Ein Pfarrer des Bistums Augsburg verlässt sein Amt. Er kündigt an, aus der Kirche auszutreten – er ist ehrlich: Zentrale Inhalte des Glaubens vermag er nicht mehr zu bejahen, angefangen von der Gottessohnschaft Jesu. Das ist die Katastrophe einer Apostasie: Glaubensabfall. Einzelfall oder typisch? Viele Fragen kommen auf. Martin Brüske stellt sie.
Respekt und Katastrophe
Halten wir zunächst fest: Die Ehrlichkeit des Pfarrers, seine Bereitschaft, Konsequenzen zu ziehen und schließlich seinen neuen Überzeugungen auch durch ein berufliches Wagnis Ausdruck zu verleihen, verdient einfach Respekt. Und er braucht eines: unser Gebet. Dennoch: Apostasie, Abfall vom Glauben – und um nichts anderes handelt es sich ja und gerade durch die Ehrlichkeit wird es auch klar und offensichtlich – ist und bleibt eine geistliche Katastrophe. Kann man das nicht mehr wahrnehmen, dann besteht der dringende Bedarf zur Gewissenserforschung im Blick auf den eigenen Glauben und seine Lebendigkeit.
Zynismus
Erschüttert hat mich deshalb die zynische, pseudoprofessionelle und entweder dumme, unfassbar naive oder nur noch abgebrühte offizielle Stellungnahme der Diözese Augsburg: „Dem Wirken als Priester geht eine jahrelange Ausbildung voraus, in der stets auch der eigenen Reflexion gegenüber den christlichen Glaubensinhalten Raum gegeben wird (…) Insofern ist es höchst bedauerlich, wenn ein Geistlicher sich nicht mehr in der Lage sieht, die zentralen Botschaften unseres Glaubens für sich als wahr anzuerkennen.“
Für die geistliche und oft auch menschliche Katastrophe einer Apostasie bringt man gerade einmal ein ebenso formelhaftes wie leeres Bedauern auf. Und man betreibt, mehr oder wenig direkt, Blaming: Der Mann habe eben im Studium seine Hausaufgaben nicht gemacht. Also ist er selbst schuld, wenn er dann nicht genügend gefestigt ins Berufsleben geht und am Ende den Glauben verliert. Das ist ganz offensichtlich die Botschaft, die hier vermittelt werden soll. Und wie gesagt: Das ist entweder unfassbar zynisch, unfassbar naiv oder unfassbar dumm (vielleicht auch eine aparte Mischung aus allen Komponenten…). Sollte man im hochwürdigen Ordinariat zu Augsburg schlechterdings noch nichts mitbekommen haben, von dem kulturellen Dauerdruck, unter dem christlicher Glaube heute steht und dessen Transmissionsriemen ein Studium der Theologie heute in aller Regel ist (und nicht sein geistliches Antidot)? Nichts mitbekommen haben von der theologischen Bildungskrise, in der wir seit vielen Jahrzehnten stecken? Vielleicht weil man selbst daran Anteil hat – trotz Ordinariatsrat und Doktortitel?
Bildungskrise
Um es konkret zu machen: Unser Pfarrer kann nicht mehr glauben, dass Jesus Gott und der Sohn Gottes ist. Der, der hier schreibt, hat seit den neunziger Jahren Schlussprüfungen in Dogmatik erlebt und etliche Semestralprüfungen dazu. Kaum 10% der Studierenden – und das ist großzügig geschätzt – waren auch nur ansatzweise in der Lage, die faktischen Entwicklungen, die theologischen Problemlagen, die dynamischen Elemente, die von der Tiefe her die Entwicklung vorantreiben und – sagen wir – von Nizäa zum christologischen Glauben von Chalkedon führen, auch nur halbwegs richtig, geschweige aus einem echten Verständnis heraus, zu beschreiben. Es fehlte also schlicht Wissen, Einsicht, Verständnis für den Weg, auf dem die Kirche zu ihrem Christusbekenntnis gekommen ist, geschweige denn, für seine Fundierung in der Schrift, für seine logische Struktur usw., usw. Das aber, was hier zur christologischen Mitte des christlichen Glaubens gesagt wurde, ließe sich Thema für Thema ausdehnen. Man stößt dauernd – wohin?
Ins Nichts! Die theologische Bildungskrise bedeutet: Theologen, die Betriebswirte wären, würden jedes Unternehmen an die Wand fahren, als Juristen jeden Prozess verlieren und als Ärzte ihre Opfer unter den grünen Rasen bringen. Aber der, der hier schreibt, musste auch erleben: Was offensichtlich ist, will niemand wissen. Lieber verleugnet man die Realität und belügt sich selbst.
Kurz und knapp: das Szenario der Lage
Noch einmal: Wir stecken seit mittlerweile vielen Jahrzehnten in einer fundamentalen theologischen Bildungskrise. Für einen Großteil der Absolventinnen und Absolventen führt dieses Studium weder zu einer gediegenen Grundlage für ihren kirchlichen Dienst noch zu einer fundierten, reflektierten, freien und verantwortlichen Zustimmung zum Glauben der Kirche. (Beides hängt übrigens sehr eng zusammen.) Kaum jemand von den Verantwortlichen will das wissen und daraus Konsequenzen ziehen. Hinter vorgehaltener Hand klagt man allerdings sehr gerne über die mangelnde Studienfähigkeit der Studierenden – ansonsten lügt man sich lieber selber in die Tasche, dass sich die Balken biegen. Denn Ehrlichkeit wäre eine viel zu große und unerträgliche Infragestellung des eigenen glorreichen Selbstverständnisses, nämlich Vertreter der famosen deutschen Theologie von Weltrang zu sein … Die ungeheure Fähigkeit zum Selbstbetrug in dieser Frage setzt sich aber in deutschen Ordinariaten ebenso fort wie in deutschen Bischofshäusern! Kurz und knapp: Neben allen persönlichen Gründen ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Apostasie unseres Pfarrers auch Ausdruck und Folge dieser Situation. Und deshalb die Stellungnahme des Augsburger Ordinariats Ausdruck eines blanken Zynismus.
Die Fragen
So stellen sich im Blick auf das Typische in diesem Fall eine Reihe von Fragen, die – ehrlich beantwortet – zur Gewissenserforschung würden und größte praktische Konsequenzen hätten, nähme man sie denn ernst und beendete den Selbstbetrug:
- Was hat unser Pfarrer eigentlich im Studium gelernt? Haben seine Kommilitonen mehr und anderes gelernt? Oder ist er vielleicht gar nicht untypisch, nur ein wenig ehrlicher? Haben seine Kommilitonen durchschnittlich tatsächlich den christlichen Glauben tiefer angeeignet und durchdrungen als er?
- Ist das Bistum naiv oder heuchlerisch, wenn es offensichtlich suggerieren will, dass die persönliche Glaubensreflexion in der Studienzeit „normalerweise“ zu einem gefestigten Glauben führt, der dann ein Berufsleben lang hält?
- Haben die Kollegen nicht vielfach einfach „gelernt“, dass ein Dissens im Sinne unseres Pfarrers keineswegs ein Grund ist, sein Berufsleben nicht in Anstellung bei der Kirche zu verbringen? Und dass man sich nicht, auch nicht in zentralen Fragen, mit dem Glauben der Kirche identifizieren muss, um bei ihr zu arbeiten? Ist das nicht genau die Mentalität, die indirekt (als klare, aber unausgesprochene Mentalität) und teilweise und zunehmend auch sehr direkt in Studium und Ausbildung vermittelt wird? Ja, dass derjenige „Schwierigkeiten bekommt“, der sich zu direkt und vollständig zu diesem Glauben bekennt?
- Wollen der Bischof von Augsburg und sein Personalchef eigentlich wissen, wieviel Prozent ihrer pastoralen und pädagogischen Mitarbeiter das dogmatische Bekenntnis von Chalzedon unterschreiben? Und viele weitere zentrale Inhalte des kirchlichen Glaubens?
- Ist es eine ernste Sorge des Bischofs und seiner leitenden Mitarbeiter, dass sich Seelsorger und Pädagogen um ihres eigenen Heils willen und um das der ihnen Anvertrauten willen, mit dem Glauben der Kirche identifizieren können?
- Wie sieht die regelmäßige geistliche (Hirten-)Sorge des Bischofs für die ihm in ihrer Mitarbeit Anvertrauten aus – ganz konkret?
Fragen über Fragen!
Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau.