Warum die Kirche Maria als “die unbefleckt Empfangene” feiert.

Rechtzeitig zum Hochfest der unbefleckten Empfängnis Mariens im Schoß ihrer Mutter Anna kehrte sinnigerweise Notre Dame nach Notre Dame zurück. Jedes Jahr feiert die Kirche an diesem Tag das ursprüngliche Konzept des Menschen, das noch nicht von der Erbsünde korrumpiert worden ist. In der bildlichen Darstellung als apokalyptische Frau der Offenbarung des Johannes (Offb 12) zertritt sie der Schlange, dem Sinnbild des Bösen und der Versuchung, das Haupt. Helmut Müller weist in dem vermeintlich unanschaulichen Festgeheimnis auf narrative Möglichkeiten hin, es zu verstehen und aus ihm spirituell zu leben.

Die Personalien Gottes

Was glaubt die katholische Kirche unter diesem Bekenntnis, das sie am 8. Dezember feierlich begeht? Ich will mit einer Besonderheit des Christentums beginnen. Christen glauben gewisse „Personalien Gottes“, unbeschadet seiner Transzendenz, wie in einem Personalausweis verorten und verzeitlichen zu können. Sie glauben nämlich, dass er sich in Raum und Zeit nicht bloß mythisch, sondern historisch erkenntlich gezeigt hat, und zwar mit Geburtsdatum in Bethlehem in Judäa und mit Sterbeort und -datum in Jerusalem. Es gelang dem Christentum mit diesem Glauben beinahe weltweit einen Schnitt in die Zeit zu machen und mit diesen Daten die Zeit in ein Davor und Danach einzuteilen. Sollten sich nicht schon sofort Skeptiker zu Wort gemeldet haben, dann melden sich jetzt Historiker zu Wort: War es wirklich Bethlehem und tatsächlich das Jahr Null? Als ob man damit nicht schon genug Probleme hätte, feiert die katholische Kirche neun Monate vor der Feier der Geburt die Empfängnis des Gottessohnes im Schoß seiner Mutter am 25. März; und jetzt scheint es regelrecht aberwitzig zu werden, seit dem 8. Dezember 1854 auch noch hochoffiziell dogmatisiert, mit einem Hochfest, die von der Erbsünde unbefleckte Empfängnis der Mutter Jesu im Schoß ihrer Mutter Anna, deren Name sogar nur in einer apokryphen Schrift überliefert ist. 

Geht’s noch? Das fragen jetzt nicht nur Skeptiker. Will sich die katholische Kirche etwa mutwillig mit dem modernen Zeitgeist anlegen, ganz davon abgesehen, dass sich da auch schon Probleme mit anderen christlichen Denominationen ergeben? Warum macht sie das? Lebt sie nach dem Motto: Viel Feind, viel Ehr? Nein, sie nimmt die Menschwerdung Gottes in einer unheilen Welt ernst bis in die theologischen Konklusionen hinein, die sich daraus ergeben.

Verheißung und Unheil im Erbe des Hauses Davids

Sie will mit vollem Ernst dem physischen und moralischen Unheil der Welt bis in metaphysische Tiefen, wie in der Johannesapokalypse beschrieben, mit ihrer Heilsbotschaft die Stirn bieten, nicht bloß oberflächlich die Verhältnisse nach  Beziehungsdesastern neu arrangieren, wie etwa in einer Rosamunde-Pilcher-Welt. Sie will dieser Welt das von Gott zugesagte Heil bis in metaphysische Höhen verkünden, so wie sie das Unheil bis in metaphysische Tiefen verfolgt. Die “Höhen des Heils” feiert sie festlich bis in ihre feinsten Verästelungen hinein. Ausgehend davon, dass der Mensch gewordene Gottessohn uns in allem gleich ist, außer der Sünde (Hebräerbrief, 4,15), haben sich Theologen und dieses Glaubensgeheimnis feiernde Christen Gedanken gemacht, wie dieses Geheimnis zu denken ist: In allem uns gleich: Seine menschliche Natur hat er von seiner Mutter Maria, die aus dem Hause David stammt. Die Genealogien zeigen aber, was es bedeutet, aus dem Hause David zu stammen. Denn nicht nur die Verheißung, sondern auch die Natur der Stammväter- und mütter des Hauses David sind weitergegeben worden, so etwa Prostitution (Gen 38, 15), Vergewaltigung und Blutschande (2 Sam 13), selbst Ehebruch und Mord, begangen von David (2 Sam 11), dem Namensgeber des Hauses, als er den Hethiter Urija töten ließ, um dessen Frau Batseba beiwohnen zu können, finden sich in der Erbmasse des Nazareners. 

Maria, die Vor- und Vollerlöste und letzte Reliquie des Paradieses

Bei Ernstnahme der schriftlichen Überlieferung muss dieses Naturerbe des Hauses David in Maria sündenlos geglaubt und gefeiert werden. Und auch da nimmt man die schriftliche Überlieferung ernst: Der Engel begrüßt Maria mit „voll der Gnade, der Herr ist mit Dir“. Voll der Gnade bedeutet aber, da ist kein Platz mehr für die Sünde. Und wenn das so ist, hat das Lehramt am 8. Dezember 1854 eine radikale Entscheidung getroffen: Maria ist die einzige vor- und vollerlöste Person der Christenheit. Menschsein beginnt aber – daran sollte man gerade heute in einer neuen gesellschaftlichen Debatte festhalten –  mit der Empfängnis im Schoß von Frauen, im Fall Mariens im Schoß ihrer Mutter Anna. Kardinal Faulhaber hat diese Glaubenstatsache einmal mit dem schönen Wort beschrieben:

Maria ist die letzte Reliquie des Paradieses.

Damit meint er: Maria stellt das ursprüngliche Konzept des Menschen dar, das in der Entscheidung von Adam und Eva durch die Übertretung der „Gebrauchsanweisung für das Paradies“ verdorben worden ist. Zwei Schriftsteller haben unter vielen anderen prägnant dargestellt, was Paradies ist und was Paradies nicht ist: Zunächst Mark Twain: Adam steht am Grab von Eva und sagt: Sie war das Paradies. Marcel Proust formuliert genauso markant, aber auch erschütternd und lässt eine seiner Figuren sagen: Meine Frau hat mir mein ganzes Leben verdorben, und sie war nicht mal mein Typ

Das Evangelium und sein Lehr- und Lebemeister

Diese beiden Schriftsteller markieren die Spannbreite menschlichen Lebens, die Sehnsucht nach Heil, Glück und einem gelingenden Leben, die ursprüngliche Konzeption des Menschseins und sein Scheitern sogar schon in der Wurzel der Sehnsucht nach Glück und gelingendem Leben. Wenn das Christentum am 25. März, am 8. Dezember und am 25. Dezember mit diesen feinen Verästelungen den Beginn dieses Heils festlich begeht, will es Mut machen, dieses so geschenkte Leben zu beginnen, auch wenn es verdichtet in der Karwoche genau so verästelt das Scheitern durchmacht, aber im Programm Jesu, seiner Gebrauchsanweisung, dieses Scheitern überwunden wird. Die Gebrauchsanweisung heißt übrigens Evangelium! In dieser Gebrauchsanweisung war er nicht nur Lehrmeister, sondern auch Lebemeister (Meister Eckehard). Das zeigt er im höchsten Fest – Ostern –, dass Gräber im Glauben an ihn überwunden werden können.

Und wenn jetzt jemand kommt – das ist mir sogar schon in einem Grundschulkind infolge schlechten Religionsunterrichts  begegnet – und sagt, das wird ja alles nur erzählt, das war ja nicht so, dann möchte ich auf die Macht von Narrativen hinweisen. 

Die Macht der Narrative und die Schwäche der praktischen Vernunft

Was heißt das? Die Gedanken zu diesen Ausführungen sind mir gekommen anlässlich des Todes von Herbert Schnädelbach (+ 9. 11. 2024), der sich als einen frommen, aber auch traurigen Atheisten bezeichnet hat. Zu seinem Gedenken wurde im Münsteraner Forum für Theologie und Kirche eine Diskussion zu Dostojewskis Ausspruch Falls es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt zwischen ihm und Hans Joas noch einmal wiederholt. Schnädelbach war geradezu erzürnt über diesen Ausspruch Dostojewskis und beansprucht auch für Atheisten – auf Kants Konzept der praktischen Vernunft pochend – moralisch zu sein und eine Ethik ohne Gott konzipieren zu können. Er schließt seine Ausführungen triumphierend mit den Worten: „Was könnte ein transzendenter Gott dem noch hinzufügen? Hans Joas stimmte ihm zu, mit einem Unterschied: Atheisten hätten keine Narrative, diese Moralität zu bebildern und unterstützend daraus leben zu können. Es seien nicht nur Narrative, sondern sie wären geschichtlich und räumlich verortet (1h, 48 Min). Überraschend war, dass Schnädelbach zugab, an seiner Universität, der Humboldt Universität in Berlin, in – so wörtlich – einem elfenbeinernen Turm gelebt zu haben (1h, 48 Min) und solche Narrative nur literarisch anbieten zu können. Die Tatsache, dass es keinen Gott gäbe, nahm er nicht triumphierend zur Kenntnis, sondern es mache ihn traurig, daher nenne er sich auch einen frommen Atheisten. Hans Joas, der übrigens nicht zu meinen Lieblingsphilosophen gehört – was nicht heißt, dass er nicht dennoch ein kluger Kopf ist – hat dann in sehr anschaulicher Weise den Vorteil, historisch wurzelnde Narrative zu haben, mit großer Überzeugungs- und Sprachgewalt dargelegt und Schnädelbach hat dann auch in diesem Zusammenhang ehrlicherweise zugegeben, traurig zu sein, nicht an so etwas glauben zu können.

Vielleicht wird jetzt deutlich, weshalb die katholische Kirche nicht bloß seltsame Dinge bekennt, sondern sie auch feiert, weil sie einen historischen Fußpunkt haben.

Das Dogma von 1854 und sein Narrativ von 1858

Eine weitere Erfahrung hat zu diesem Gedankenreigen beigetragen. Im Sommer hatte ich mit Freunden das Pilgern auf dem Jakobspfad in Nevers am Grab von Bernadette Soubirous begonnen. Und auch hier begegnen sich wieder Historie und ein Narrativ. 1854 wurde das Dogma verkündet, vier Jahre später behauptet ein Bauernmädchen, „die Dame“, die ihr erschienen ist, hätte sich als unbefleckt Empfangene vorgestellt. Man kann darüber denken, was man will, jedenfalls hat dieses Ereignis einen berühmten Schriftsteller jüdischer Herkunft, Franz Werfel, dazu bewegt, 1941 den Roman Das Lied der Bernadette zu schreiben, der dann schon 1943 verfilmt worden ist. Und ein letztes: Dieses Bauernmädchen ist überhaupt die erste später heiliggesprochene Person, die fotografiert worden ist.

Ich denke, das genügt, um auf die Macht von Narrativen hinzuweisen, deren Erzählungen und dann auch Verfilmungen nicht nur Köpfe, sondern auch Herzen bewegen können. Kardinal Martini hat das gegenüber Umberto Eco mit folgenden Worten bestätigt: Die katholische Kirche befriedigt keine Erwartungen, sondern feiert Geheimnisse.  

Nicht ohne Grund wird Maria als immaculata conceptio auch als die apokalyptische Frau, gekrönt mit 12 Sternen, den Mond unter den Füßen und den Kopf der Schlange zertretend und so das Böse vernichtend, dargestellt.


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor a. D. am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag. Der Autor berichtet in diesem Werk von persönlichen Narrativen, die ihn in die Kirche geführt und in ihr gehalten haben.


Beitragsbild: Imago Images / ip3press

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