Wie und was aus unserer Lebensgeschichte im Diesseits und was von ihr im Jenseits abgebildet wird, fragt sich Helmut Müller beispielhaft an (s)einem tot geborenen Kind und dem Leben eines 98 Jahre alt gewordenen Menschen. Am Hochfest Allerseelen denken Christen an ihre lieben Verstorbenen.

Trauer und Hoffnung

Was man unter dem Fest Allerseelen versteht, kann man bei Wikipedia und sonstwo gut nachlesen. Deshalb möchte ich meine Erinnerung an zwei Verstorbene wiedergeben, die man nirgendwo nachlesen kann. Diese Beispiele zeigen aber, wie unterschiedlich „Seelen“ im Hier und Jetzt sich selbst “erleben” und wir sie erleben können. Die Seelen, die das Diesseits verlassen haben, vermuten wir im Jenseits, woran wir uns nicht nur am 2. November jeden Jahres erinnern. Wir, die wir uns noch in der ecclesia militans (der streitenden Kirche) befinden, fragen uns, wie es ihnen wohl in der ecclesia patiens (….der leidenden) oder etwa in der ecclesia triumphans (….der triumphierenden) ergeht oder wie wir uns ihr Ergehen darin vorstellen. Auch da kann man Näheres leicht in Wikipedia nachlesen. Diese Begriffe werden oft im Kontext der Lehre der römisch-katholischen Kirche über die Gemeinschaft der Heiligen und der Lehre von den letzten Dingen gebraucht. Obwohl Christen durch den Tod auf natürliche Weise voneinander getrennt sind, gehören sie der einen Kirche an.

Ich will aber nun an den Geschichten zweier Seelen ein Nachdenken eröffnen, das betroffen macht, aber auch Hoffnung weckt und auf Paulus verweisen, der schreibt:

Wir wollen euch aber, Brüder und Schwestern, nicht im Ungewissen lassen über die, die da schlafen, damit ihr nicht traurig seid wie die andern, die keine Hoffnung haben“ (1.Thessalonicher 4,13). 

Im Hier und Jetzt, aber wie im Jenseits?

Die Geschichte der ersten Seele ist sehr kurz. Sie hat nicht einmal das Licht dieser Welt erblickt, sondern das Hier und Jetzt neun Monate lang im Schoß seiner Mutter verbracht. Die Geschichte der anderen Seele ist vor ein paar Wochen zu Ende gegangen und hat fast 98 Jahre lang gedauert.

Bei der ersten Geschichte handelt es sich um unser drittes Kind in der Geschwisterreihe von fünf Kindern. Ich werde jedes Mal – wenn ich mich mit Familie vorstelle – vor die Frage gestellt: Nennst du vier oder fünf Kinder? Fünf Kinder ist richtig. Vier Kinder erübrigen aber eine längere Vorstellung. Bei fünf Kindern würde die Vorstellung länger werden, was ich jetzt aber nachliefere.   

Das dritte Kind der Geschwisterreihe heißt Wolfgang und wäre vor wenigen Wochen 27 Jahre alt geworden. Einen Tag nach seiner Geburt und am Tag seines Todes habe ich eine Art Abschiedsbrief geschrieben, den er jetzt im Himmel – wie immer man sich den Himmel und ihn vorstellt – lesen kann. Ich habe ihn geschrieben, eigentlich für mich und meine Frau, um mit dem Schock und dem Leid fertig zu werden, das sein für uns im Licht der Welt Erscheinen mit sich brachte, da er selbst nicht das Licht der Welt erblickte und damit auch nicht uns als Mama und Papa. Ich schrieb also vor siebenundzwanzig Jahren:

Wolfgang *24.9.98† – Der Welt nicht geschenkt, nur gezeigt

Gestern kam unser Sohn Wolfgang zur Welt. Nach dem Psalmisten „währt unser Leben 70 Jahre, wenn es hoch kommt 80„. Der kleine Wolfgang starb schon bevor er geboren wurde. Ein Bild, das ich nie vergessen werde, hat sich mir eingeprägt: Mit weit ausgebreiteten Armen lag er auf dem Boden unseres Wohnzimmers und zwei Notärzte der Bundeswehr kämpften eine dreiviertel Stunde lang um sein kleines Leben. Irgendwann kurz vor der Geburt hatte er aufgehört, darum zu ringen. Seine Mama jedenfalls hatte zuletzt nicht mehr gespürt, dass er mitkämpfte und ans Licht dieser Welt wollte. Seinen Bruder (2 Jahre alt) hatte noch drei Tage vorher die Frage beschäftigt, dass „das Baby ja gar nichts sieht.“ Und seine Schwester (4 Jahre alt) wunderte sich nach der Geburt, dass der kleine Wolfgang gar nicht die Augen aufmachte, wo es doch so ein wunderschöner Spätsommertag war, den er gewählt hatte, um ans Licht der Welt zu kommen. Aber er hatte dann doch nicht die Kraft, zusammen mit seiner Mama diesen Kampf durchzustehen.

Der Welt nicht geschenkt, nur gezeigt, könnte man sagen. Er war ein schönes Kind, so wie er da lag auf dem Wohnzimmerboden, wohl proportioniert, ein richtiger, fertiger kleiner Junge; mein Junge, geradeso als hätte Gott vergessen, ihm das Wichtigste zu schenken, seinen Lebensodem. Aber er hatte ihn wohl schon im Mutterleib ausgehaucht.

Leben, ein Durchschreiten abertausender von Bildern

Wie werden wir ihn im Himmel einmal wiedersehen? Ganz vollendet, denke ich, wie auch wir ganz vollendet sein werden! Er wird dann dem Bild im Wohnzimmer so wenig gleichen, wie wir keinem unserer abertausend Bilder gleichen werden, die wir in dieser Welt durchschritten haben. Vollendet im Himmel werden wir am ehesten den Engeln gleichen, diesem Geschlecht, das keinen Wandel kennt, keine Reifezeiten durchmacht und auch kein Ausatmen des göttlichen Lebensodems kennt. Von allem Anfang an sind sie vollendet, sie leben immer schon in der fertigen Ausfaltung ihres Wesens. Der kleine Wolfgang gleicht viel eher einem Engel als wir selbst. Schon bevor er das Licht der Welt erblickte, war sein Leben vollendet. Wir wollten ihm in diesem Leben die Steigbügel halten, bis er selbst es hätte führen können. Aber er war uns schon im Mutterleib voraus. Wir dagegen werden vielleicht noch abertausende Bilder unseres Lebens durchschreiten müssen, bis wir schließlich trotz allem selbständigen Kampf das Bild, das Gott von uns hat, letztlich doch geschenkt bekommen. Vielleicht nur Menschen wie Mutter Teresa kommen schon in diesem Leben bis zur Deckungsgleichheit an das Bild heran, das Gott von uns hat.

Die Welt in „unzugänglichem Licht

Der kleine Wolfgang hat in den wenigen Stunden, in denen er uns gezeigt wurde, weder die Augen aufgemacht, noch auch nur einen Schnaufer von sich gegeben. Und doch hat sein Bild auf dem Wohnzimmerboden – über den ich ihn viel lieber hätte herumtollen sehen wollen – diese Gedankenkette in mir losgetreten. In diesem Bild spricht er durch mich von der „Welt in unzugänglichem Licht„, in der er jetzt wirklicher wohnt, als er je auf unserem Wohnzimmerboden herumgetollt wäre.

Die Frage seiner Schwester, warum er nicht länger bei uns bleiben durfte, können wir nicht beantworten.

98 Jahre lang im Licht der Welt leben

Die Geschichte der anderen Seele reichte weit über das biblische Maß „wenn es hoch kommt 70 oder 80 Jahre“ hinaus. Davon war mir diese Geschichte nur gut 50 Jahre im Licht der Welt zugänglich, aber in Erzählungen länger. Es handelt sich um das Leben eines Angehörigen einer religiösen Gemeinschaft, der er 75 Jahre lang angehörte. Dabei hätte es sehr leicht schon mit 16 zu Ende gewesen sein können. Mit 16 wurde er nämlich als Soldat der Wehrmacht eingezogen. Man könnte auch sagen, dem Licht der Welt regelrecht ausgesetzt. Im Film Die Brücke – wurde uns vor Augen geführt, dass es in der Zeit, in der er 16 Jahre alt gewesen ist, auch schon sehr oft hätte zu Ende sein können. Aus seinen Erzählungen weiß ich, dass er in der Gegend von Remagen, in der eine andere Brücke umkämpft war, wochenlang unter freiem Himmel in Erdlöchern Kriegsgefangener der US Armee gewesen ist. 

Aber nein, die Geschichte dieser Seele ging noch 82 Jahre lang weiter u. a. mit Gründung einer Goldschmiede. Der Ehering an meiner Hand wird zeitlebens ein Andenken an ihn sein. Einer ganzen Reihe junger Menschen – keiner davon hat bisher sein Alter  erreicht –, hat er sein Handwerk beigebracht. Wenigstens drei weitere Betriebe verdanken sich seiner handwerklichen Lehre, einer davon wurde in Brasilien gegründet. Mit dem Humor, den er im Leben gezeigt hat, ist er auch gestorben. Eine Woche vor seinem Tod wurde er noch beim Unkrautzupfen im Garten gesehen, eine halbe Stunde vor seinem Tod durfte er die Sterbesakramente empfangen und ganz typisch für ihn: seine Entspanntheit auch noch in der Todesstunde: Eine Viertelstunde bevor er endgültig die Augen schloss, sagte er: Ich gehe nun heim zum Vater und machte eine Handbewegung, die man mit Tschüss deuten kann.

Unterschiedlicher kann das Leben im Hier und Jetzt wohl nicht aussehen. Ich habe den Ausdruck Hier und Jetzt bewusst gewählt, da unser Sohn Wolfgang eben im Hier und Jetzt von uns gesehen wurde, aber er selbst nicht das Licht der Welt erblickt hat. Er konnte in diesem Leben seine Augen gar nicht öffnen, im Gegensatz zur anderen Geschichte einer Seele, die zwischen Augen aufmachen und sie für immer in dieser Welt zumachen, viel von dieser Welt gesehen hat.. Wie es dann im unzugänglichen Licht aussieht, weiß niemand zu sagen, in welchen Bildern wir uns begegnen und wie unsere Begegnung mit dem Herrn der Welt aussehen wird, eine Begegnung, die wir im Glauben erhoffen.


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor a. D. am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Helmut Müller ist Mitautor des Buches Urworte des Evangeliums“
Zuletzt ist von ihm erschienen:
Menschsein zwischen Himmel und Erde – Dominus-Verlag mit einer eindrücklichen Illustration von Peter Esser, in der der Wanderer nicht mehr seine Hand in das leere Räderwerk hinter dem Horizont streckt, sondern in das Deckengewölbe der Wieskirche schaut mit dem auf sein Herz zeigenden Christus. Die Spannung des Hineingenommenseins in die Liebe und das Hinaushängen Heideggers ins Nichts bestimmt die Thematik des Buches.


Beitragsbild: Bildagentur Alamy

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