Kann man „pro life“ UND zugleich Feministin sein? Sabina Scherer beschreibt in ihrem Buch sehr empathisch den Konflikt zwischen Mutter und Kind, zwischen Lebensrecht und Selbstbestimmungsrecht und schafft es, damit ein Band zwischen Herz und Verstand zu knüpfen. Klüger kann man über Abtreibung nicht schreiben, meint Bernhard Meuser und schlägt vor, dieses Buch zur „Lebensrechts-Bibel“ zu küren.

Wer jahrelang mit Büchern unterwegs ist, ist vor Überraschungen nicht sicher. Da wird mir von mehreren Seiten ein Buch ans Herz gelegt, über das ich spontan eher nicht gestolpert wäre: „Mehr als ein Zellhaufen – Wie wir konstruktiv über Abtreibung sprechen können.“ Der Name der Autorin, einer jungen Frau, Sabina Scherer, ist mir unbekannt. Ich bin skeptisch. Was kann das sein? Ich lese. Höre nicht mehr auf zu lesen. Bin schließlich gebannt, … für das Buch und seine Autorin gewonnen. Mein Urteil steht fest: Fundierter, sachlicher, empathischer, zwingender kann man über die schmerzhafte Realität von Abtreibung nicht schreiben. Da ist eine neue Stimme, der man Gehör verschaffen muss.

Ein Thema, das spaltet – ein Buch, das verbindet

„Ein Buch“, hat Kafka einmal gesagt, „muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Wen gibt es, dem die Auseinandersetzungen „Pro Choice“ oder „Pro Life“ nicht an die Substanz seines Denkens, seiner Beziehungen, seiner Biographie gehen würde? Da ist Eis zwischen uns. Es zerreißt Freundschaften, Familien. In den U.S.A. bricht eine Nation zuletzt über diese Frage auseinander. Mit Sprachlist („reproduktive Medizin“) gerüstet und gewaltiger Finanzpower hinterfüttert, versuchen NGO´s ein „Menschenrecht auf Abtreibung“ durchzuboxen. In Deutschland sehen wir die verzweifelten Versuche der gescheiterten Ampel, auf den letzten Drücker noch mit einem liberalen Abtreibungsrecht bei Frauen zu punkten.

Eine Bibel des Lebensrechts?

Wer ist diese Frau, die „konstruktiv“ über das Thema zu schreiben vermag? Sie gibt selbst Auskunft: „Ich bin Psychologin, Mutter und engagiere mich in den sozialen Medien für den Schutz des ungeborenen Lebens.“ Das ist die eine Seite – und sie ist wichtig, denn ihr Text ist einerseits von unbedingter Einfühlung, von weiblicher Solidarität, von konkreter, nachspürender, mitfühlender Liebe gekennzeichnet, wie er andererseits eine bestechende logische Stringenz und eine so souveräne Kenntnis der ethischen Debatte aufweist, dass ein Robert Spaemann wahrscheinlich gejubelt hätte:

Eine Psychologin, die denken kann, die eine Philosophin ist!

Tatsächlich macht die Kombination von warmer Empathie und kühler Rationalität die Qualität eines Buches aus, von dem man sagen kann: Das könnte sie sein, die Bibel des Lebensschutzes.

Abtreibungsthema als Scheidepunkt

Dieses Buch müssen alle lesen, die verstanden haben, dass es in der Frage des Lebensschutzes keineswegs um eine gesellschaftliche Randfrage, sondern gewissermaßen um das Alles oder Nichts der Menschenwürde geht. Entweder sie gilt für alle oder sie gilt für niemand. „Abtreibung“ ist der Clearing Point einer universalen, niemand ausgrenzenden Humanität, die Wasserscheide zwischen Humanismus und Antihumanismus, zwischen Liebe und Tod. Die Wasser, die in die Zivilisation der Liebe fließen, fließen nicht in die Kultur des Todes und umgekehrt. Zwei nicht miteinander vereinbare Anthropologien trennen sich. Menschen müssen sich entscheiden, wem sie den Vorrang einräumen.

Argumenten für Abtreibung geht die Luft aus

Mit bohrender Intensität und präziser begrifflicher Unterscheidung geht Sabina Scherer allen (noch so kruden) Argumenten nach, die man als Rechtsgründe beiziehen könnte, um ein Kind im Leib seiner Mutter töten zu lassen. Sie tut es auf eine Weise, die mich an die Kunst der disputatio bei Thomas von Aquin erinnert, wo der hl. Thomas die Argumente des Gegners „nicht nur zu Wort kommen lässt, sondern ausdrücklich zu Wort bringt, vielleicht sogar besser, klarer, überzeugender, als der Gegner es selbst vermöchte.“ (Joseph Pieper). Ein Luftballon nach dem anderen sackt in sich zusammen.

Neuer Pro-Life-Feminismus

Sabina Scherer hat aber mehr im Sinn, als ein perfektes apologetisches Argumentarium für Lebensrechtsaktivisten zu liefern. Ihr geht es darum, die Wagenburg zu verlassen und Gründe für Pro Life zu finden, die aus dem Herzen des Feminismus´ kommen. Sie betreibt allerdings eine Art von Feminismus, der nichts mit den zuletzt entstellten Formen dieser letzten großen Sozialreform der aufgeklärten Moderne zu tun hat. Einst angetreten, um Frauen zu befreien, sie aus dem Schatten und der Unterdrückung herauszuholen, ihnen umfassende Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, weist der zeitgenössische, in sich zerstrittene Feminismus vielfach Elemente von Bitterkeit, geschlechtlicher Isolation, Familien- respektive Kinderfeindlichkeit und femininem Selbsthass auf. Mit Sabina Scherer tritt ein kinder-, familien- und menschenfreundlicher Feminismus auf den Plan, der Liebe im Programm hat, Gott nicht exkludiert und Männer nicht als geborene Feinde betrachtet. Dieser Typus wird international immer stärker und hat – um nur ein Beispiel zu nennen – ein glorioses Parallelstück in Abigail Favales „Die geleugnete Natur“. Die beiden dürften Schwestern im Geist sein. „Je länger ich darüber reflektiere“, sagt Sabina Scherer, „was mich bewegt und wofür ich stehe, desto klarer wurde mir, dass die Grundprinzipien des Feminismus genau das sind, was mich antreibt.“ In Amerika gibt es ihn schon geraume Zeit, den Pro-Life-Feminismus, der eine große Hoffnung für eine humane Zukunft aller ist.

„Es schmerzt mich zu sehen“, schreibt Sabina Scherer, „dass Frauen heutzutage über ihre eigenen ungeborenen Kinder so denken, wie Männer früher über Frauen dachten: als ihren Besitz, ihre Untergebenen, die sich aufgrund der natürlichen ´Ordnung´ ihrem Willen zu beugen hätten.“

Und sie zitiert einen Slogan der New Wave Feminists aus den U.S.A.:

„Wenn unsere Befreiung unschuldige Leben kostet, handelt es sich dabei lediglich um umverteilte Unterdrückung.“

Ich bin mir sicher: Von Sabina Scherer werden wir noch hören. Ich erwarte aus ihrer Feder ein großes Buch über Feminismus. Mindestens.


Bernhard Meuser
Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral.

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