Die geheimen Entscheidungen der diskutierenden Klasse, die Klarheit des Evangeliums und der synodale Weg
von Dominik A. Thomas
Rätsel über Rätsel gibt der synodale Weg dem politisch-theologischen Beobachter auf: Die „diskutierende Klasse“ entscheidet über den Ausnahmezustand. Was für ein Paradox!
Die „diskutierende Klasse“: So charakterisierte der spanische Staatsdenker Juan Donoso Cortés den Liberalismus seiner Zeit. Unfähig zum „Entweder / Oder“ – er ist ein Zeitgenosse Kierkegaards! – beantrage diese Klasse des perpetuierten Gesprächs Vertagung der Sitzung, wenn im Plenum des Parlaments „Jesus oder Barrabas“ zur Debatte stünde. Sollte deshalb nicht auch der theologische Liberalismus unfähig zur Entscheidung sein? Tatsächlich ergriff er zupackend seine Chance als 2018/19 in Folge der erneut öffentlich werdenden Missbrauchskrise das bischöfliche Amt in Deutschland Lähmung und Schwäche infolge seiner Unfähigkeit zu glaubwürdiger Busse und Umkehr zeigte. Das lakonische „Nein“ von Kardinal Marx auf die Frage von Christiane Florin in der Pressekonferenz nach der Vollversammlung der Bischöfe in Lingen im Frühjahr 2019, ob einer – wenigstens einer! – der Versammelten die Konsequenz des Rücktritts erwäge, wird mir noch sehr lange in den Ohren gellen. Lingen 2019 wird einmal als ein Schlüsselereignis der deutschen Kirchengeschichte gewertet werden – da bin ich mir sicher. Allerdings wohl nicht als Sternstunde, sondern als katastrophale Wirkung einer schon lange sich vollziehenden Katastrophe. Zu den Paradoxen der Sünde gehört es, dass die Verweigerung von wirklicher Reue, Umkehr und Buße, nicht Handlungsfreiheit erhält, sondern immer tiefer in Lähmung und Schwäche hineinführt, die vermeintliche Schwäche der Umkehr in Wahrheit aber ein Weg zu neuer Freiheit ist. So hatten unbussfertige Bischöfe in Lingen nur kompensatorische Ersatzhandlungen anzubieten. Daraus ist der synodale Weg geworden.
„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Carl Schmitt, Politische Theologie I, 1922, erster Satz). Ob die Funktionäre des deutschen Laienkatholizismus diese Sentenz wohl im Kopf hatten, als die Spitze der Bischofskonferenz an sie herantrat? Jedenfalls haben sie – im Verein mit der Spitze der DBK, die hier wohl ihre Chance sah, noch einmal davonzukommen – entschieden und Tatsachen geschaffen. Meine These ist also: Am Anfang des Diskussionsprozesses auf dem synodalen Weg stehen Entscheidungen, die seine Ergebnisse präjudizieren. Gleichzeitig vermeiden Bischöfe, die sich hinsichtlich der zu erwartenden Ergebnisse die größten Sorgen machen, ängstlich Entscheidungen, weil sie bis zum katastrophalen Ende dem Gesprächsideal der diskutierenden Klasse genügen wollen.
Ein Korsett von Entscheidungen, das dem Geist die Freiheit nimmt
Mangelnde Legitimation
Betrachten wir zunächst die längst getroffenen Entscheidungen. Ihre Dialektik steckt wirklich voller Paradoxien: Die „diskutierende Klasse“ des theologischen Liberalismus setzt – vor aller Diskussion! – Entscheidungen, die einen kirchlichen Ausnahmezustand jenseits des Rechts etabliert haben. So ein Gebilde wie den synodalen Weg sieht das kirchliche Verfassungsrecht, das im Dogma wurzelt, schlicht nicht vor. Sein Konstrukt entstand ohne Bindung an Dogma und kanonisches Recht in einer Blackbox zwischen ZDK und der Spitze der Bischofskonferenz. Und dies ist gewollt. Denn die Bindung an Dogma und Recht ist gerade das, was für die Protagonisten jenes Hindernis darstellt, das unbedingt beseitigt werden muss.
Woher zunächst das ZDK die Traute nimmt, Legitimation im Blick auf Aussagen zum Kernbereich kirchlichen Lebens zu beanspruchen, die am Ende verbindlich werden sollen, ist mir verborgen geblieben. Denn solche Legitimation ist hier weder durch Repräsentation noch durch Sendung gegeben. Mich repräsentieren sie jedenfalls nicht. Ich empfinde ihr Auftreten als Zumutung. Denn Katholikinnen und Katholiken die sich für eine andere, tiefere und radikalere Form der Erneuerung und Reform der Kirche einsetzen, sind von vornherein ausgegrenzt worden. Man könnte hier mit bitterer Ironie reagieren – und die geniale Sentenz Loriots zitieren: „Liberal ist eben im liberalen Sinn nicht unbedingt liberal“. Am Anfang des synodalen Weges steht ein aus der notvollen Schwäche der einzig bevollmächtigten Verantwortungsträger – unsere Bischöfe – geborener Akt illegitimer Okkupation von Verfahrensmacht durch das ZDK.
Auch die Mitglieder der Bischofskonferenz haben – obwohl jeder einzelne Träger des Lehramts ist und für die Integrität der Lehre verantwortlich – keinerlei Kompetenz zu einer substanziellen Veränderung der Lehre. Die Texte von Forum 1 und 4, die jetzt zur Debatte stehen, stellen in Tat und Wahrheit einen Bruch mit verbindlichen Teilen dieser Lehre dar. Dies ist weniger offensichtlich in Forum 1, aber programmatisch klar in Forum 4. Denn hier geht es nicht um Einzelfragen, sondern schlicht um das Programm einer anderen Ethik und Anthropologie, die bricht mit dem Zeugnis der Schrift, wie es die Kirche durch die Jahrhunderte bewahrt hat. Hier steht also das Evangelium auf dem Spiel.
Zwischen Bedeutungslosigkeit und Revolution
So zeigt sich im Blick auf den Ausgang ein weiteres Paradox: Entweder ist diese ganze Aktion am Ende völlig bedeutungslos. Dann werden Texte produziert und verabschiedet, die von Rom gleich wieder kassiert werden und in der Versenkung verschwinden. Daran aber glaube ich nicht: Viel zu hoch wäre der Preis der Enttäuschung für die, die beinahe ihre letzte Hoffnung für die Kirche auf den synodalen Weg gesetzt haben. Das Ergebnis wäre so die mal lautstarke, mal stille Selbstpulverisierung.
Oder wir haben ein in Wahrheit revolutionäres Szenario vor uns. Wie 1789: Die „Generalstände“ verwandeln sich in eine verfassunggebende „Nationalversammlung“. Das hieße, man wäre bereit für die Durchsetzung der Reformagenda den Bruch der kirchlichen Communio in Kauf zu nehmen oder man hofft, dass Rom mittlerweile so schwach ist, dass es einen teilkirchlichen „Sonderweg“ hinnehmen muss. Aber auch hier steht am Ende die Selbstpulverisierung. Anders als im Reformationszeitalter ist der revolutionäre Flügel religiös viel zu leer, um Bedeutung zu gewinnen: Der deutsche Nationalkatholizismus wäre eine Totgeburt. Wie weit die Analogie der Revolution allerdings trägt, wäre eine eigene Frage. Gelingt die Okkupation des Gewaltmonopols im revolutionären Prozess nicht, führt er in den Bürgerkrieg. In der Kirche gibt es aber gar kein okkupierbares Monopol äußerer Zwangsgewalt. Hier ist das notwendige Ergebnis unter modernen Bedingungen das Schisma oder schlicht die Auflösung.
Agenda und Ergebnisse stehen vorher fest
Für den Weg zu ihrem Ziel aber haben die Protagonisten – und dies ist der zentrale Punkt – durch das Verfahren der Bestellung der Synodalen die Ergebnisse der Diskussion auf dem synodalen Weg bewusst und gewollt präjudiziert. Angesichts der so zustande gekommenen Zusammensetzung immer wieder von einem offenen, intensiven Ringen zu sprechen – das ist Ausdruck einer ungeheuerlichen Arroganz der (Verfahrens-)Macht und einfach unerträglich.
Es ist also weiter offensichtlich, dass hier ein vorher feststehendes liberales Reformprogramm in der Gestalt eines bekannten Forderungskataloges abgearbeitet werden sollte – mit dem Missbrauchsskandal als lediglich äußerem Anlass.
Fatale Faktenresistenz
Blicken wir zuletzt noch auf die Entscheidungen, die auch hier bereits im Vorfeld gefallen sind! Ich bestreite dabei nicht die katalysierende Wirkung des Ereignisses, ebenso wenig wie die subjektive Betroffenheit der Synodalen und ihre Ernsthaftigkeit. Aber tatsächlich ist die Vorstellung, dass die Durchsetzung der liberalen Reformagenda etwas mit der echten Bewältigung des Missbrauchs zu tun hat, im besten Fall gutgläubiger Selbstbetrug. Die entscheidende, in der Tat systemische Ursache der Vertuschung, die bis zum ekklesialen Atheismus und zur Selbstvergötzung reichende Selbstbezogenheit der Kirche, wird nicht aufgebrochen, sondern im Mythos, man müsse das Kirchenschiff lediglich „der Moderne“ anpassen, um es wieder flott zu bekommen, am Ende noch verstärkt. Weil man darin gefangen bleibt, ist der Brief von Papst Franziskus an das Volk Gottes in Deutschland und überhaupt seine Ekklesiologie seit Evangelii gaudium hierzulande nicht verstanden worden.
Entschieden verweigert wird überdies die Kenntnisnahme von gut dokumentierten Fakten: So die Tatsache, dass theologisch konservative, aber nicht hierarchisch strukturierte Kirchen ohne sakramentales Amt (wie die amerikanischen southern baptists) und theologisch ausgesprochen liberale Kirchen mit sakramentalen Strukturen (wie die episcopals ebendort) ungefähr mit demselben Ausmaß an Missbrauch in ihren Reihen konfrontiert sind, wie die katholische Kirche. Gleichzeitig wird auch die Kenntnisnahme des wichtigsten „katholischen Spezifikums“ verweigert: Die Tatsache, dass sich das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Opfern im Vergleich zu anderen Kirchen und anderen gesellschaftlichen Trägern (Sport, Schule) statistisch signifikant und in weltweit gewonnenem Zahlenmaterial katholisch massiv in Richtung der männlichen Opfer ab der Pubertät verschiebt. Selbst eine Nachauswertung der MHG-Studie kam zum Ergebnis, dass sich dieses Verhältnis nicht verändert hat, seitdem in den deutschen Pfarreien verstärkt Messdienerinnen anzutreffen sind. Verweigert wird weiter, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir es mit – gerade in den schweren Fällen – sehr bewusst agierenden Tätern zu tun haben, die sich ihren Opfern oft lange in einem Grooming annähern, und keinesfalls mit identitätsverunsicherten Zufallstätern, die unter Stress und Alkohol aus dem Nichts übergriffig werden. Natürlich kommt das vor. Dass es aber im Blick auf die schweren Fälle mit ihren ungeheuren seelischen Verwüstungsspuren typisch ist: Das ist ein böses Märchen und nichts weiter als Verdrängung. Ich halte diese Verweigerung gegenüber Fakten, die genaue Reflexion bräuchten, für zynisch.
Die verhinderte Suche nach dem Willen Gottes
Bilanz: Die längst getroffenen Entscheidungen verhindern einen Prozess, indem die verschiedenen kirchlichen Gruppen wirklich und wahrhaftig gemeinsam nach dem Willen Gottes für seine Kirche heute suchen. Hier wird nicht mehr gesucht, weil die, die Verfahrensmacht haben, vermeintlich längst gefunden hatten. Das Zwangskorsett der längst getroffenen Entscheidungen nimmt dem Heiligen Geist den Raum, um frei zu wehen. Da helfen dann auch keine geistlichen Begleiter mehr. Sie kommen immer schon zu spät.
„Ja, Ja“ und „Nein, Nein“: Über Entscheidungen im Licht des Evangeliums
Kommen wir zu den ängstlich vermiedenen Entscheidungen!
Dialogbereitschaft als Tugend
Unsere Zeit hält Dialogbereitschaft für eine öffentliche und private Tugend. Es gilt, gerade in konfliktbeladenen Situationen, den Gesprächsfaden so lange als möglich aufrecht zu erhalten. Ein ehrlicher Dialog ist eine Bedingung dafür, dass plurale, konfliktäre Interessen zu einem für alle Beteiligten tragfähigen Ausgleich gelangen. In einer individualisierten Gesellschaft ist die Notwendigkeit solchen Ausgleichs eine soziale Standardsituation. Entsprechend neigen wir dazu, Dialogbereitschaft spontan mit sozialer Anerkennung zu honorieren. Darin liegt aber auch ein Problem. Die Sehnsucht durch anhaltende Dialogbereitschaft Anerkennung einzuheimsen, kann die Einsicht überdecken, dass die Bedingungen des Dialogs sich verändert haben oder gar nicht mehr gegeben sind. Denn ein Dialog, indem Personen sich wirklich begegnen, ist an Bedingungen des Gelingens gebunden. Deshalb ist ein idealer Dialog auch eher eine regulative Idee als eine durchschnittlich antreffbare Wirklichkeit. Vermeintlich wertvolle Situationen dialogischer Begegnung können manipuliert und instrumentalisiert werden, um machtförmig in ihnen zu agieren. Und gerade an unserer Sehnsucht nach sozialer Anerkennung durch Dialog kann solche Instrumentalisierung anknüpfen.
Grenzen des Dialogs
Ich sage es frei heraus: Ich sehe einige unserer Bischöfe, die sich der theologischen Problematik des synodalen Weges bewusst sind, in der Gefahr, solcher Instrumentalisierung und Manipulation der Dialogsituation zu erliegen – und zwar aus den allerehrenwertesten Motiven. Am Ende hätten sie genau zu dem beigetragen, was weiter oben als Selbstpulverisierung der katholischen Kirche in Deutschland bezeichnet wurde. Und dies, weil sie Entscheidungen ängstlich vermeiden, die dem Wertbild unbedingter Dialogbereitschaft vordergründig zu widersprechen scheinen.
In der Tat: Dabei kann es weder um Dialogverweigerung noch um Dialogabbruch gehen. Gesprächsbereitschaft ist hohe Pflicht und braucht Langmut und Demut. Dialog in einer menschlich und sachlich schwierigen Situation hat immer auch eine Dimension der Selbstentäußerung. Und dennoch kann ein nur noch vermeintlicher Dialog sinnlos werden, weil seine Bedingungen nicht mehr gegeben sind. Und dann ist allenfalls deutlich „Nein“ zu sagen und momentane Enthaltung zu üben, bis die Bedingungen wiederhergestellt oder auf anderer Ebene sinnvoll neu definiert sind. Die Pflicht zum Dialog enthält die Pflicht, die Bedingungen seines Gelingens im Auge zu behalten, sie zu pflegen und immer neu kritisch zu unterscheiden. Niemandem nützt es, wenn ein Dialog sich unter der Hand in eine situative Lüge verwandelt, die etwas vorspiegelt, was längst nicht mehr gegeben ist.
Der innerkirchliche Dialog
Dialog innerhalb der Communio der Kirche hat noch einmal spezifische Bedingungen. Kirche konstituiert sich als Gemeinschaft des Glaubens, zu der eine geteilte Lebensform gehört, die wiederum die Bindung an ein bestimmtes Ethos, eine Welt der Sakramente, eine rechtliche und institutionelle Ordnung einschließt. Diese Bindung kann in einem innerkirchlichen Dialog nicht zur Disposition stehen. Sie ist vielmehr Bedingung seines Gelingens. Ohne diese Bindung ist er nicht mehr der Dialog der Communio der Kirche. Mit denen, die solche Bindung nicht mehr oder noch nicht mitvollziehen können, ist ein anderer Dialog zu führen. Aber es wäre Lüge ihn als Dialog innerhalb des Raums kirchlicher Communio zu deklarieren.
Gegenwärtig sind die Bedingungen des innerkirchlichen Dialogs nicht gegeben
Mindestens der Text von Forum 4 negiert diese Bindung nun ganz direkt. Er bricht mit fundamentalen Prinzipien einer christlichen Sicht von Anthropologie und Ethik der Sexualität. Er zerstört die Bedingungen humanen Gelingens menschlicher Geschlechtlichkeit. Und er ist blind gegenüber der realen Soziologie des Begehrens in unserer Gegenwart und der riesigen humanen Herausforderung, die damit gegeben ist. So ist festzuhalten: Die Bedingungen eines innerkirchlichen Dialogs sind hier nicht mehr gegeben. Sie werden programmatisch negiert.
Mit einem Wort: Die Fortsetzung dieses als Gespräch innerkirchlicher Communio längst zerstörten Dialogs ist eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Wer sich daran sehenden Auges beteiligt, beteiligt sich an einer Lüge. In einer solchen Situation ist es ungenügend, nur Alternativtexte einzubringen – so ehrenwert die Motive dafür sind. Denn der Prozess des synodalen Weges ist durch die Entscheidungen, die ihm zugrunde liegen, unaufhaltsam auf sein Ziel hin determiniert worden. Wer hier weiter mitmacht, der ist mitverantwortlich für den Ausgang.
Entscheidung im Licht des Evangeliums
Das „Ja“ und „Nein“ christlicher Entscheidung unterscheidet sich von der potenziellen Leere des Dezisionismus eines Carl Schmitt durch seine Bindung an die Wahrheit des Evangeliums. Aus dieser Bindung kommen ihre Klarheit und Leuchtkraft. Die Leuchtkraft entschiedener Wahrheit aber hilft zu unterscheiden. Deshalb, liebe Bischöfe, beinahe flehentlich möchte ich Sie bitten: Sagen Sie ein klares „Nein!“ zum Verrat an einer christlichen Sicht des Menschen! Sagen Sie ein klares „Nein!“ zum Verrat an der humanisierenden Kraft des Evangeliums in der Begegnung der Geschlechter! Sagen Sie Nein zu einem Weg, der in ein kirchliches Trümmerfeld führt! Helfen Sie bitte der Herde, die Ihnen anvertraut ist, die Geister zu unterscheiden, indem Sie mit Ihrer Verweigerung ein mutiges Zeichen setzten. Es ist Ihre Pflicht. Denn erst aus dieser Klarheit kann ein Reformdialog entstehen, der seinen Namen auch verdient hat: Er wäre bitter nötig.