Ein Plädoyer für die Wiederentdeckung des Glaubens als Lebensform

Der christliche Glaube will nicht nur gewusst, sondern gelebt werden. Franz-Josef Roth beobachtet viel theoretisches (Halb)wissen über den Glauben ohne konkrete Rückbindung an das Leben. Er wünscht sich mehr praktische Formung im Glauben sowie Herzens- und Charakterbildung durch den Glauben. Ein Aufruf zur Transformation statt bloßer Information.

In seinem vielbeachteten Werk Die Häresie der Formlosigkeit beklagt Martin Mosebach die zunehmende Gestaltlosigkeit der katholischen Liturgie. Was er am gottesdienstlichen Leben beobachtet, lässt sich mehr und mehr auch auf das Glaubensleben insgesamt übertragen: Wo an und für sich Form und Gestalt Orientierung, Tiefe und Schönheit bieten sollen, herrscht allzu oft eine funktionale Reduktion auf Information. Ein Beispiel hierfür ist die weithin wahrnehmbare Höherbewertung der Predigt über das sakramentale Opfer in der Eucharistiefeier.

Damit zeigt sich ein grundlegendes Spannungsverhältnis: Die Formung im Glauben geht über eine Information über den Glauben weit hinaus, setzt jedoch das Wissen voraus. Die alte Frage, was es eigentlich bedeutet, ein Christ zu sein, bekommt mit Blick auf die Widersprüchlichkeit, die in dem Auseinanderklaffen von Formierung im Glauben versus eines bloßen Informiert-Seins darüber, eine brennende Aktualität. Genügt es, Inhalte zu kennen – oder muss der Glaube den Menschen in seiner ganzen Existenz prägen, so wie es mit Rückgriff auf Mosebach auch für die Liturgie zu konstatieren ist?

Von der Identifikation zur Information:
Entformierung als kirchliches und gesellschaftliches Phänomen

Ausgangspunkt dieser Überlegungen sind vielfältige Erfahrungen in der Katechese: Wo ursprünglich die Formung des Herzens, des Charakters und des umfänglichen Lebensstils im Vordergrund stand, dominiert seit mehreren Jahrzehnten vielfach die bloße Wissensvermittlung. Und selbst diese verkümmert zunehmend – denn viele Katecheseangebote vermitteln bestenfalls Fragmente des Glaubens, oft ohne Rückbindung an das konkrete Leben oder die persönliche Entscheidung.

Interessanterweise korrespondiert dieses Phänomen mit ähnlichen Entwicklungen an anderen Stellen unserer Gesellschaft. In der Bildung ersetzt Kompetenzorientierung immer mehr die ganzmenschliche Persönlichkeitsentwicklung. In sozialen Medien geht es um Positionierung statt Haltung. Beziehungen werden anhand von definierten Persönlichkeitsmerkmalen online, also per Informationstechnologie, angebahnt. Die Form – als Ausdruck einer inneren Wahrheit – ist vielerorts verdächtig geworden, ja sogar verpönt. Eine Entwicklung, die den ganzen Menschen betrifft: Seinen Glauben, sein Handeln, seine Zugehörigkeit zur Kirche, sein Alltagsleben, sein ganzes Selbst- und Weltverständnis.

Dieser Prozess lässt sich insgesamt mit dem Begriff Entformierung beschreiben. Der Mensch wird nicht mehr im Ganzen angesprochen, sondern mehr oder weniger nur in seinem Informationsbedürfnis. Ein beredtes Zeugnis davon ist der Begriff Wissensgesellschaft.

Der Mensch wird nicht mehr herausgefordert, zu werden, was er sein kann – ganz, heil -, sondern bleibt auf einer Oberfläche von bloßer Kenntnis stehen. Der Verlust führt, das ist sowohl kirchlich als auch gesellschaftlich zu sehen, letztendlich zum „fragmentierten Menschen“, d.h. zu einem Menschen, der sich in den unterschiedlichen Bereichen seines Lebens pragmatisch flexibel, aber auch widersprüchlich und damit in der Fülle seiner Existenz entformiert verhält, ja sich geradezu verhalten muss. Die Uniform der Formlosigkeit als derniere cri einer sich auflösenden Menschlichkeit.

Neuformierung: Evangelium als Lebensform

Was aber wäre dem entgegenzusetzen?

Die Antwort kann natürlich nicht in einer nostalgischen Rückkehr zu alten Strukturen im Sinne einer starren Uniformierung oder einer ausschließlichen Verrechtlichung menschlicher Lebensvollzüge bestehen. Vielmehr braucht eine Neuformierung ein erneuertes Verständnis von dem, was es heißt, im Glauben geformt und durchprägt zu werden – eben nicht als starre Normierung, sondern als lebendiger und nicht selten mühevoller Prozess der Entfaltung der Möglichkeiten, die Gott dem Menschen ins Herz gelegt hat.

Die christliche Anthropologie bietet, als Orientierung für ein erneuertes Verständnis eines ganzheitlichen Glaubens und damit auch eines ganzheitlichen Lebens, einen fast unerschöpflichen Schatz einer Lehre vom Menschen und seines gelingenden Lebens an. Im Fokus steht dabei die Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Verwirklichungsform menschlichen Lebens, seine Erlösungsbedürftigkeit sowie das Gnadenangebot als Heilmittel dafür. Insbesondere gehört dazu auch die Lehre von den Tugenden, wie sie zum Beispiel Josef Pieper im Anschluss an den heiligen Thomas von Aquin entfaltet hat. Die Tugenden zeigen auf, wie der Mensch durch Gottes Gnade und eigenes Bemühen fähig wird, das Gute zu erkennen, zu wollen und zu tun und damit letztendlich richtig zu sein.

Formierung bedeutet damit, in eine Haltung hineinzuwachsen, die Christus ähnlicher macht.

Der Apostel Paulus schreibt:

„Gut ist es, allezeit um das Gute zu eifern, und nicht nur, wenn ich bei euch bin, meine Kinder, für die ich von Neuem Geburtswehen erleide, bis Christus in euch Gestalt annimmt“ (Gal 4,19).

Das ist mehr als Information – das ist Transformation.

Oder, wie Jesus selbst sagt:

„Kommt her, mir nach!“ (Mt 4,19)

– nicht: „Lernt meine Lehre oder mein Leitbild auswendig.“

Es geht um Nachfolge, nicht nur um Kenntnis. Um ein konkretes Leben in Christus, nicht um ein abstraktes.

Und mit Blick auf die Taufe:

„Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen“

– und zwar – durchaus auch mit kritischem Blick auf die Mitarbeiter der Kirche – nicht nur als Arbeitskleidung.

Praxisbeispiele: Gelebter Glaube – Performation anstelle von Information

Ein Beispiel: Eine junge Erzieherin in einer katholischen Kita lebt ihren Glauben, indem sie bei ihrer Arbeit das tut, was ihr Leben prägt: Sie betet mit den Kindern, sie führt sie durch das Kirchenjahr, sie erzählt von Jesus. Aber auch durch ihr Verhalten, durch Geduld, Barmherzigkeit und Konsequenz macht sie ihren Glauben lebendig. Sie ist kein theologisches Lexikon, aber eine glaubwürdige Zeugin.

Ein anderes Beispiel: In der Firmpastoral werden junge Menschen eingeladen, sich selbst herausfordern zu lassen: durch Exerzitien, Begegnungen mit Armen, stille Zeiten im Gebet. Hier wird Glaube nicht erklärt, sondern gelebt und erlebt. Die Firmung wird dann in der Intention empfangen, das eigene Leben „christusförmig“ zu gestalten, also auch mit einem genuinen Auftrag zum Apostolat.

Fazit: Die Form als Ausdruck der Wahrheit

Der christliche Glaube will nicht nur verstanden, sondern gelebt werden. Er ist kein System von Informationen, sondern eine Schule des Menschseins. Wer glaubt, lässt sich formen – von der Wahrheit, die in Christus Mensch geworden ist.

Die Kirche hat die Aufgabe, Räume zu schaffen, in denen diese Formierung möglich wird: durch eine ansprechende und geformte liturgische Kultur, die Schönheit atmet; durch eine Katechese, die auch durch eine Glaubensordnung zum Leben führt; durch selbstlose Liebe und durch Gemeinschaften, die Zeugen hervorbringen.

„Und gleicht Euch nicht dieser Welt an, sondern lasst Euch verwandeln durch die Erneuerung des Denkens, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene!“ (Röm 12,2).

Das ist der Ruf zur Neuformierung, man kann durchaus sagen: auch zur Neuevangelisierung, und damit verbunden die Einladung zur Entfaltung der von Gott geschenkten Potenziale. Damit der Glaube nicht nur gewusst, sondern gelebt wird. Damit Kirche nicht bloß Organisation ist, sondern mehr und mehr gut, wohlgefällig und vollkommen wird, so wie der Leib Christi selbst.


Franz-Josef Roth
ist Pastoralreferent in Dinslaken, Bistum Münster. Er ist Mitautor des Buches „Urworte des Evangeliums“.


Beitragsbild: Christus aus Sand modelliert / Adobe Stock

Melden Sie sich für unseren Newsletter an