„Was hat die Kirche in meinem Schlafzimmer zu suchen – im Wohnzimmer, in meiner Kindererziehung, den Hobbies, am Arbeitsplatz, in meiner Zeitplanung, in meinem Portemonnaie?“ Antwort: Nichts! Es sei denn, die Kirche vertritt dabei Jesus. Will Jesus tatsächlich in den letzten Winkel meines Lebens kommen? In seinem Beitrag „Jesus und die Irregulären“ lädt Bernhard Meuser ein, sich näher mit dem Thema zu befassen.

Seit Wochen geistert ein Terminus durch den katholischen Orbit, den wir näher untersuchen müssen. Es geht um die „Irregulären“, also um Menschen, die in Beziehungen leben, die nicht der Lehre der Kirche entsprechen. Schon der rasche Überblick zeigt, dass es recht viele sind:
Da sind Menschen, die in gleichgeschlechtlichen, polyamorösen Beziehungen oder in pansexuellen Konstellationen leben. Nehmen wir die hinzu, die sich darin eingerichtet haben, unverbindliche „Erfahrungen“ zu sammeln, die konditionale Liebesverhältnisse pflegen (auf Zeit, ohne Kinder, solange die Gefühle reichen…), die Tinder oder Grindr abonniert haben, die in On-Off-Beziehungen und verbrauchenden Relationen leben, die geschieden und wiederverheiratet sind, nochmal geschieden und wieder auf der Piste sind, – ihre Kinder im Schlepptau. Und ziehen wir den Kreis ruhig noch etwas weiter; nehmen wir die hinzu, die sich sexuelle Dienstleistungen erkaufen, sich jenseits ihrer Ehen digital oder analog bedienen und nur scheinbar bereichern. Im nächsten Wendekreis sind wir dann bei allen, die sich in Lebenslügen bürgerlich eingerichtet haben, die Liebe simulieren, aber ihrem Ehepartner die Pest an den Hals wünschen, die ihre Kinder alleine und die Gesellschaft dem Teufel überlassen.
Dann wird uns vielleicht zum Bewusstsein kommen, dass wir selbst einmal „irregulär“ waren oder es noch immer sind oder jederzeit auch werden können. Besser, man führt den Film unseres Lebens, den Film unserer Beschämungen und Tiefpunkte, nicht öffentlich vor. 1 Joh 1,8 ist allen Menschen ins Stammbuch geschrieben:

„Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst in die Irre und die Wahrheit ist nicht in uns.“

Wie geht man mit Irregulären um?

Die Frage, wie man mit „Irregulären“ umgeht, ist also im Kern die Frage: Wie gehe ich mit mir selbst um, der ich so häufig oder sogar permanent danebenliege. Dazu gibt es einen guten Rat von der hl. Teresa von Avila:

„Wer das Gebet übt, bleibt nicht lange in der Sünde. Denn entweder wird er das Gebet oder die Sünde lassen, weil Gebet und Sünde nicht nebeneinander bestehen können.“

Diese reziproke Erfahrung hat wohl jeder schon einmal gemacht, der sich um ein geistliches Leben bemüht. Der Pegelstand unserer Sünden ist so niedrig, wie der Pegelstand unserer Gebete hoch ist. Und wenn ich gar nicht mehr beten mag oder kann, liegt es in den meisten Fällen daran, dass ich mich krampfhaft an meinem Groll, meiner Missgunst, meiner Unbarmherzigkeit oder an sonst einem Zustand festkralle, mit dem ich mich nicht in die Nähe des lebendigen Gottes traue.

Wenn heute eines meiner Kinder zu mir käme und mir seine „irregulären“ Lebensumstände mitteilen würde, mir gar den gleichgeschlechtlichen Menschen seines Herzens vorstellen würde, würde ich hoffentlich zum Rat einer anderen großen Heiligen greifen, nämlich zur hl. Mutter Teresa von Kalkutta:

„Wenn du Menschen beurteilst, hast du keine Zeit sie zu lieben.“

Ich würde hoffentlich lange und geduldig zuhören und dann die beiden Teresas in einer einzigen Frage kombinieren: „Bist du im Gebet? Seid ihr im Gebet?“. Es gibt kein anderes Medium der Objektivität als das Gebet; es befreit uns aus der Richterrolle, nimmt uns den törichten Hochmut, bewahrt uns vor falscher Rede, vor der „Leichtfertigkeit des religiösen Urteilens und (der) Verwahrlosung des religiösen Sprechens.“ (Romano Guardini). Ich darf andere Menschen nicht verurteilen; ich würde mich zum Gott über sie machen. Ich darf allerdings fragen: „Betest du noch? Stellst du dein Leben in das Licht Gottes? Oder lebst du unter einer geschlossenen Wolkendecke?“ Trauen wir Gott noch zu, dass er sich im Herzen derer meldet, die im Gebet sind? Oder sind wir schon spirituelle Atheisten, die sich über ihr Plappern gegen die Einsprüche Gottes abschotten? Und wenn mein Kind sich von mir verabschiedet hätte, würde ich es in allen meinen Gebeten segnen.

Die Falle hinter dem kasuistischen Denken

Mir wird immer klarer, wie recht Papst Franziskus hat, wenn er die Christen an das Grundaxiom der Barmherzigkeit und die Logik der vorurteilslosen Annahme aller Menschen erinnern, in welchen Sackgassen sie immer stecken mögen: „Wir müssen den Schmerz des Scheiterns spüren, die Personen begleiten, die das Scheitern der eigenen Liebe erlebt haben, aber sie nicht verurteilen. … Hinter der Spitzfindigkeit, hinter dem kasuistischen Denken verbirgt sich immer eine Falle. Immer! Gegen die Menschen, gegen uns und gegen Gott.Im Urteil über den Anderen steckt stets ein fataler ontologischer Bannspruch: Du bist … Du bist … Du bist! Du bist einer von denen. Du bis es nicht wert. Du bist auf der falschen Seite. Du gehörst nicht zu uns. Gott könnte aber zu jedem Menschen sagen: „Du gehörst nicht zu uns!“ Nun schickt er aber seinen Sohn. Seit dieser göttlichen Trendwende ist das Christentum ein Weg für alle, eine einzigartige Ermöglichung, eine Schneise ins Gute, eine Direktverbindung in die Seligkeit, eine Aufsprengung von Himmel. Der italienischen Schauspielerin Claudia Koll schleicht noch immer der zweifelhafte Ruhm einer Pornodarstellerin nach, auch wenn sie nach einem „schwarzen Tunnel schrecklicher innerer Erlebnisse“ heute eine neue Identität in Christus hat und Menschen zum katholischen Glauben führt; sie fragt mit Recht: „Wie kommt es, dass du mich nicht danach beurteilst, wer ich nun bin? Nun habe ich das Gebet und die tägliche Eucharistie. Darin ereignet sich meine Verwandlung, die sich täglich, ein Schritt nach dem anderen vollzieht.“

Vom Wert der Freundschaft

Das wahrscheinlich beste Buch aus der Realität des Irregulären stammt von Daniel C. Mattson: „Warum ich mich nicht als schwul bezeichne – Wie ich meine sexuelle Identität entdeckte“; eingeleitet übrigens mit einem empathischen Vorwort von Gerhard Ludwig Müller. In diesem Buch gibt es zwei Stellen, die mich tief berührt haben. Da gibt es ein Kapitel mit der Überschrift „Das Geschenk der Einsamkeit“. Einsamkeit ist das größte Leid vieler Betroffener, und Erlösung aus falschen Versuchen der Einsamkeit zu entfliehen, fand Mattson in einem Notat von Henri Nouwen (der sich offen zu seiner Neigung bekannte):

„Wir lassen außer acht, was wir schon längst intuitiv wissen, dass keine Liebe oder Freundschaft, keine innige Umarmung und kein zärtlicher Kuss, keine Kommune und kein Kollektiv, kein Mann und keine Frau je imstande sein werden, unser Verlangen nach Erlösung aus unserer Einsamkeit zu stillen. Dieser Sachverhalt ist so umwerfend und schmerzlich, dass wir eher geneigt sind uns etwas vorzugaukeln, als uns unserer Lebenswirklichkeit zu stellen. So hoffen wir denn weiter, dass wir eines Tages den Mann finden, der wirklich versteht, was in uns vorgeht, die Frau, die den Frieden in unser ruheloses Leben bringt, die Arbeit, bei der wir unsere Fähigkeiten voll entfalten können, das Buch, das alles erklärt, und den Ort, an dem wir uns zuhause fühlen.“

Das zweite Zitat, das mich berührte, betrifft eine Lebensphase, in der Mattson in einer Beziehung mit Jason war, und von der er bekannte: „Wir lebten außerhalb des Plans, den Gott für die menschliche Sexualität vorgesehen hat – das weiß ich jetzt.“ Dennoch war diese Freundschaft für Mattson eine wahre Schule der Liebe, ohne die er nicht weitergekommen wäre: „In dieser Zeit der selbstlosen Liebe liebte mich Jason so sehr, dass er für seinen Freund auf seine eigenen Hoffnungen und Träume verzichtete. Eine größere Liebe kann man nicht finden … Das werde ich niemals vergessen, und bis zu meinem Tod werde ich daran festhalten, dass Jason einer der besten und edelsten Menschen ist, die ich jemals gekannt habe.“ Soviel zu Christen, die meinen, sie wüssten schon, was Homosexualität ist.

Die Jesuslösung moralischer Konflikte

Schließlich sollte sich jeder Einzelne in der Kirche in Erinnerung rufen, wie Jesus mit der Ehebrecherin (Joh 8,1–11.) umging. Man könnte aus dieser interessanten Perikope geradezu eine „Jesuslösung moralischer Konflikte“ extrahieren; sie erfolgt in einem Viererschritt.

  1. Schreibe mit dem Finger in den Sand! Lasse dich nicht missbrauchen zum Partei-Ergreifen, zum Brandmarken, zu öffentlichen Verurteilungen und Diskriminierungen.
  2. Schlage der Menge die Steine aus der Hand! Erinnere alle an die Sündhaftigkeit aller. Lass sie verstehen, dass sie den Sündenbock vernichten wollten, der sie selbst entschulden sollte.
  3. Nimm in Barmherzigkeit an! Und mache einen Unterschied zwischen dem Gesetz und Gott, der größer ist als das Gesetz.
  4. Eröffne neues Leben! Entlasse in Frieden und erinnere diskret, dass Gottes Liebe annehmen heißt: sich den Einsprüchen Gottes öffnen und die Sünde verabschieden.

Die hl. Katharina von Siena hatte einmal eine Christusvision, in der sie die Worte vernahm:

„Selbst wenn du offenbaren Sünden und Fehlern begegnest, so löse die Rose aus den Dornen, indem du Mir jene Fehler in heiligem Mitleid darbringst. … keiner kann die Abgründe des Menschenherzens durchschauen … Alle sollt ihr Mitleid füreinander haben und das Richten Mir überlassen.”


Bernhard Meuser
Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral.


Foto: Quelle Midjourney

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