Das neue Missbrauchs-Gutachten aus dem Erzbistum München bietet derzeit großen medialen Diskussionsstoff. Was ist nun wirklich dran an den Attacken auf Joseph Ratzinger/ Papst Benedikt XVI.?

„Benedikt XVI. demontiert sich selbst.“ Mit dieser Überschrift, die sich in Varianten überall in Presse und Medien wiederholte, machte die Augsburger Allgemeine am Morgen nach der Veröffentlichung des Gutachtens Westphal/Spilker/Wastl zum Missbrauch in der Erzdiözese München auf. Der Autor übernahm darin die Aussage des Münsteraner Kirchenrechtlers Thomas Schüller, der ehemalige Papst habe „eindeutig gelogen“. Wirsching begründet das mit der Lektüre der 82-seitigen Stellungnahme des ehemaligen Papstes, die zudem noch abgefasst sei „in einem kalten, selbstgerechten Ton.“ Ratzingers Verteidigung stelle „die beispiellose Selbstdemontage eines ehemaligen Kirchenoberhaupts dar, das noch dazu offenbar der Lüge überführt wurde. Benedikt zeigt nicht nur ein taktisches Verhältnis, was sein Erinnerungsvermögen angeht – er zeigt auch ein erschütterndes (Nicht-)Verständnis, was sexualisierte Gewalt ist und welches Leid sie anrichtet.“ Es geht also um zwei Vorwürfe. Erstens, den der bewussten Lüge, zweitens, den der mangelnden Empathie.

Ohne Empathie?

Vorwurf Nummer zwei ist prima vista nicht ganz leicht zu entkräften. Die 82-seitige Stellungnahme des ehemaligen Papstes strahlt in der Tat keine Wärme aus; sie geht ganz von der juristischen resp. justiziablen Dimension der Verantwortlichkeit des ehemaligen Erzbischofs von München aus. Den Verfasser hat wahrscheinlich weniger die Angst vor persönlicher Demütigung die Feder geführt, als die Angst, es könne das „Amt“ beschädigt werden, wenn etwas nicht korrekt im juristischen Sinne gelaufen sei.

Wer immer den fast 95-jährigen Emeritus bei der Abfassung beraten hat (hat er sie noch selbst verfasst?) – er hätte klugerweise darauf hinweisen müssen, dass die Stellungnahme nicht in den Händen von Forensikern und kühl abwägenden Rechtsanwälten verbleiben würde. Missbrauch geht zunächst die Opfer an, denen eine fundamentale seelische Beschädigung zugefügt wurde. Opfer lesen den Text nicht als Amtsvorgang – sie vermissen die menschliche Dimension. Ich kann das gut verstehen. Ich habe selbst den sexuellen Missbrauch durch einen Vertreter der Kirche erlebt, habe meinen Fall 2008 öffentlich gemacht und verfolge seither jede Reaktion kirchlicher Vertreter auf Missbrauch mit äußerstem Interesse – hin und wieder auch mit gehörigem Misstrauen.

Auf diesem Hintergrund bezeuge ich: Weder der Vorgänger noch der Nachfolger Benedikts haben sich der Problematik des Missbrauchs mit auch nur annähernd großer Empathie und tätiger Sorge angenommen, wie Benedikt das nachweislich getan hat.

Nicht die schlechteste Bilanz

Benedikt war es, der noch als Präfekt der Glaubenskongregation die wahrhaft unerquickliche und irgendwie uferlose Materie „Missbrauch“ an seine Behörde holte, weil ihm die Kleruskongregation zu lax damit umging. 1988 war es wiederum Joseph Ratzinger, der auf Schwächen des kirchlichen Gesetzbuches hinwies. 2001 und 2003 erfolgten auf seine Initiative hin Verschärfungen des kirchlichen Strafrechts und bindende Vorschriften für die Diözesen. In der Causa Groer war es Ratzinger, der von römischen Hardlinern ausgebremst wurde, als er versuchte, eine Untersuchungskommission einzusetzen.

Die gleichen Kräfte in Rom waren es, die Johannes Paul II. dahingehend beeinflussten, dem dringenden Rat Ratzingers, den Fall Marcial Maciel Degollado endlich anzupacken, eine Abfuhr zu erteilen. Als Degollado mit hunderten von Gästen, dazu mit Gepränge, Würdenträgern und Papstaudienz in Rom sein 60-jähriges Priesterjubiläum feierte, blieb Ratzinger einst demonstrativ den Feierlichkeiten fern. Stattdessen beauftragte er Charles Scicluna, den Chefankläger der Glaubenskongregation, die Ermittlungen gegen Degollado entschlossen voranzutreiben. Kaum war Ratzinger Papst, führte er die Aufarbeitung des Megaskandals ohne nach rechts und links zu schauen zu Ende.

Die sich dadurch entfaltende Dynamik im Vatikan ist anhand von Zahlen nachvollziehbar: Für die Jahre 2008 und 2009 ist die Zahl von 171 Priestern bekannt, die ihres Amtes enthoben wurden. In den Jahren 2011 und 2012 suspendierte Benedikt 384 Priester und Bischöfe wegen Missbrauch und Vertuschung, darunter den irischen Bischof und Papstsekretär John Magee und den kanadischen Bischof Lahey. Benedikt war es, der ganze Bischofskonferenzen – so die irische und die amerikanische – antanzen ließ und sie schärfstens ermahnte.

Als 2008 / 2009 der Missbrauchsskandal in den U.S.A. hochkochte, hat ihn Benedikt nicht etwa aus dem Palazzo heraus kommentiert; er besaß den Mut, mitten hinein in den Hexenkessel zu fahren. Schon im Flugzeug versprach Benedikt, die Kirche werde alles tun, um eine Wiederholung solcher Vorfälle zu verhindern: „Wir werden Pädophile definitiv aus dem Priesteramt ausschließen. Es ist wichtiger, gute Priester zu haben, als viele Priester.

Die unzutreffende Terminologie – Benedikt meine offenkundig primär „Ephebophile“ (Wikipedia: „die homosexuelle … Sexualpräferenz zu pubertären und postpubertären Jungen“) und nicht „Pädophile“ (Wikipedia: „das primäre sexuelle Interesse an Kindern vor Erreichen der Pubertät“ und zwar vornehmlich weiblichen Geschlechts) – zeigt einerseits die damals noch anhaltende Suche nach Begriffen für das Ungeheuerliche, wie aber auch die unverstellte Erkenntnis, worum es in der Sache ging: um Knabenschändung durch Priester, die aus welchen Gründen auch immer ins Amt gekommen sind.

Seit Jahrzehnten weisen alle verfügbaren Untersuchungen auf ein denkwürdiges katholisches Spezialproblem hin: 80 Prozent der Fälle beziehen sich auf gleichgeschlechtliche Übergriffe auf postpubertäre Jungen.

Deutsche Bischöfe mit Nachholbedarf

So weit sind manche Kirchenvertreter in Deutschland heute noch nicht. Der auch noch aus Trierer Zeiten und nun durch Westpfahl/Spilker/Wastl schwer belastete Münchner Kardinal Marx, der es offenkundig erst zehn Jahre nach seinem Amtsantritt in München für notwendig hielt, sich mit dem Missbrauch in seiner Erzdiözese näher zu befassen, erschien nicht zur Vorstellung der Studie.

In seiner Erklärung landet der Erzbischof (nach einigen reuerhetorischen Übungen) mit einer schwerkraftfreien Pirouette gleich wieder beim „Synodalen Weg“, – da werde ja die „Reform der Kirche“ nun endlich ins Werk gesetzt. Der Brückenschlag von einem Ablenkungsmanöver in das nächste? Wie die öffentliche Entrüstung über den wehrlosen alten Mann in Rom denen nützlich ist, über die nicht geredet wird, so darf man davon ausgehen, dass es sich schon beim Synodalen Prozess selbst um ein groß inszeniertes Ablenkungsmanöver handelte.

Nach wie vor verschwindet dort das Drama der realen Ereignisse hinter einem vagen allgemeinen Reformbedarf – hinter dem Kampf um das Gendersternchen, hinter Frauen, die nicht Priester werden dürfen und anderen kirchlichen Gemeinheiten vergleichbarer Kategorie. Auf dem Synodalen Weg reden sie dann wieder über das nicht aus den Köpfen zu bringende ideologische Narrativ von der „sexualisierten Gewalt“, statt sich der zentralen Ursache des Kirchenabsturzes zu widmen: der sexuellen Gewalt pathologischer Triebtäter im Priesteramt.

Benedikt war da um Klassen mutiger. Um das wahrzunehmen, muss man noch einmal neu seinen Hirtenbrief vom 19. Mai 2010 an die irische Kirche lesen. Dort schaute er den Opfern ins Gesicht:

„Ihr habt schrecklich gelitten, und das tut mir aufrichtig leid. Ich weiß, dass nichts das von Euch Erlittene ungeschehen machen kann. Euer Vertrauen wurde missbraucht und Eure Würde wurde verletzt. … Im Namen der Kirche drücke ich offen die Scham und die Reue aus, die wir alle empfinden… Ich weiß, dass es einigen von Euch schwerfällt, eine Kirche zu betreten, nach all dem, was geschehen ist.“

Im gleichen Atemzug schaute Benedikt aber auch den Tätern frontal in die Augen:

„Ihr habt das Vertrauen, das von unschuldigen jungen Menschen und ihren Familien in Euch gesetzt wurde, missbraucht, und Ihr müsst Euch vor dem allmächtigen Gott und vor den zuständigen Gerichten dafür verantworten. Ihr habt die Achtung der Menschen Irlands verspielt und Schande und Unehre auf Eure Mitbrüder gebracht. Die Priester unter Euch haben die Heiligkeit des Weihesakraments verletzt, in dem Christus sich selbst in uns und unseren Handlungen vergegenwärtigt. … Zugleich ruft uns Gottes Gerechtigkeit dazu auf, Rechenschaft über unsere Taten abzulegen und nichts zu verheimlichen. Gebt offen zu, dass Ihr schuldig seid.“

In eigener Sache doppelte Moral?

Aber hat sich Benedikt am Ende selbst nicht an seine eigene spätere Linie gehalten? Auch dazu muss man sich die Dinge en detail anschauen, einer Aufgabe, der sich in dankenswerter Weise und eingehend Michael Hesemann unterzogen hat. Ich stimme ihm in der Darstellung weitgehend zu und rate, den Beitrag in Gänze nachzulesen. Richtig ist seine Summa: Wer „nach Beweisen, Indizien oder gar harten Fakten sucht, die den Ratzinger-Papst der Lüge überführen könnten, wird ganz schnell enttäuscht.“ Der Gesamtvorwurf bezieht sich auf vier Fälle, in denen sich der Münchner Erzbischof in den Jahren zwischen 1977 – 1982 „nicht regelkonform, beziehungsweise angemessen“ verhalten habe.

In Klammer ist eine Vorbemerkung unerlässlich: Wer Personen und Handlungen Ende der Siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts untersucht, kann weder die Einsichten, noch die Verhaltensregeln, noch den Kenntnisstand 2022 voraussetzen – in Sonderheit, was Pädophilie/Ephebophilie und die Therapierbarkeit von Tätern betrifft. Bis in die Neunziger Jahre hinein – das lehrt die bittere Verbrüderungsgeschichte der „Grünen“ mit der organisierten Pädophilie – erkannte man gesamtgesellschaftlich nicht die Brisanz des Themas.

Keineswegs nur im Raum der Kirche, wo Sex mit Kindern und Jugendlichen immer eine Todsünde war (mit der wohl kein Beichtvater auf der Welt kokettierte), glaubte man an die Möglichkeiten von Einsicht, Therapie, Reue, Umkehr, Besserung und die Möglichkeiten einer „zweiten Chance“. Mit Recht darf Benedikt XVI. historische Fairness auch in eigener Sache einfordern, um „das seinerzeitige Handeln historisch richtig einzuordnen und in den damaligen zeitlichen Kontext, in die damalige Rechtslage, in den damaligen Zeitgeist und die damals herrschenden Moralvorstellungen einzuordnen.“

Worum geht es in der Sache?

Im Gutachten werden aus zunächst fünf Fällen vier: „Davon betreffen zwei Fälle während der Amtszeit des Erzbischofs Kardinal Ratzinger verübte Taten und drei Fälle solche, die vor dessen Amtszeit und teilweise außerhalb des Gebiets der Erzdiözese verübt wurden. Von den im Rahmen dieses Bandes behandelten Fällen hat sich der von den Gutachtern geäußerte Verdacht in einem Fall nicht bestätigt. In dem gesondert dargestellten Fall 41 (der gesondert behandelt wird und kein Teil des eigentlichen Berichtes ist, d. Verf.) hat sich der Verdacht nur teilweise bestätigt.

Im Weiteren überlasse ich zunächst Michael Hesemann das Wort:
„Im ersten der Fälle – im Gutachten mit ´Nr. 22´ beziffert – handelt es sich um einen Priester, der in den 1960er Jahren wegen homosexueller Pädophilie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Nach seiner Entlassung habe Ratzingers Vorgänger, Julius Kardinal Döpfner, ihn ins Ausland versetzt. In Ratzingers Amtszeit bat er um Rückkehr in seine bayerische Heimat, um dort in den Ruhestand gehen zu können. Das wurde ihm Ende der 1970er Jahre gewährt. Das Gutachten unterstellt Benedikt XVI., den Täter zu kennen, weil er in dessen ehemaliger Pfarrei seinen Urlaub verbracht habe und darüber hinaus mit dessen Nachfolger bekannt sei. Zudem habe er ihm zum Ruhestand den „Ehrentitel ‚Pfarrer‘“ verliehen.

Und eben dort fangen die Absurditäten an. Denn natürlich ist „Pfarrer“, anders als etwa Monsignore, Apostolischer Protonotar oder Prälat, kein Ehrentitel, sondern eine Berufsbezeichnung. „Pfarrer im Ruhestand“ darf sich jeder Priester nennen, der einmal eine Pfarrei geleitet hat. Also hat Ratzinger ihm diese auch nicht verliehen, er war lediglich mit seiner korrekten Berufsbezeichnung angeschrieben worden, als das Erzbischöfliche Generalvikariat ihm die Versetzung in den Ruhestand gewährte. Zu behaupten, Ratzinger habe sich bei seinem einmaligen Urlaub in dessen ehemaliger Pfarrei über sein Vorleben und Strafregister schlau gemacht, ist nicht nur eine Unterstellung, sondern eine perfide Konstruktion: der besagte Urlaub fand im August 1982 statt, also ein halbes Jahr nachdem Ratzinger sein Amt als Erzbischof niedergelegt hatte, um auf Wunsch Johannes Pauls II. in Rom als Präfekt der Glaubenskongregation zu wirken.

Selbst wenn er also – was kaum anzunehmen ist – damals etwas über das Vorleben des Täters erfahren hätte, konnte es seine Handlung drei oder vier Jahre zuvor nicht beeinflusst haben. Ob Ratzinger je wusste, weshalb der Besagte im Ausland gewirkt hatte, ist mehr als fraglich. Er selbst bestreitet es vehement und es gibt keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Es wäre aber auch kein Grund gewesen, einem Mann, der seine Strafe abgebüßt hatte und nie wieder rückfällig geworden war, die Rückkehr in seine Heimat und die Versetzung in den Ruhestand mit einem üblichen Standardschreiben und korrekter Anrede zu verweigern. Doch nicht einmal das hat Ratzinger getan; das Formschreiben blieb ohne die Unterschrift des Kardinals! So müssen selbst die Gutachter zugeben, dass Benedikt XVI. ´insofern insgesamt als entlastet´ zu gelten hat.

Im zweiten Fall, „Nr. 37“, war ein Priester aus der Diözese Essen Anfang der 1970er Jahre, also unter Ratzingers Vorgänger Julius Kardinal Döpfner, wegen „versuchter Unzucht mit Kindern und (sexueller) Beleidigung“ verurteilt worden. Sofort wurde er vom Bistum aus dem Schuldienst abgezogen. Fünf Jahre später, jetzt unter Ratzinger, kam es zu einer zweiten Verurteilung wegen exhibitionistischen Handlungen. Ratzinger sei damit einverstanden gewesen, dass der Priester trotzdem auf seiner Stelle verbleibt, wo er ein Jahr später rückfällig wurde. Jetzt verurteilte ihn das Gericht zu einer Haftstrafe auf Bewährung. Nach einer fachärztlichen Behandlung wurde er anschließend von einer Privatschule als Religionslehrer beschäftigt. Während Benedikt XVI. bestreitet, über den Fall vollumfänglich informiert worden zu sein, ist zumindest das Verhalten seines Generalvikars nachvollziehbar: Der besagte Priester war in Ratzingers Amtszeit lediglich als Exhibitionist verurteilt worden, hatte sich also nicht an Kindern vergangen. Eine Versetzung kam nicht infrage, da er sich am Ort in psychiatrischer Behandlung befand. Als er rückfällig wurde, entließ man ihn aus dem seelsorgerischen Dienst; er lehrte daraufhin an einer privaten Wirtschaftsschule, wo er sich nach Auskunft des Schulleiters tadellos verhielt. Darüber hinaus glaubte man in den 1970er Jahren, dass Exhibitionismus und Pädophilie heilbare Krankheiten seien, die durch eine psychiatrische Behandlung kuriert werden könnten. Auch hier gibt es also keinerlei Indiz für ein Fehlverhalten oder Versäumnis des Erzbischofs Ratzinger.

Der dritte Fall, „Nr. 40“, entlastet Benedikt XVI. eher, als dass er ihn belastet. Ein Priester einer ausländischen Diözese und Verwandter des dortigen Bischofs war in seinem Heimatland wegen sexuellem Missbrauch von Kindern zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Der Bischof, sein Onkel, bemühte sich daraufhin, den Täter zur Fortsetzung seines Studiums bzw. seiner Promotion nach München zu schicken, ein Gesuch, dem Erzbischof Ratzinger stattgab. Dabei wurde dieser auch als Kaplan in der Seelsorge eingesetzt. Als er beim Nacktbaden beobachtet wurde und sich um private Kontakte zu Ministranten bemühte, wurde ihm jede Zelebration in der Pfarrei untersagt und schließlich seine Entlassung bewirkt.

Das Gutachten unterstellt Erzbischof Ratzinger, freilich ohne einen einzigen Beweis oder auch nur ein Indiz, dass er von der Verurteilung des jungen Priesters im Ausland gewusst haben muss. Sehr viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass dessen Onkel diese bewusst verschwiegen hat. Nun ist weder Nacktbaden noch das „Bemühen um Kontakte“ ein sexueller Missbrauch, geschweige denn eine Straftat. Trotzdem handelte das Bistum präventiv.

Im vierten Fall, „Nr. 42“, geht es um einen Priester, der beschuldigt wurde, „anzügliche Fotografien“ von unter 14-jährigen Mädchen angefertigt zu haben, was später auch zu einer Verurteilung führte. Darüber sei Erzbischof Ratzinger informiert worden, der entschied, den Beschuldigten fortan in einem Altenheim und einem Krankenhaus einzusetzen. Der Pfarrer, der ihn in seine Pfarrei aufnahm, ließ ihn auch in der Pfarrkirche zelebrieren. Wie die Gutachter aus der erfolgten Strafversetzung ein Versagen Ratzingers oder gar „Gleichgültigkeit und Desinteresse“ ableiten wollen, zumal nie sexuelle Handlungen mit Minderjährigen zur Debatte standen, bleibt offen.“ Soweit Michael Hesemann.

Was wusste der Erzbischof Ratzinger?

Der im Sonderband dargestellte Fall des Essener Priesters (nicht identisch mit dem Essener Fall, den Hesemann anschaute) wird nach Seite 1.438 verhandelt. Mit diesem Fall des Priesters, der in den 1980er Jahren nach München kam, um sich dort therapieren zu lassen, hat sich der Autor Peter Seewald in mehreren Interviews befasst und festgestellt, „es gibt keinerlei Beleg dafür, dass Ratzinger in diesen Fall involviert ist“.

Das Bistum Essen hatte es verabsäumt, eine Anzeige zu erstatten, auch wurde kein Strafverfahren eingeleitet. Ab 1982 arbeitete H. wieder als Priester. Erst 2010 zog ihn Bischof Overbeck aus dem Verkehr – nachdem er einmal mehr auffällig geworden war. Zu Zeiten Ratzingers in München gab es eine Anfrage aus Essen, ob man Pfarrer H. auf eine begrenzte Zeit zur Therapie nach München schicken könne, wobei man die Hintergründe offenbar nicht thematisierte. Von heute aus zu sagen, der Erzbischof müsse damals doch unbedingt gewusst haben, um welche tickende Zeitbombe es sich gehandelt habe, ist mutmaßende Kaffeesatzleserei. „Ich weiß nicht“, meint Peter Seewald, „wie viele Vorgänge es gibt in so einem Erzbistum mit über einer Million Katholiken.“ Fest steht: Man hat dem Erzbischof selbstverständlich eine Kopie des Beschlusses zur Versetzung von H. vorgelegt. Glaubhaft ist, dass Benedikt nicht weiter nach dem Woher und Warum der Versetzung gefragt hat. Die Brisanz des Themas hatte damals niemand auf dem Monitor, auch nicht der Erzbischof von München.

Seewald: „Eine Beteiligung Ratzingers, die jetzt herbeigeschrieben wird, gibt es in dem Fall nicht.“ Als der Priester dann wiedereingesetzt wurde, war Ratzinger längst nicht mehr in München. Der Vorwurf der Lüge bezog sich auf die Frage, ob Benedikt an der entscheidenden Ordinariatssitzung teilgenommen habe. Dazu ist eine Richtigstellung durch den Emeritus, der gerade das Gutachten studiert, angekündigt. In einer am 24. Januar 2022 publizierten Vorausmeldung sagt Erzbischof Gänswein: „Er (pp.emeritus) möchte aber jetzt schon klarstellen, dass er, entgegen der Darstellung im Rahmen der Anhörung, an der Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980 teilgenommen hat. Die gegenteilige Angabe war also objektiv falsch. Er möchte betonen, dass dies nicht aus böser Absicht heraus geschehen ist, sondern Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung seiner Stellungnahme war. Wie es dazu kam, wird er in der noch ausstehenden Stellungnahme erklären. Dieser Fehler tut ihm sehr leid und er bittet, diesen Fehler zu entschuldigen. Objektiv richtig bleibt aber, dokumentiert durch die Aktenlage, die Aussage, dass in dieser Sitzung über einen seelsorgerlichen Einsatz des betreffenden Priesters nicht entschieden wurde. Vielmehr wurde lediglich der Bitte entsprochen, diesem während seiner therapeutischen Behandlung in München Unterkunft zu ermöglichen.“

Zum Gutachten:

Ich empfehle, es akribisch zu lesen. Auch wenn man sich bei mancher Einlassung des emeritierten Papstes mehr Sensibilität und Gefühl für den denkbaren Leser erwartet hätte, so bleibt doch festzustellen: Wo ist im gesamten Text auch nur einziger gerichtsfester Beweis, der Benedikt der aktiven Vertuschung oder der bewussten Falschaussage überführt? Es mag redaktionelle Irrtümer, Gedächtnisfehler, Fehleinschätzungen gegeben haben. O Wunder: Auch der Papst ist nur ein Mensch! Bei vielen, die heute genau wissen, was damals zu tun gewesen wäre, wächst die Moral mit dem Abstand zu den Ereignissen. Die Behauptung „Benedikt der Lügner“ ist nur eines: eine die Ehre abschneidende, infame Unterstellung, bei der ich erstens rate, die zu betrachten, die schon seit Jahrzehnten in der Anti-Ratzinger-Kampagne („Panzerkardinal“) mit Schmähreden und Diffamierungen unterwegs sind.

Und zweitens sollte man sich fragen, wem es nützt, dass ein hochverdienter alter Mann in Rom nun zum böswilligen Finsterling und gefühllosen Sündenbock in der deutschen Kirchenkrise gemacht wird. Man darf das perfide finden – und kommt sehr bald zum Schluss: Der dicke Skandal kommt denen entgegen, die sich gerade ganz, ganz dünnemachen, weil eine Menge Unvorteilhaftes aus jüngerer Zeit über sie in Gutachten zu lesen ist.

Und ganz am Ende denkt man: Es müssten wahrlich andere Leute nach vorne- oder besser gleich zurücktreten.

von Bernhard Meuser

Melden Sie sich für unseren Newsletter an