Die Serie der Auslegung des Sonntagsevangeliums durch Dr. Martin Brüske geht weiter.
Jesus, Lehrer des Gebets
Auslegung des Evangeliums vom 17. Sonntag im Kirchenjahr C Lk 11, 1-13
Jesus lehrt beten. Seine Gebetslehre ist völlig einfach. Sie ist zugleich abgründig tief: den Vater Vater sein lassen. Seine ganze Bedürftigkeit vor ihn bringen. Eindringlich sein: Bitten, suchen, anklopfen. Vertrauen. Das Bittgebet ist der notwendige Ausgangspunkt des Betens. Solchem Beten ist die größte und beste Gabe gewiss: der Heilige Geist.
Jesus lehrt beten
Wenn Jesus beten lehrt, dann führt er nicht gleich auf die Höhen des mystischen, kontemplativen, inneren Gebets. Seine Gebetslehre ist elementar. Jesus weiß, dass die Not des Betens groß ist. Menschen wollen beten. Und so oft erfahren sie: Ich weiß nicht, wie das geht. Ich habe es versucht und habe aufgegeben. Ich habe in Not gebetet, aber da war nur Schweigen. Jesu Gebetslehre übergeht diese elementare Not des Betens nicht. Jesus lehrt: Die Tiefen des inneren Betens, das uns im Heiligen Geist in die Gegenwart Gottes führt, haben ihren Ausgangspunkt im elementaren Bittgebet. Im Bittgebet liegt die Wahrheit Gottes und die Wahrheit des Menschen. Die Wahrheit Gottes, der gerne gute Gaben gibt und die Wahrheit meiner geschöpflichen Bedürftigkeit, die sich ein Leben lang zum totalen Mangel des Todes neigt und die völlig angewiesen ist auf den göttlichen Lebensgrund, über den wir nicht verfügen, den wir nur erbitten können. Am Bittgebet führt kein Weg des Betens vorbei. Das rechte Bittgebet ist der Lackmustest, der anzeigt: Ist mein Beten in der Wahrheit, in der Wahrheit des Vaters, dem ich mich restlos anvertrauen kann, weil er absolut gut ist und der immer, auch wenn sie unbegreiflich bleiben, gute Wege führt und ist mein Beten in meiner persönlichen, existentiellen Wahrheit, der Wahrheit meiner Not, die ich ihm in bittendem Vertrauen restlos in die Hände legen kann und soll?
Jesus betet
Die Evangelien, ganz besonders Lukas, zeigen Jesus als betenden Menschen. Daran knüpft die Bitte des Jüngers in unserem Evangelium an: „Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger beten gelehrt hat!“ Jesus liebt das Gebet in der Stille der Nacht und auf der Höhe der Berge. Dieses Gebet ist intensiv, nicht nur nächtlich, sondern nicht selten die Nacht hindurch. Es vollzieht sich in einer absoluten, exklusiven Intimität mit dem Vater und ist zugleich völlig menschlich. Wenn man es theologisch ausdrücken will: Im Gebet Jesu, des menschgewordenen Sohnes, übersetzt sich der innergöttliche Dialog zwischen dem ewigen Vater und dem ewigen Sohn in ein vollkommen menschliches Gebet in Zeit und Raum. Das deutlichste Anzeichen dieser Menschlichkeit ist aber, dass auch Jesu Gebet nicht nur Lobpreis und Anbetung ist, sondern auch und immer wieder Bittgebet! Jesus bittet für Petrus, er bittet für seine Jünger, er bittet für die, die ihn hinrichten; ja, und er bittet für sich selbst. Und er bittet in der elementaren Bedürftigkeit menschlicher Not. Er bittet in der Angst: Vater, wenn es möglich ist… – und auch Jesus macht die Erfahrung, dass seine Bitte in dem, worauf sie sich direkt richtet – nämlich den Kelch der Passion vorübergehen zu lassen – nicht einfach erfüllt wird. Zu Jesu Gebet gehört allerdings auch die Einstimmung in den Willen des Vaters: Dein Wille geschehe! Und die Antwort des Vaters ist Ostern. So ist diese Nicht-Erfüllung trotzdem Erhörung. So sieht es zumindest der Brief an die Hebräer:
„Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.“ (Hebr 5,7f.).
Diese Verse sind voll von tiefem Geheimnis, vom Geheimnis des menschgewordenen Gottessohns: Der ewige Sohn, der aus der Ewigkeit des Vaters kommt, schreit und weint die elementarste menschliche Not, die Not der Todverfallenheit menschlichen Lebens, bittend und flehend vor dem Vater heraus. Durch diesen Tod muss er hindurch, um aus ihm gerettet zu werden. Gerade so lernt er – der ewige Sohn lernt! – den Gehorsam. Das heißt: Die Annahme des menschlichen Daseins durch den ewigen Sohn, der doch das Leben selbst ist, schließt die Annahme der tiefsten Bedürftigkeit der menschlichen Natur ein. Das Leben selbst nimmt den elementaren Mangel an Leben an! Diese Not trägt der Menschgewordene schreiend und weinend vor seinen Vater. Der Tod bleibt ihm nicht erspart. Er muss hindurch. Er muss den Gehorsam „lernen“, um so die menschliche Natur wieder in das rechte Verhältnis zu Gott zu bringen, in der sie göttliches Leben empfangen kann. So wird er in der Auferweckung aus dem Tod gerettet, um jetzt ein für allemal der hohepriesterliche Mittler des endgültigen Lebens zu sein! Das ist die Lerngeschichte Jesu, in der der Menschgewordene Gott Gott sein lässt, ihn so in Ehren hält – und ihm dabei und gerade so alle Not des Daseins in die Hände legt. Diese „Lerngeschichte“ teilt er seinen Jüngern mit, die ihn bitten:
„Herr, lehre uns beten!“
Vater!
Die erste Antwort Jesu auf diese Bitte ist die Mitteilung der unausschöpflichen Urgestalt christlichen Betens. Dieses Gebet – wir nennen es von der matthäischen Fassung her das Vaterunser – wird den Jüngern als elementare Form mündlichen Betens geschenkt und aufgetragen. In der lukanischen Fassung ist es noch knapper und konzentrierter als bei Matthäus. Diese Gabe ist zugleich Modell und Keim. Es zeigt, wie man beten kann. Und es ist der Ausgangspunkt für die reiche Entfaltung christlichen Betens: liturgisch und persönlich, mündlich, innerlich, betrachtend, kontemplativ, mystisch. Es ist zutiefst verwurzelt in der Gebetstradition Israels. Seine Motive finden sich im Beten des Gottesvolkes bis heute. Zugleich hat es – in seiner Gestalt und Fügung – ganz spezifisch jesuanische Züge. Es wächst ganz und gar aus seiner Verkündigung und seinem Wirken.
Nun ist im knappen Rahmen dieser Auslegung des Sonntagsevangeliums keine eigene Auslegung des Vaterunsers möglich. Aber eine persönliche Erfahrung möchte ich mit Ihnen teilen. Und dann ganz knapp drei Hinweise geben.
Als junger Mensch schien mir das Vaterunser ein fast zu simples Gebet. Mich faszinierten die Traditionen mystischen Betens, bald auch die Texte der Liturgie. Natürlich habe ich es loyal aufgenommen und gebetet. Es ist schließlich von Jesus. Aber es hat mich nicht sonderlich entzündet, wenn ich ganz ehrlich bin… Im Lauf der Jahre hat sich das völlig gewandelt und umgekehrt. Je tiefer sich mir vor allem die Schrift erschloss, je mehr auch das Eigentümliche der Verkündigung und des Wirkens Jesu, desto tiefer und abgründiger wurde mir dieses Gebet. In seiner Simplizität öffnet sich die Wirklichkeit Gottes, des Vaters, so wie sie in Jesus in unsere Nähe gekommen ist. Hinter jedem Wort öffnet sich das Geheimnis Gottes. Wenn ich es für mich bete, bin ich jetzt manchmal sehr langsam geworden, weil ich bei jeder Zeile verweilen möchte. (Und es schmerzt mich manchmal ein wenig, wenn man achtlos darüber hinweghuscht.)
Drei Punkte:
- Die Rede von Gott als „Vater“ hat einerseits ein breites religionsgeschichtliches Vorspiel. Als Gebetsanrede ist sie darüber hinaus im Beten Israels zutiefst vorbereitet. Hinter dem griechischen Wort steht hier und an anderer Stelle das aramäische Wort „Abba“. Es ist eines der wenigen Worte, das auch direkt aramäisch im Neuen Testament überliefert ist. Das macht klar, dass die frühen Christen hier etwas wahrgenommen haben, das ihnen offensichtlich sehr, sehr teuer war. „Abba“ ist ein familiäres, intimes Vertrautheitswort: Papa, lieber Vater. Dabei ist die Frage müßig, ob das als Wort der Gebetsanrede so exklusiv nur bei Jesus vorkommt – die Exegeten haben darüber diskutiert. Wichtig ist vielmehr, dass dieses Wort uns das ganz spezifische Gottesverhältnis Jesu offenbart und dass Jesus uns daran Anteil schenkt. Und diese Teilhabe wird zum Gebet in der Anrede des Vaterunsers. „Zu der Zeit fing Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies Weisen und Klugen verborgen hast und hast es Unmündigen offenbart. Ja, Vater; denn so hat es dir wohlgefallen. Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.“ (Mt 11, 25-27). Wenn wir also das Vaterunser in rechter Weise beten, dann werden wir hineingenommen in die Intimität des Sohnes mit dem Vater.
- Wichtig für unser Beten ist nun, dass nach dieser Anrede unser Beten nicht gleich unsere tägliche Not ins Bitten nimmt. Im Vaterunser bleibt unser Beten auch im Bitten zunächst ganz theozentrisch, ausgerichtet auf Gott, ausgerichtet auf den angeredeten Vater. Wir bleiben zunächst noch ganz bei ihm. Bringen die Sorge bittend zum Ausdruck, dass der heilige Gott und Vater Jesu unter uns Gegenwart gewinnt in der Heiligung seines Namens und im Kommen seiner königlichen Herrschaft. Wir lassen so betend Gott Gott sein. Er soll für uns in seiner Gegenwart wirklich werden. Wir bleiben ausgerichtet auf ihn. Das heißt auch: Gott ist nicht der Funktionär unseres Bittens. Gott ist Gott. Es geht um ihn. „Dein Wille geschehe“ findet sich entsprechend in der matthäischen Fassung. Aller Lobpreis und alle Anbetung geht von hier aus.
- Es geht um ihn. Aber ihm geht es um uns. Deshalb dürfen wir nun unsere ganze Bedürftigkeit und Not in seine Hände legen. Wir brauchen uns für nichts zu schämen. Im Gegenteil: Wir sollen uns mit allem, was uns bedrängt und bedrückt, an ihn wenden. Mit unseren täglichen Lebensbedürfnissen, mit unserer Schuld und mit unserer Gefährdung. Meinten wir, etwas sei zu klein für ihn – gerade dann würden wir nicht groß genug von dem denken, der selbst die Haare auf unserem Kopf gezählt hat. Unsere Bedürftigkeit ohne Auslassung vor Gott zu tragen: Darin besteht gerade die Wahrhaftigkeit unserer Existenz vor ihm und die Restlosigkeit unseres Vertrauens. Darin bekennen wir vor dem Vater: Wir sind deine Geschöpfe. Wir sind auf dich angewiesen. Du jedoch bist unendlich gut. Und deshalb vertrauen wir deiner Güte.
Göttlicher Freund und Vater
Diese göttliche Güte, der wir uns völlig und ohne Einschränkung anvertrauen können, kennt so etwas wie menschliche, natürliche Vorentwürfe. Sie sind gebrochen und versehrt durch menschliche Begrenztheit, ja durch menschliche Bosheit, aber sie „funktionieren“ selbst unter der Maßgabe von Schwachheit, Begrenztheit und Sünde. Denn Gott hat seine Schöpfung so eingerichtet, dass sie auch noch in aller Gebrochenheit, die nicht vom Schöpfer ist, etwas von seiner Güte widerspiegelt. Jesus erzählt zwei solcher gleichnishaften Beispiele, um uns einzuladen, dem Vater, der doch ganz und ungebrochen gut ist, dessen Güte keine Grenze kennt, ganz und vorbehaltlos zu vertrauen. Sie sagen: Wenn ihr das schon in eurer Wirklichkeit antrefft, dann könnt ihr euch um so mehr dem Vater im Himmel anvertrauen. Es sind die Freundschaft und die Elternliebe. Wenn sie nicht wenigstens durchschnittlich funktionieren würden, selbst in dieser beschränkten und durch Bosheit versehrten Welt, könnten wir alle nicht leben. Der Freund wird geben, selbst wenn er verschlafen und genervt mitten in der Nacht geweckt wird. Im schlimmsten Fall wenigstens, um den Zudringlichen wieder loszuwerden. Und selbst unter durchschnittlich durch das Böse angeschlagenen Zeitgenossen – und Jesus konstatiert hier mal so nebenbei, dass genau das unser aller Zustand ist – funktioniert die Elternliebe, die nicht Schlangen und Skorpione statt dem erbetenen Fisch und Ei gibt. Also, noch einmal, erst recht der einschränkungslos gute Vater.
Bitten, suchen, anklopfen – und die große Gabe
Dazwischen findet sich ein Dreiklang, der Aufforderung und Verheißung enthält. Vom Bittgebet ausgehend, führt er tiefer. Es ist der Dreiklang von „bitten“ – „suchen“ – „anklopfen“. Verheißen ist ihm die Gabe, das Finden, die Öffnung. Darin verbirgt sich die Bewegung der betenden Existenz und zugleich ihre Intensität. Zunächst heißt das einfach: Leg in Dein Beten Deine ganze Existenz! Nimm Deine Bedürfnisse mit. Das darfst Du. Das sollst Du sogar. Noch einmal: Leg Dich Gott in Deiner ganzen Bedürftigkeit in die Hände. Tust Du das und bleibst darin nicht bei Dir selber stecken, indem Du Gott nicht darauf begrenzt, ein bloßer „Erfüller“ Deiner Bedürfnisse zu sein, indem Du sie IHM wirklich in die Hände legst, auf dass sein Wille geschehe, dann wird aus Deiner Bitte die Suche nach der Wirklichkeit Gottes und das Verlangen, dass sich Dir Gottes Wirklichkeit auftut. Und dieser auf Gott hin geöffneten Existenz, die sich bittend, suchend, anklopfend Gott zuwendet, kann Gott seine Wirklichkeit öffnen und seine Gegenwart schenken, sie erfüllen mit der Gabe seiner selbst. In dieser Gabe seiner selbst ist aber auch der Raum für alle kleinen und großen Gaben, die seine Vorsehung schenkt, wenn sie dem Bittenden zum Heile sind. Wir sollen im Beten keine unserer Nöte auslassen. Alles können wir ihm anvertrauen. Was aber gut ist, weiß er allein. Denn wir wissen ja nicht, um was wir in rechter Weise bitten sollen, sagt Paulus. Aber wenn wir im Beten nicht nachlassen, wenn wir uns immer mehr und tiefer darin auf ihn hin öffnen, dann wird er umso mehr seine lebenschaffende Gegenwart schenken. Das ist sicher. Und es ist entscheidend. Deshalb steht am Ende unseres Sonntagsevangeliums die Gabe aller Gaben – der Heilige Geist:
„Komm, Heiliger Geist, erfülle die Herzen deiner Gläubigen!“.
Dr. theol. Martin Brüske,
geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.
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