Ob der Hirsch am Ende erlegt, verfehlt oder begnadigt wird? Bernhard Meuser kommentiert Zulehners und Stetter-Karps Aussagen über Papst Leo und deren Erwartungen an den neuen Papst. Sie wünschen eine “synodalere” Kirche – Meuser hält eine “Kirche der neuen Ernsthaftigkeit” dagegen.
Die Jagdsaison ist eröffnet
Papst Leo ist 100 Tage im Amt. Schon zieht sich Paul Michael Zulehner (86) den Jagdkittel an und schultert die Büchse. Zwar sei der neue Papst noch in der „Schonzeit“. Aber die Uhr tickt. Bald ist die Schonzeit vorüber. Dann werden die Hunde losgelassen. Dann wird scharf geschossen. Wie man weiß, dient die Schonzeit dem Tierschutz. Sie soll verhindern, dass den pflegebedürftigen Jungtieren vor der Zeit das Elterntier genommen wird. Übertragen auf die Kirche, soll die pontifikale Schonzeit wohl verhindern, dass den Kleinen und Unmündigen, den „Anawim“ – so nannte man im Alten Testament die Armen, Schwachen und Bedrohten – vor der Zeit der Vater weggeschossen wird.
Für den verstorbenen Papst Franziskus hegt Zulehner eine Art verdrossene Sympathie. Der umarmte und verdrießte, weckte liberale Kirchenträume und zerstörte sie zwei Tage später wieder. Der Hoffnungsträger blieb bis zu seinem Tod im Ungefähren und machte sich dadurch nicht recht angreifbar: „Papst Franziskus war ein Rohjuwel und Papst Leo muss jetzt der Juwelier sein.“ Die Sympathieressourcen sind aufgebraucht. Der „Juwelier“ muss jetzt liefern! Noch hat Leo alle Chancen, es richtig zu machen. Zulehner nennt die Kriterien, die den stillen Papst aus Amerika aus der Schusslinie bringen: „Kantige Entscheidungen“ erwartet der Wiener Theologe. Falls Papst Leo an einer „synodaleren Kirche“ läge, werde er „Entscheidungen treffen“ müssen. Betrachten wir drei Begriffe von Zulehner näherhin:
Mach mal, Papst!
1.: „Kantig…“. Was heißt das? Soll der Papst mal richtig den Papst rauskehren? Möchte Zulehner das Papstamt aufwerten? Für Papalismus ist Paul Michael Zulehner eigentlich nicht bekannt. Eher liegt ihm an Demokratie in der Kirche und an der „praktischen Beteiligung des Volkes Gottes“. Das Kantige, wie es Zulehner gefallen würde, wäre also eher eine Art päpstlicher Gewaltstreich zur Einführung parlamentarischer Verhältnisse, – mit anderen Worten: etwas Revolutionäres vor dem Rückzug ins Präsidiale, ein absolutistischer Akt der Selbstabschaffung. Einmal darf der Papst noch Gott spielen, ab dann herrscht ekklesiologischer Deismus.
2.: „Entscheidungen …“: Hier trifft sich Zulehner mit einer vertrauten Kollegin im Jagdverband, der ZdK-Vorsitzenden Irme Stetter-Karp, die auch schon das Ende der Schonzeit herbeisehnt. Wie nicht anders zu erwarten, hat sie bereits klar formuliert, was sie – hopp oder topp – von Leo erwartet: „Gemeinsam beraten und entscheiden ist der Weg der katholischen Kirche im 21. Jahrhundert.“ Mit monomanischer Intensität besteht sie auf dem „und“; sie möchte die Kirche nicht eher satisfaktioniert sehen, ehe nicht die Frauen und andere Nichtkleriker m/w/d neben den Bischöfen an den Schalthebeln der Kirche sitzen. Obwohl das Abschlussdokument der Weltsynode eindeutig den Unterschied von „decision making“ und „decision taking“ herausgestellt hat, möchte sie unbedingt „taken“, also etwa darüber mitentscheiden, ob und wie die Moraltheologie in der Kirche umgeschrieben wird oder welche Personen demnächst geweiht werden. Für das „decision making“ – also für das gemeinsame Hören aller Gläubigen auf die Stimme des Heiligen Geistes, das gemeinsame Nachdenken, die Wertschätzung auch der Kleinen und Unmündigen im Reich Gottes – hat Papst Franziskus immer geworben. Ihm lag daran, möglichst viele Gläubige partizipativ in die Wesensvollzüge der Kirche einzubeziehen, während er gleichzeitig – durchaus kantig, Herr Zulehner! – die apostolisch-sakramentale Struktur der Kirche verteidigte und dem Papst im Kontext der Bischöfe das „decision taking“ zusprach, wie es seit der Apostelgeschichte Orthopraxis der Kirche war und sein wird, so lange sie auf dem „Fundament der Apostel“ (Eph 2,20) gebaut ist.
3.: Eine „synodalere Kirche“: Das Wort „synodal“ kommt aus dem Altgriechischen, ist ein Kompositum aus σύν und ´οδος, was simpel „gemeinsamer Weg“ bedeutet. Den Komparativ von „synodal“ – gemeinsamerer (?) – gibt es im Deutschen nicht, aber man kann sich schon denken, was gemeint ist: eine Kirche, in der es noch mehr Gemeinschaft gibt als zuletzt. Dass Papst Leo daran nicht interessiert sein könnte, ist abstrus. Die Frage ist nur, wie stellt man diese größere Gemeinschaft her? Und inwieweit ist es der Job des Papstes, sie zu beschleunigen, zu stimulieren, sie strukturell zu ermöglichen? Es bieten sich zwei Modelle an, die sich gerade hart im Raum stoßen: a) eine partizipative Kirche aus verteilter Macht; b) eine partizipative Kirche aus Jüngerschaft.
Eine partizipative Kirche aus verteilter Macht
Zweifellos ist eine Kirche, in der sich 95 % der nominellen Mitglieder nicht an ihr beteiligen oder nur höchst selektiv von ihren „Angeboten“ Gebrauch machen, weder eine synodale Kirche noch überhaupt „Kirche“, die den Namen verdient. Das Wort Kirche kommt nämlich von „κυριακή“, was soviel bedeutet wie „dem Herrn zugehörig“. Die Interpretation dieser evidenten Nichtzugehörigkeit lautet in diesem Modell: Die 95 % (darunter 100 % Frauen) fühlen sich nicht zugehörig, weil sie nichts zu sagen haben. Das Heilmittel besteht in der Herstellung von universellem Sagenhaben durch die Sagenhaber. Die Sagenhaber sind die Kleriker und diejenigen, die sie in Ermangelung derselben substituieren: die angestellten Funktionäre. Sie betreuen die Community der Zugehörigen und leiden unter der kalten Schulter derer, die noch auf dem Papier dazuzählen, aber dem System konsumtiv die kalte Schulter zeigen. Der Gedanke ist: Wenn sie mal in den Genuss der Angebote und ins Mitmachen kämen, würden sie schon Geschmack an der Sache finden! Firmlinge aufgepasst!
Daraus resultiert eine Kirche der zielgruppengerechten Angebote, der vielfältigen Mitmachgelegenheiten, des optimierten Kirchenmarketings, der summenden Räte, brummenden Gremien, wichtigen Ausschüsse, des permanenten Geredes, der Resolutionen und Forderungen, – ein mühsam anzuschiebendes Perpetuum, das es in Wahrheit gar nicht gibt, sonst würde die Kirche ja auch heute schon blühen und die Gemeinden vor Beteiligung platzen. Die Realität der „Betreuungskirche“, – das ist der exakte Begriff für dieses Kirchenmodell – ist eine Einladung ins Leere. Es gibt in den Atomen der universalen Kirche, den Gemeinden, nicht viel zu entscheiden, es sei denn, man rechne die Auseinandersetzung über den Blumenschmuck an Ostern und den Würstchentyp beim Pfarrfest schon unter die partizipativen Höhepunkte des Kircheseins. Im normalen Pfarrgemeinderat – es gibt rühmliche Ausnahmen – fehlt den neuen Frommen das Steile und Anfordernde des Evangeliums. Die Jungen fühlen sich fehl am Platz, weil sie generell „Vereine“ mit älteren Honoratioren scheuen. Die Berufstätigen und Familienmenschen haben andere Sorgen und die Rentner befürchten, dass sie demnächst wieder vom Pfarrer angehauen werden: „Einer muss doch in den Dekanatsrat!“ Dort gibt es – bei Licht betrachtet – noch weniger realen Raum für Entscheidungen, dafür noch mehr billige Gemeinplätze, die zu fordern nichts kostet: „Der Zölibat muss weg!“ Die versammelte Machtlosigkeit des Gremialismus ist in Wahrheit ein höchst reaktionäres, pyramidal-autoritäres Modell. Das scheinbar Progressive mündet regelmäßig in eine nach oben durchgereichte Unzufriedenheit: Der Pfarrer sollte mal! Der Bischof sollte mal! Der Papst sollte mal! Die Summe von „Wir sind Kirche“ ist der gerechtfertigte Laie und der ignorante Papst. Der sollte mal. Und tut nicht.
Das Modell einer „partizipativen Kirche aus verteilter Macht“ produziert noch einen weiteren Verdrängungsmechanismus: Er spaltet die „Betreuer“, nämlich die Kleriker und die, die von ihnen gerufen wurden, ihnen bei ihrer Mission zu helfen. Die Erfolglosigkeit der Betreuungskirche ruft nach Schuldigen. Einer schiebt es auf den anderen. Das berufsständische Ressentiment bestimmter akademischer Kreise von Laientheologen gegen den (dazu noch männlichen) Priester treibt gerade die schönsten Blüten, deren erste auf dem deutschen „Synodalen Weg“ ins Auge fiel. „Brauchen wir noch den ordinierten Priester?“ wurde dort allen Ernstes gefragt. Hinter den Schleiern rhetorischer Beschwichtigung schimmerte das „Eigentlich nicht“ durch. Seither arbeitet man an allen Ecken und Enden an einer Kirche, in der das Sakramentale heruntergefahren wird, bis die Leute gar nicht mehr merken, dass ihnen ein eucharistisches Fake vorgeführt wird. Natürlich könnte der Papst mal endlich dafür sorgen, dass wieder etwas los ist am Altar. Irme Stetter-Karp: „Wir erwarten innerkirchlich ein straffes Tempo bezüglich des Abbaus von Klerikalismus und ein Ende der Diskriminierung von Frauen bei den Weiheämtern.“
Das Kämpfen-wir-um-die-Macht-in-der-Kirche-Modell, das Paul Michael Zulehner mit Irme Stetter-Karp verbindet, gibt es seit 50 Jahren; es fehlt nur noch das Eingeständnis ihres Scheiterns. Dieses Modell hatte keine Mission als die narzisstische ekklesiale Selbsterhaltung. Die Sehnsucht der Menschen ist aber eine selbstvergessene, dienende Kirche, in der die Herrlichkeit des Herrn aufgeht.
Eine partizipative Kirche aus Jüngerschaft
Gibt es eine Kirche, die nicht um sich selbst, sondern um den Herrn kreist? Eine Kirche, in der es Intensität von Christsein, Entschiedenheit zur Nachfolge Christi als Normalzustand, Anbetung und Lobpreis, Feuer der Liebe zu Gott und den Menschen, Aufmerksamkeit für die Armen, dazu missionarische Ausstrahlung und spürbares Wachstum gibt – ist eine solche Kirche denkbar? Gibt es diese Kirche bereits? Ja, es gibt sie. Kann besichtigt werden.
Die Kirche aus Jüngerschaft ist biblisch vorgeprägt in der Weise, in der Christus Menschen in persönliche Nähe zu sich gerufen hat. Es sind Menschen, die sich im Freundeskreis um den Herrn herum versammeln, um sich einer Schulung in Dingen zu unterziehen, die „zu wunderbar … für mich“ sind, die sich ausbilden lassen in „Wissen, (das) zu hoch (ist), ich kann es nicht begreifen“ (Ps 139,6) Diese geistliche Kirche, die gerade an vielen Orten – nicht nur in euphorischen Cliquen, charismatischen Ghettos oder in französischen oder englischen Elitegemeinden – aus dem Erdreich kommt, ist keine konfliktfreie Schönwetterzone, sondern eine Kirche der neuen Ernsthaftigkeit, in der die kontemplative Wahrnehmung der realen Gegenwart Gottes vor dem Aktionismus rangiert. Es entstehen Räume, in denen sich die ruhige Treue der Alten mit der Suche junger Menschen verbindet. Ihre spürbar höhere Betriebstemperatur kommt aus dem Gebet. Mit-Sprache ereignet sich im Raum eines sprechenden Gottes. „Jetzt aber seid ihr, die ihr einst in der Ferne wart, in Christus Jesus, nämlich durch sein Blut, in die Nähe gekommen.“ (Eph 2,13)
Diese Kirche braucht keine „gestaltete Mitte“; sie hat den Altar, damit einen eucharistischen Kern: Sie lebt aus der Selbstverteilung des Herrn. Deshalb ist der Priester in ihr gesucht und gern gesehen, – freilich, sofern ihn das reale Leben mit dem Herrn in die Schule der Demut genommen hat, die es braucht, um die Geschenke Christi zu verteilen und die Kinder Gottes mit dem zu nähren, was alleine satt macht.
Auch hier geht es um die noch „synodalere Kirche“, die Zulehner vom Papst erwartet und von dort nie bekommen wird. Sie wird nicht von oben herein gereicht durch Installation von neu verteilter Macht. Sie ereignet sich viel basaler, – von unten, in der Gruppendynamik des Emmausweges, auf dem sich in der geteilten Ratlosigkeit der Jünger die Lichtung Gottes und die Vollmacht Jesu ereignet. Zugleich kommt die „Kyriake“ von weiter oben her als vom Vatikan; sie geht auf zwischen Menschen, die beim Herrn sind und im Herrn ihre Schwestern und Brüder erkennen. In der Kirche der Jüngerschaft herrscht Ehrfurcht vor dem Wort Gottes. Hier ist Platz für die „Lehre der Kirche“, in der sich das Licht des Geistes versammelt, das über die Jahrhunderte die Kirche immer tiefer in die Wahrheit eingeführt hat. Hier ist auch Platz für die integrale Rolle, die dem Papst zukommt: der Einheit zu dienen; dem „armen Arbeiter im Weinberg des Herrn“ (Papst Benedikt) wird aufgelastet, der Diener der Diener Gottes zu sein. Er soll die Wölfe vertreiben, der Zerstreuung wehren und in die Einheit sammeln.
Möge es dem rüstigen Prof. Zulehner ergehen wie weiland dem Herrn Baron, der in den Wienerwald aufbrach, um den Hirschen zu erlegen. Er legt die Büchse an und schießt daneben. Zu seinen Jagdgenossen gewandt, fragt er: “Habe ich gefehlt?” Peinliches Schweigen in der Runde. Bis einer sagt: “Herr Baron hatten entschieden, den Hirschen zu begnadigen.”
Bernhard Meuser
Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral. Bernhard Meuser ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.
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