Die Serie der Auslegung des Sonntagsevangeliums durch Dr. Martin Brüske geht weiter.
Das Gebet der Auserwählten
Auslegung des Evangeliums vom 29. Sonntag im Jahreskreis C Lk, 18, 1-8
Zur Jüngerschaft gehört Gebet. Notwendig. Täglich und nächtlich. Auch gegen die Ermüdung. Ein Leben des Gebets – im Vertrauen: Gott ist gut. Er zögert nicht, zugunsten seiner Erwählten zu handeln. Eine Zumutung? Eine Unmöglichkeit? Ja, die Zumutung des Glaubens und nur durch ihn möglich. Jesus stellt die Frage: Wollen wir Glauben und Gebet wagen?
Das Anliegen des Evangelisten: eine Herausforderung
Die Evangelisten sind sorgfältige und verlässliche Zeugen der Geschichte Jesu und seiner Botschaft. Aber sie sind auch theologische Köpfe und geistliche Menschen mit ausgeprägtem Profil. Sie akzentuieren Aspekte dessen, was sie in Jesu Botschaft und Geschichte besonders bewegt. Und so tritt im ersten Vers unseres Evangeliums Lukas und zwar in einem seiner spezifischen Anliegen besonders deutlich hervor: Wir können an mehreren Stellen seines Evangeliums beobachten, dass Lukas Jesu Botschaft vom Gebet besonders bewegt hat. Drei Dinge hebt er hervor: Gebet ist notwendig. Notwendig ist es zu aller Zeit: Es muss wirklich kontinuierlich – bis hin zum immerwährenden Gebet – unsere Lebenszeit bestimmen. Regelmäßig und rhythmisch dicht. Und – dritter Aspekt – in einer Treue, die sich nicht ermüden lässt.
Das ist gerade heute eine Herausforderung. Kulturell herrscht ein Sog in die Peripherie und in die Zerstreuung. Gebet aber braucht Sammlung. Darüber hinaus habe ich den Eindruck: Im durchschnittlichen Leben der großen Kirchen spielt das Thema keine große Rolle – trotz der eindringlichen Aufforderungen Jesu. Lehrt und lernt man dort das Beten, so dass eine solche Gebetsschule wirklich eine ganz zentrale Stellung hätte? Überlässt man das nicht gerne den Frommen und den Spezialisten z.B. in irgendwelchen Klöstern? Dazu kommen viele – besonders auch in der Theologenschaft – grassierende Zweifel am Sinn gerade der elementarsten Form des Betens: des Bittgebets. Abwegig sei es doch, den ewigen Gott durch das Bittgebet „beeinflussen“ zu wollen, auf ihn „einzuwirken“ oder seinen Willen zu „verändern“. Das alles seien doch allzumenschliche Vorstellungen: Wer sich einen Gott vorstelle, der Gebete „erhört“ – dessen „Glaube“ sei vielleicht allzu naiv, ja kindisch geblieben. Und was sei mit den so vielen unerhörten Gebeten, die doch von gläubigen Menschen aus tiefer Not vor Gott getragen worden sind? Noch radikaler ist deshalb der Zweifel, ob Gott überhaupt in der Welt handle und ob er überhaupt ein personales Wesen sei, das Gebete hören könne. Andererseits: Viele, viele Menschen innerhalb wie außerhalb der Kirchen sehnen sich danach, beten zu können – und wissen nicht wie. Antworten wir darauf? Können wir antworten, weil wir uns selbst um ein wirkliches Leben des Gebets bemühen? Nicht zu antworten, heißt meiner Überzeugung nach: als Kirche an einer fundamental bedeutsamen Stelle zu versagen.
Viel wäre theologisch und philosophisch zu den genannten Einwänden klarzustellen. Das wäre ein eigenes Thema, das die Auslegung unseres Evangeliums sprengt. (Wir werden das in unserem Blog sicher thematisieren.) Aber im Blick auf unser Evangelium und seinen großen Kontext kann man schon einmal einiges festhalten:
- Jesus spricht so eindringlich und intensiv vom Gebet (und zwar auch und gerade über das Bittgebet), dass es unmöglich ist, das beiseite zu lassen, wenn ich die Botschaft Jesu ernst nehmen will. Und seine nachösterlichen Zeugen reden nicht anders. Jesus und das neue Testament muten uns die „Gebetsfrage“ einfach zu. Man entfernt sich von Jesus, wenn man meint, sie auslassen, an den Rand stellen oder verdrängen zu können.
- Dies aber nicht zuerst als theologisch-philosophisches Problem (so sehr es hier ernste Fragen gibt, die Klärung brauchen), sondern als Herausforderung des Lebens. In der Gebetsverkündigung Jesu wird deutlich: Das Wagnis des Gebets und das Wagnis des Glaubens sind zwei Seiten einer Medaille! Gebet und Glaube wachsen miteinander, sie tragen sich gegenseitig, ihre Gefährdungen sind gemeinsame Gefährdungen, wo das eine bedroht ist, ist es auch das andere. Karl Rahner hat einmal schlicht und auf den Punkt formuliert: „Ich glaube, weil ich bete.“ Und nur wer – vielleicht noch ganz keimhaft – glaubt, wer sich wenigstens danach sehnt zu glauben, wird das Gebet wagen.
- So geht es um das Wagnis einer Praxis, die das Wachstum von Gebet und Glaube ermöglicht. Wir alle fangen mit dem Kleinglauben an und werden davon immer wieder eingeholt. Unser Gebet ist vielleicht dürftig, zerstreut und gefühllos, trocken. Aber tun wir es einfach! Fangen wir an und versuchen, Treue zu entwickeln. Kontinuität. Üben wir geduldig. Befragen immer neu auch die großen Autoren der geistlichen Tradition. Wir mögen lange nicht groß etwas wahrnehmen – aber einem solchen Weg der Treue, und durch alle Schwächen und Rückfälle hindurch, ist Wachstum verheißen. So wahr Gott gut ist – denn er liebt unser schwaches Gebet und unseren armen Glauben!
- Schließlich: Ein Leben des Gebets zu wagen, war immer schon und ist heute besonders das Wagnis eines Abenteuers gegen den kulturellen Mainstream. In einer Welt der tausend innerweltlichen Lebensoptionen, die in einer (zumindest noch) weltgeschichtlich nie dagewesenen Fülle, Befriedigung, Lust, Sinn, Glück verheißen, auf ein geistliches Leben im Gebet zu setzen, muss in den Augen vieler Zeitgenossen als völlig verrückt und abwegig erscheinen. Dieses Wagnis ist aber das Wagnis eines Glaubens, der etwas von einer Fülle gekostet hat, der alles andere als fad erscheinen lässt und der deshalb zuerst Gottes Königsherrschaft sucht. Verrückterweise werden dem Menschen, der diese Option wagt, dann die Kostbarkeiten der Schöpfung auf neue Weise dazu geschenkt, nämlich in einer neuen Ordnung der Gelassenheit, jenseits der Gier, die sie mehr leuchten lässt als zuvor.
Richter und Witwe
Die Ermutigung zum ausdauernden und andauernden Gebet gibt Jesus in einem Gleichnis. Die Situation: Eine Witwe will ihr Recht, vielleicht in einer Vermögens- oder Erbangelegenheit, von einem Einzelrichter. Sie braucht eine Entscheidung dieses Richters, um zu ihrem Recht zu gelangen. In der Situation ist die Personenkonstellation entscheidend. Diese wiederum ist einerseits definiert durch die soziale Rolle und Stellung und durch eine knappe, scharfe Charakterisierung der Personen. Kurz und knapp: Der Richter ist in jeder Hinsicht das Gegenteil von dem, was ein Richter sein sollte. Gewissenlos. Willkürlich. Uninteressiert. Egoistisch. Die Witwe ist vor allem eins: Zäh! Man kann sich das – in Zeiten, in denen es zwar durchaus schon Regeln des Verfahrens gab, aber die Möglichkeiten ihrer Erzwingung sehr eingeschränkt waren – lebhaft vorstellen: Die Witwe hängt an der Willkür des Richters. Als Witwe ist sie biblisch (mit den Waisen) Inbegriff einer Schwäche, die gegen diese Willkür praktisch gar keine Möglichkeiten der Durchsetzung hat. Deshalb ist die Rechtsstellung der Waisen und Witwen ja auch immer Gegenstand besonderer Sorge der Tora: Ihnen Gerechtigkeit zu verschaffen, ist Kriterium einer gut geordneten Gesellschaft. So finden wir es immer wieder bei den Propheten. Und über Gott als gerechten Richter heißt es bei Jesus Sirach:
„Denn der Herr ist Richter / und es gibt vor ihm kein Ansehen der Person. Er bevorzugt niemanden gegenüber einem Armen, / die Bitte eines ungerecht Behandelten wird er erhören. Er missachtet nicht den Hilferuf der Waise / und die Witwe, wenn sie ihren Jammer ausschüttet. Fließen nicht Tränen der Witwe über die Wangen / und richtet sich der Schrei nicht gegen den, der sie hinabfließen ließ?“ (Sir 35, 15b-19).
Unsere Witwe aber nutzt ihre einzige Möglichkeit: Sie ist zäh. Sie liegt dem ungerechten Richter in den Ohren. Sie geht ihn immer wieder an, wahrscheinlich genau mit der richtigen Mischung von Nachdruck und „gutem Zureden“. Schließlich wird sie ihm lästig – und die Nachdrücklichkeit lässt bei ihm die Befürchtung wachsen, dass sie irgendwann in Aggression übergeht…. Um sie loszuwerden, entscheidet er den – wohl eindeutigen – Fall endlich zu ihren Gunsten. Jesus zeigt hier durchaus Humor. Man darf schmunzeln. Und – wie schon angedeutet – führt Jesu unglaublich ökonomische Erzählkunst wieder einmal dazu, dass man sich die Szene sehr lebhaft und eben mit einem Lächeln vorstellen kann.
Jesu Deutung
Jesu Deutung ist ein Steigerungsschluss vom Schlechteren auf das Bessere. Gott ist das Gegenteil des ungerechten, willkürlichen und uninteressierten Richters. Wenn schon die notorische Zähigkeit der Witwe schließlich Erfolg hat bei einem, der nicht das geringste Interesse an ihrem Fall hatte, um so mehr wird euer Gebet gehört bei dem unendlich guten, gerechten und barmherzigen Gott, der unendlich an eurem „Fall“ interessiert ist, weil er euch erwählt hat. Ihr seid wirklich Erwählte (das herrlichste Wort, die herrlichste Aussage in diesem Evangelium)! Deshalb ist der Vater wirklich unendlich an euch interessiert. So betet Tag und Nacht. Ihr dürft das wagen. Ihr dürft das geistliche Leben wagen. Wagt ihr den Glauben, der ins Gebet führt?
Dr. theol. Martin Brüske,
geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.