Dass Herden ihren Hirten nicht folgen wollen und sich lieber Anführern zuwenden, die ihnen Ausschweifung genehmigen, statt einem Gott und festen Geboten zu gehorchen, ist historisch ein wiederkehrendes Schema der Menschheitsgeschichte. Helmut Müller zieht die Parallele zwischen der Revolte am Berg Sinai und jener am Fuße des Synodalen „Berg“.
Gläubige und ihre Hirten hatten sich noch nie nicht leicht miteinander getan. Das haben jüngst die Vorgänge in Frankfurt bei der 4. Vollversammlung des Synodalen Weges gezeigt. Bischöfe, die Hirten, wurden in den Medien und vor Ort häufig als feige, nicht informiert, ängstlich, beratungsresistent und reformunwillig dargestellt. Gläubige, also die Herde, hätten dagegen die Hand am Puls der Zeit, wären reformfreudig und wurden als mutig dargestellt.
Eigentlich sollte die Herde den Hirten folgen und nicht umgekehrt. Auf dem Synodalen Weg scheint jedoch in Realität die „Herde“ in Gestalt des ZdK[1] und der Mehrheit der Medien die Hirten vor sich her zu treiben und zusätzlich eine Majorität der Hirten eine Minderheit[2]der eigenen Brüder im Amt zu schikanieren.
Ständig hört man zudem den Vorwurf, dass die Hirten keinen Kontakt mehr zur Basis hätten. So gut wie nie ist zu hören, dass die Schuld vielleicht an der Basis liegt, die den Kontakt zu den Hirten gar nicht mehr sucht.
Der Aufstand der Herde gegen die Hirten
Nicht ohne Grund hat schon die hl. Schrift das Bild von „Hirte und Herde“ gewählt. Für das ursprüngliche Nomadenvolk war das ein Bild aus seinem Alltag. Aber auch damals hatte die Herde schon gegen ihre Hirten revoltiert. Ich will nur eine Revolte exemplarisch herausgreifen. Gestatten Sie mir, dass ich die Revolte ein wenig verfremde. Nehmen wir einmal an, es hätte damals – etwa vor 3.000 oder sogar noch mehr Jahren – im Pharaonenreich einen fiktiven Auslandskorrespondenten der noch fiktiveren Zeitung „Stimme des Pharao“ gegeben als ein weit verbreitetes Medium auf Papyrusrollen, das interessierte Bürger im Flussdelta des Nils täglich, wöchentlich oder wie auch immer gelesen hätten. Erlauben Sie mir, dass ich weiter phantasiere: Eine solche Schriftrolle hätte man als Grabbeigabe eines zeitgenössischen Hofbeamten des Landes Gosen[3], aus dem die Hebräer ausgewandert sind, gefunden, und Teile dieses Berichts wären in den Bibel-Büchern Numeri und Exodus für die Nachwelt noch aufzufinden. Ich gebe im Folgenden auch die entsprechenden Quellen an.
In der Stimme des Pharao wäre also eines Tages zu lesen gewesen:
Revolte am Sinai – mit falschen Versprechungen irregeleitete Hebräer revoltieren gegen das Führungsduo Mose und Aaron
Von unserem Auslandskorrespondenten Thutmosis
„Der ursprüngliche Enthusiasmus der Hebräer nach dem Untergang unseres Heeres im Schilfmeer ist verflogen. Ihnen wurde vom Führungsduo Mose und Aaron ein Land versprochen, in dem Milch und Honig fließen, Freiheit von ägyptischer Knechtschaft herrscht, ein selbst bestimmtes Leben, freie Religionsausübung, freie Wahl des Geschlechtspartners ohne Beachtung von Abhängigkeitsverhältnissen möglich wären und keine Fremdherrschaft mehr unter der Knute pharaonischer Wesire stattfindet. Das war die Botschaft, mit der sie aus unseren Städten in die Wüste gelockt wurden.
Das ging nicht lange gut. Hunger, Durst, kein Dach über dem Kopf, feindliche Wüstenstämme und täglich den Stab in der Hand glichen allem anderem als einem „Gelobten Land“, das ihnen versprochen worden war. Als sie nach Mara kamen, konnten sie das Wasser von Mara nicht trinken, weil es bitter war. Da murrte das Volk gegen Mose und sagte: Was sollen wir trinken? (Ex 15,23 -24). Mose ist offensichtlich ein charismatischer Führer, der das Volk immer wieder beruhigen konnte. Wenn ihm das mal wieder gelungen war, konterte er sofort mit Geboten oder Forderungen seines Gottes, mit dem er offenbar – nach Eigenbekundung – in Verbindung steht. Dem Volk teilte er mit: Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und tust, was in seinen Augen gut ist, wenn du seinen Geboten gehorchst und auf alle seine Gesetze achtest, werde ich dir keine Krankheiten schicken, die ich den Ägyptern geschickt habe. Denn ich bin der Herr, dein Arzt (Ex 15,26).
Lieber an Fleischtöpfen sitzen bleiben als ins Gelobte Land aufbrechen
Das sollte für einen gescheiten Hebräer eigentlich verdächtig klingen. Es steht nur dieser eine Gott zur Wahl. Keine Lieblingsgottheit unter vielen, die auch andere Gaben versprechen, die attraktive Lebensentwürfe wie die Liebesgöttin Qadesch[4] anbieten und das Leben verschönern, wie bei uns. Mose dagegen schwört ziemlich rigide auf die ausgrenzenden Gesetze dieses eifersüchtigen Gottes, der keinen anderen neben sich haben wollte.
Das konnte ja nicht gut gehen! In der Wüste Sin murrte die ganze Gemeinde der Israeliten gegen Mose und Aaron. Sie sagten zu ihnen: Wären wir doch in Ägypten durch die Hand des Herrn gestorben, als wir an den Fleischtöpfen saßen und Brot genug zu essen hatten. Ihr habt uns nur deshalb in die Wüste geführt, um alle, die hier versammelt sind, an Hunger sterben zu lassen(Ex 16,2f). Dieser Mose ist ein genialer Führer. Es gelang ihm noch mehrere Male das revoltierende Volk zu beruhigen. Andererseits ist er auch ein frommer Mann, glaubt wohl selbst an das, was er verkündet, und sucht in der Einsamkeit des Berges Sinai seinem strengen Gott zu begegnen.
Lieber Feste feiern, als sein Leben ändern
Diese Gelegenheit ergriff das Volk. Der strenge Mose ist auf dem Berg, packen wir uns den schwächeren Aaron, sagten sie sich wohl: Komm mach uns Götter, die vor uns herziehen. Denn dieser Mose, der Mann, der uns aus Ägypten heraufgebracht hat – wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist. (Ex 32,1) Der willfährige Aaron lässt sich nicht lange bitten – der charismatische Mose ist auf dem Berg – jetzt hat er freie Hand und sammelt alles Gold ein, das das Volk bei sich hat und lässt ein goldenes Kalb gießen, wie er es von Götterstandbildern aus Ägypten kennt: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben. Aaron baute vor dem Kalb einen Altar und rief aus: Morgen ist ein Fest zur Ehre des Herrn. Das Volk setzte sich zum Essen und Trinken und stand auf, um sich zu vergnügen (Ex, 32, 4 – 6).Wie erlöst von dem strengen Gott auf dem Berg und seinem ebenso strengen Verehrer, tanzte das Volk ausgelassen um das goldene Kalb und wohl auch um den weniger strengen Aaron, der den Bedürfnissen eines freien, selbst bestimmten Lebens und freier Religionswahl entgegenkam.
Lieber Hirten bedrängen, als charismatischen Führern folgen
Das ging so lange gut, bis Mose vom Berg kam. Als er dem Lager näherkam und das Kalb und den Tanz sah, entbrannte sein Zorn. Er schleuderte die Tafeln fort und zerschmetterte sie am Fuß des Berges. Dann packte er das Kalb, das sie gemacht hatten, verbrannte es im Feuer und zerstampfte es zu Staub. (Ex 32, 19f). Aaron, von Mose zur Rede gestellt, antwortete kleinlaut: Sie haben mir das Gold übergeben, ich habe es ins Feuer geworfen, und herausgekommen ist dieses Kalb (Ex 32,24). Der vor dem Volk eingeknickte Aaron zeigt sich hier in der ganzen Schwäche seiner Person, als wäre es ein magisches Geschehen gewesen und Feuersglut hätte aus Schmuck und Goldmünzen die Gestalt des goldenen Kalbes geschmiedet.“
So weit der Bericht des Auslandskorrespondenten Thutmosis in den Papyrusrollen der Stimme des Pharao.
Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist (Micha 6,8)
Es ist also nichts Neues, dass Gläubige sich gegen ihre Hirten wenden, seien sie in Rom oder sonst wo, auch wenn es charismatische Führer sind – oder gerade deshalb. Viel lieber setzt man Hirten vor Ort unter Druck, die die Hand angeblich am Puls der Zeit haben. Aber haben sie dann auch noch das Ohr am Herzen Gottes?
Im Buch Micha heißt es: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist. Das Wissen um das „gut sein“ ist offensichtlich im Judentum und auch später im Christentum Heilswissen, kein Herrschaftswissen[5]. Das Ohr am Herzen Gottes erfährt es, die Hand am Puls der Zeit, sollte das Gehörte umsetzen und nicht bloß nach eigenem Gusto zusammenbasteln. Der Religionsphilosoph und Heidegger-Schüler Bernhard Welte[6] formulierte das einmal wie folgt: „Die Welt bedarf etwas, was sie sich nicht selbst zu sagen vermag. Sie bedarf des Zuspruchs, des göttlichen Zuspruchs.“[7] Und er meinte schon vor gut 50 Jahren, dass die Kirche die Aufgabe habe, diesen Zuspruch zu vermitteln, weit davon entfernt, sich wie auf dem synodalen Weg nur noch mit sich selbst zu beschäftigen.
Können uns Humanwissenschaften sagen was gut ist?
In einer säkularen, hoch entwickelten, städtischen und parlamentarischen Kultur ist ein Aufstand der Herde gegen den oder die Hirten nichts Ungewöhnliches. Aber für Religionen gelten andere Maßstäbe. Selbst Jürgen Habermas[8] – der nachmetaphysische Denker schlechthin, erkennt diese Sonderstellung der Religionen an und spricht von einem sakralen Komplex[9], der auch noch für nachmetaphysische bzw. säkulare Gesellschaften hohe Bedeutung habe, weil nach Habermas Religionen am Anfang ethischen Denkens standen.
Was soll man von Hirten halten, die das alles nicht mehr zu wissen scheinen, und nicht aus Wut wie Mose Gesetzestafeln zertrümmern, sondern meinen, Humanwissenschaften könnten in der Frage nach dem Guten mit den Gesetzestafeln vom Sinai und dem großen Galiläer gleichrangig konkurrieren?
[1]https://neueranfang.online/zdk-will-abweichler-in-die-knie-zwingen/
[2]https://neueranfang.online/eklat-beim-synodalen-weg-haltet-stand/
[3]https://de.wikipedia.org/wiki/Goschen_(Bibel)
[4]https://de.wikipedia.org/wiki/Qadesch
[5]https://de.wikipedia.org/wiki/Herrschaftswissen#Max_Schelers_philosophischer_Ansatz
[6]https://de.wikipedia.org/wiki/Bernhard_Welte
[7]Bernhard Welte, „Die Würde des Menschen und die Religion“; Frankfurt 1977
[8]https://www.cairn.info/revue-de-metaphysique-et-de-morale-2004-4-page-460.htm#citation:~:text=Mit%20der%20Grenzziehung,der%20Vernunft%E2%80%9C%20entgegen
[9]https://www.grin.com/document/1172272
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Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag, Link: https://www.fe-medien.de/hineingenommen-in-die-liebe
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