statt Selbstbewahrung

Dieser Weg der Evangelisierung muss beginnen mit einer „Selbstevangelisierung“, also mit persönlicher Umkehr, die allein einen Weg der Nachfolge Christi ermöglicht. Papst Franziskus sagt:

„Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient.“

Deutschland als Vordenker für die Weltkirche?

Zuletzt: Am 9. Juli schrieb Andreas Lesch, Chef vom Dienst bei der Verlagsgruppe Bistumspresse, in der Münchener Kirchenzeitung: „Reformbefürworter schmerzt es, dass der Vatikan Veränderungen hartnäckig ablehnt – was maßgeblich dazu beiträgt, dass die Austrittszahlen (…) deutlich steiler ansteigen als in der evangelischen (Kirche)“. Wie gut, einen Hauptschuldigen für die Misere in Deutschland gefunden zu haben: das reformresistente Rom, das einfach nicht auf uns Deutsche hören mag, die die Kirche der Zukunft doch schon längst vorgedacht haben. Wir kennen das ja: „Am deutschen Wesen …“ Ärgerlicher noch finde ich allerdings, wie hier (und allenthalben sonst) das Wort „Reformbefürworter“ für eine einzige, sich progressiv gebende theologische Richtung vereinnahmt wird. Es würde schon viel Gift aus den polarisierenden Auseinandersetzungen nehmen, wenn man zugestehen würde, dass auch die, die mit dem Synodalen Weg Probleme haben (nicht nur in Rom), ebenfalls Reformbefürworter sind. Denn es steht ja nicht in Frage, dass es Veränderungen geben muss, sondern welche; nicht ob die Kirche Reform braucht, sondern wie sie aussehen soll. Darüber fair zu streiten, könnte schon ein Teil der Reform sein.


Bodo Windolf
Jahrgang 1961, aufgewachsen in der Eifel, nach dem Musikstudium im Fach Violoncello Studium der Theologie in Heiligenkreuz (Österreich) und München, Priesterweihe 1994 für die Erzdiözese München und Freising, nach Kaplansjahren in Gauting, St. Benedikt und München, St. Margaret 13 Jahre als Pfarrer in Garching b. M., St. Severin, seit 2012 Pfarrer in der Pfarrei Christus Erlöser, München-Neuperlach


Beitragsfoto: Adobe Stock

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