Ich muss mal austreten – Eine Meditation über das Elend des utopischen ChristentumsChristiane Florin war einmal die profilierteste linkskatholische Journalistin in Deutschland. Mitte Oktober 2022 trat sie nun aus der Katholischen Kirche aus. Seit 1996 arbeitete die sprachvirtuose Journalistin für den Rheinischen Merkur; danach war sie Redaktionsleiterin von „Christ und Welt“ bei der ZEIT, bevor sie zum Deutschlandfunk wechselte. In einem Pfarrheim in Sinzig erklärte sie den Leuten, man könne auch außerhalb der Kirche Gutes und Veränderung bewirken; wenn man feststelle, die Kirche sei „dysfunktional“ geworden, müsse man sich eben anderswo engagieren.Wer sich die von Jahr zu Jahr ätzenderen Texte von Florin anschaut, die sich zuletzt kaum mehr von der antiklerikalen Tonlage erprobter Kirchenfeinde und dem „Écrasez l’infâme!“ (Zermalmt …) Voltaires abhoben, entdeckt die Logik hinter Schmerz und Furor. Florins Kirche ist kein Jesusding. Ihre Kirche ist eine willkürliche Setzung dicker, alter weißer Männer. Das ist ihr Schlüssel, womit sie jedwedes Phänomen in der Kirche als üble Machenschaft und jede ihrer Äußerungen als Manifestation von Männerherrschaft diskreditieren kann. Alsbald ist sie bei einem Terrorsystem angekommen, das die rechtschaffene Frau nicht nur verlassen darf, sondern muss.Einer, der Grund gehabt hätte die Kirche zu verlassen, ist Bernhard Meuser; er hat Missbrauch in ihr erfahren, hat sich ihr aber erneut zugewandt, weil Jesus in ihr lebt – selten wie im Thronsaal von Versailles, öfter wie das Kind im dreckigen Stall zu Bethlehem. Meuser hat 2021 Christiane Florins letztes katholisches Buch ahnungsvoll rezensiert „Trotzdem! Wie ich versuche, katholisch zu bleiben“ (2020) – ein Buch „wie eine mit Ressentiment geladene Schrotflinte ist: ein Schuss und tausend Treffer.“Entstanden ist eine Meditation über das Elend des utopischen Christentums:

Zorninge Betroffenheit

Es ist sehr schwer, ein Buch zu rezensieren, das wie eine mit Ressentiment geladene Schrotflinte ist: ein Schuss und tausend Treffer. Dass Christiane Florin schreiben kann, weiß man; es ist nicht geringzuschätzen. Aber ihr dunkel-ätzender, überbordender Wortwitz, der minderen kirchlichen Federhaltern Inspiration für hundert Bücher geben könnte, korrespondiert leider mit Gedankenarmut und ruhiger Begründungsarbeit. „Trotzdem“ ist ein journalistisches Buch. Sehr vieles, was man vorher nicht wusste, weiß man auch dann nicht, wenn man es aus der Hand legt. Und selten legte ich ein Buch so traurig aus der Hand wie dieses.

Das liegt nicht an den 177 Seiten währenden Kaskade zorniger Betroffenheit, mit der Christiane Florin die katholische Kirche als „Realsatire“ aus „Moral, Männlichkeit und Machtanspruch“ zeichnet. Ich hätte ihr hie und da Material liefern, manches noch detaillierter beschreiben können – und zwar aus Erfahrungen, die ihr erspart blieben. Dass in mir ein schaler Geschmack zurückblieb, liegt auch nicht an der Härte, mit der Florin die Dinge beim Namen nennt. Die katholische Kirche ist in einem erbärmlicheren Zustand denn je. Falsche Rücksichten möchte ich auch nicht mehr nehmen. Wer etwas vorzubringen hat, der sage es – jetzt.

Der Missbrauch durch einige Kleriker und seine Verdrängung hängen der Kirche wie ein Mühlstein um den Hals. Es könnte sein, das von ihrer jahrtausendealten, Kultur, Menschen, Zeit und Kunst prägenden Präsenz in nicht einmal einer Generation alles verschluckt sein wird – abgetan wie der Müll vom Vortag. Das muss man beim Namen nennen. Christiane Florin tut es. Freilich mit dem fragwürdigen Eifer einer Autorin, die so lange auf dem dunklen Zusammenhang von klerikaler Macht, Homophobie und Missbrauch herumhackt, bis sich die Transsubstantiation ereignet und Opfer wie Täter in einem neuen Licht erscheinen: Täter ist die Männerkirche. Und das Opfer ist die Frau. Ach …

Das Drama des Buches

Dass ich das Buch bedenklich finde, liegt an Christiane Florin selbst und an dem scheinbar belanglosen Umstand, dass sie – wie sie im Buch schreibt – Kinder hat. 177 Seiten manchmal geradezu hassgetriebenes) Eindreschen auf eine Einrichtung, die „das Harmlose kriminalisiert und das Kriminelle verharmlost“ hat und ihr wie die Inkarnation alles Antimodernen, Rückständigen, Menschen- und Frauenfeindlichen erscheint, hätten durch 177 Seiten glühender  oder auch nur suchender Liebe zur Kirche aufgewogen werden müssen, läge ihr noch daran, ihren Kindern das Geschenk des Glaubens zu machen. Nun darf man ja, was die Kinder betrifft, der Barmherzigkeit Gottes keine Grenzen setzen. Dass Christiane Florin aber diese 177 Seiten – sagen wir fünfzig, oder zehn oder auch nur zwei Seiten – in sich nicht mehr gefunden hat, macht das eigentliche Drama ihres Buches aus. Sie bete, gesteht sie, beim Credo schon lange nicht mehr das „Ich glaube an die eine, heilige, katholische Kirche“ mit, wenn sie denn bei den seltener gewordenen Gottesdienstbesuchen noch dazu Gelegenheit hat.

„Ich wurde in ein katholisches Milieu hineingeboren: Taufe, Erstkommunion, Firmung, Jugendchor, Jugendgruppe, Kirchenmusik. Stünde ich heute – ohne diese Sozialisierung – vor der Frage, ob ich der Gemeinschaft beitreten wollte, wäre die Antwort ein Nein.“ Dieses „Nein“ am Ende ihres Buches hallte in mir lange nach, und es hallt noch immer. Ich denke an viele Laien und Priester, die es auch in dieser Kirche gibt, denen keine der Missetaten aus dem Florin’schen Beichtspiegel – nicht Missbrauch, nicht Korruption, nicht Homophobie, nicht Frauenverachtung – angelastet werden können, die auch nicht blind sind und die sich trotzdem einer Aufgabe unterziehen, der sich CF nicht mehr stellen mag: Um Jesu und der Menschen willen in den besten Ort der Welt einzuladen, den Leib Christi, die Kirche.

Heilige Hure

Schon Ambrosius nannte die Kirche eine „casta meretrix“, eine heilige Hure, die (wie Hans Urs von Balthasar es einmal drastisch formulierte) „hinter jedem Busch die Beine spreizt“ – und die doch die unerfindlich Auserwählte ist, erkauft durch das Blut dessen, der „für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (Römer 5, 8). Von ihr, der Kirche, und von ihm, ihrem Herrn, sagte einmal der andere große Theologe des letzten Jahrhunderts, Karl Rahner: „Er wird ihre Stirn küssen und sprechen: ,Meine Braut, heilige Kirche‘.“ Ich weiß nicht, wie man ohne diese paradoxale Spannung Kirchenkritik betreiben kann.

Wenn-dann statt Taufbund

Was Christiane Florin ihren Kindern – meinen Kindern, allen Kindern – zu bieten hat, ist ein konditionales Christentum, eines nach der Art Ernst Blochs – eines, das es noch gar nicht gibt und das der „schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch“ erst noch heraufführen müsste, damit in der Welt etwas entsteht, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Es ist ein Wenn-dann-Christentum, das da den Taufbund ersetzt. Wenn die Kirche nicht das und das … verändert, kann ich mich nicht mehr mit ihr identifizieren, tue ich keinen Handschlag mehr für sie, trete ich aus ihr aus, schalte ich auf Rebellion. Dann mache ich mit den wahren Christen die wahre Kirche auf.

Christiane Florin agiert im Modus schmerzgeborener Rebellion: „Ich bin zerrissen katholisch.“ Einmal trauert sie „der jovial verlogenen Volkskirche nicht nach“, dann wieder ist sie bei den Ergebnissen dieser Volkskirche, von denen Ratzinger schon 1958 nicht mehr wusste, ob die damals noch strömenden Massen noch Christen oder schon wieder Heiden sind. Christiane Florin: „Sie leben und lieben so plural, so gut und schlecht bürgerlich, so irdisch und höllisch wie der Rest der Gesellschaft. Sie ignorieren nachsichtig bis offensiv, was das katholische Lehramt ihnen Ungenießbares zu Verehrung und Vermehrung auftischt. Die wenigsten gehen regelmäßig in die Messe, viele haben regelmäßig Sex ohne Ehe.“

Lockere Evangelisierungs-Hipster

Ihr kämpferischer Enthusiasmus gilt den Randständigen, Teilidentifizierten, eben „Normalen“, die Papst Benedikt einst mit dem Spruch verschreckte: „Der Schaden der Kirche kommt nicht von den Gegnern, sondern von den lauen Christen.“ Sie sieht darin „Hochmut gegenüber der ergrauten Frauengemeinschaftsfunktionärin“ und singt das Hohelied auf die Pfarrfest-Waffelbäckerin. Bloß kommt davon kein Jugendlicher in die Kirche. Die sind bei den locker predigenden „Evangelisierungs-Hipstern“ schon eher zu finden, obwohl sie nicht einmal vor moralischen Anforderungen zurückschrecken, was sie höhnenswert findet: „Hey, Leute, der Katholizismus ist so geil, da gehört Sex zum Sakrament …“ Ja, wozu denn sonst?

Mit Huren vergeudet

Auch Katharina von Siena war zerrissen katholisch. Im vierzehnten Jahrhundert waren Kirche und Klerus in einem Zustand, der ihr Grund gab zur Ansage „Was Christus am Kreuz erwarb, wird mit Huren vergeudet!“ Die spätere Kirchenlehrerin schreckte nicht einmal davor zurück „den Herren der Kirche im Namen Gottes den Tod zu wünschen“. Was man bei ihr nicht findet, sind Spuren von Hymnik auf die bürgerliche Normalität oder auf ein Recht, sich vom Glutkern der Kirche zu entfernen. Auch Philipp Neri hatte allen Grund, das vom Sacco zerstörte Rom für einen Ausbund an Dekadenz und die Kirche für irreformabel zu halten. Für einige Kardinäle hatte Philipp nur satirische Travestien übrig. Dennoch: Im Herzen der Zerstörung, in verlassenen Kirchen und zugewachsenen Katakomben betete er das „Jesus, sei mir Jesus“. Er redete mit den Leuten, nahm sich der Straßenkinder an, gab Katechese und schaffte es mit einigen anderen charismatischen Gestalten, das von Gott, Glauben, Kirche abgefallene, allenfalls noch teilidentifizierte Rom wieder auf die Spur Gottes zu bringen. Von solcher Kirchenrettung ist Christiane Florin jedenfalls noch mindestens ein Buch weit entfernt. Man weiß ja nie, was noch kommt …

Bernhard Meuser
Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral.

Bildquelle (bearbeitet): Wikipedia


Christiane Florin: Trotzdem! Wie ich versuche, katholisch zu bleiben.
Kösel-Verlag, München, 2020,
176 Seiten, ISBN 978-3466372553, EUR 20,–

Diese Rezension erschien ursprünglich in der Tagespost.

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