Neulich, einen Tag nach Mariä-Himmelfahrt, besuchte ich die wunderschöne Liebfrau­enkirche von Oberwesel. Der Bahnfahrer der linksrheinischen Strecke kennt sie als markante „rote Kirche“. Und schier wie in Köln liegt sie an der Haustüre des Bahnhofs. Meine nachhaltige Aufmerk­samkeit zog eine „Lehrtafel“ von 1510 auf sich, die an der Wand des nördlichen Seitenschiffs zu fin­den ist: sie illustriert „die Zeichen der fünfzehn Tage vor dem Jüngsten Gericht“, ein Motiv, das, wie ich gestehen muss, mir in dieser Form samt aller Einzelelemente nicht bekannt war. Was in sehr an­schaulichen Einzeltafeln dargestellt ist, findet sich, wie meine Recherche ergab, beispielsweise in der Historia scholastica des Pet­rus Comestor († 1178 in Paris), um wohl von dort in die Legenda Aurea des Jakobus de Varagine († 1298 in Genua) gewandert zu sein. Ich halte mich an Petrus Comestor und übertrage den Text (Histo­ria scholastica: Historia Evangelica CXLI) hier ins Deutsche.

Wörtlich heißt es also:
„Hieronymus nun aber fand in den Anna­len der Hebräer die Zeichen der fünfzehn Tage vor dem Tag des Gerichts. Aber: Ob sich jene Tage aufeinander folgend ereignen werden, oder unterbrochen, dem hat er nicht Ausdruck gegeben.

Am ersten Tag wird sich das Meer vierzig Ellen über die Höhe der Berge hinweg aufrichten, um an seinem Ort gleichwie eine Mauer zu stehen.

Am zweiten wird es sich so sehr hinabsenken, dass man es kaum sehen könnte.

Am dritten werden Seeungeheuer, die über dem Meer erscheinen werden, ein Gebrüll bis zum Himmel von sich geben.

Am vierten wird das Meer brennen, und die Wasser.

Am fünften werden die Kräuter und Bäume blutigen Tau von sich geben.

Am sechsten werden die Gebäude ein­stürzen.

Am siebten werden die Felsen aufeinanderprallen.

Am achten wird sich ein allgemeines Erd­beben ereignen.

Am neunten wird die Erde eingeebnet werden. [Sprich: Alles wird flach sein, kein Landschaftsprofil mehr.]

Am zehnten werden die Menschen aus Höhlen hinausgehen und einherge­hen wie von Sinnen, auch nicht werden sie zueinander reden können.

Am elften werden sich die Ge­beine der Toten erheben und werden über den Gräbern stehen.

Am zwölften werden die Sterne [nie­der]fallen.

Am dreizehnten werden die Lebenden sterben, um mit den Toten aufzuerstehen.

Am vier­zehnten wird der Himmel brennen, und die Erde.

Am fünfzehnten wird ein neuer Himmel werden, und eine neue Erde, und alle werden auferstehen.“

Die „Klimakatastrophe“ als Vorbote?

Schließlich vervollständigt der Verfasser das Bild mit diversen Stellen aus dem Neuen Testament. Der Gesamtheit ihrer Details nach eignet dieser 15-Zeichen-Überlie­ferung keine irgendwie „kanonische“ Verbindlichkeit, wie wohl sie lange Zeit sehr beliebt war. Und selbstredend stelle ich hier diese Überlieferung nicht dem Leser vor, um zu demonstrieren, dass es „die Alten ja schon längst gewusst“ hätten. Aber: Vor zwanzig Jahren noch hätte man über so etwas gelacht beziehungs­weise die Achseln gezuckt. Inzwischen kommen uns die Bilder nicht mehr so ganz unbekannt vor. Es drängt sich eine gewisse Konvergenz auf mit dem, was wir zurzeit mehr und mehr erfahren: die ver­traute terrestrische Behausung ist nicht mehr gegeben oder (bislang noch) nicht mehr ganz so selbst­verständlich. Das Abschmelzen der Eisberge und das Steigen der Meeresspiegel mögen wir noch in das Fernsehen hineinverbannen können. Aber wer in Oberwesel in diesen Som­mertagen mit der Bahn anfährt und sich auf die Anhöhe etwa in Richtung Sankt-Martins-Kirche be­gibt, hat beklem­mend vor Augen, was das Bild in der Kirche („zweiter Tag“) darstellt: die Gewässer entschwinden all­mählich unseren Augen. Wenn es so weiterginge, könnten wir dem „deutschen Fluss“ nachtrauern, und das Gefahrenpotential der Loreley ein wenig flussabwärts  – wahrlich „ein Märchen aus uralten Zeiten“. Und um die Aktualisierung vorläufig abzurunden: In den Alpen kann man den Verlust von Landschaftsprofilen beobachten, bis hin zu so manchen Einebnungen.

Die Phänomene, auf die ich Bezug nehme und die ich mit den „fünfzehn Zeichen“ materiell nicht unbeträchtlich konvergieren sehe, haben alle mit der Klimakatastrophe zu tun. Die FAZ vom 17. 08. („Wo bitte geht es zum Abgrund?“ von J. Müller-Jung) spricht denn auch wörtlich von der „Klima­apokalyp­se“: Laut führender Klimawissenschaftler im Journal „PNAS“ ließe sich so resümieren: „Der nukleare Ernstfall, in den achtziger Jahren noch die mit Abstand größte anzunehmende Gefahr für die Menschheit, er ist abgelöst worden von der Klimakatastrophe.“ – Methodische Zwischenbemer­kung: Solche Analysen und erschütternde Resümees von naturwissenschaftlicher Seite aus legen den Schluss, wir lebten in einer Zeit, die geschwängert ist von Vorzeichen der ausstehenden Wiederkunft Christi, freilich nicht von selbst nahe. Aber im Lichte des Glaubens an die durch Gottes Offenbarung garantierte Wiederkunft am Jüngsten Tag, für die überdies laut Neuem Testament Vorzeichen angekündigt sind, versorgen sie uns gleich­sam mit Material, das im Lichte des Glaubens sehr zu denken gibt.

Die Apokalypse nach Johannes

Das Fünfzehn-Zeichen-Motiv habe ich aufgegriffen wegen seiner Anschaulichkeit, die es mit der Oberweseler Tafel sprichwörtlich erhalten hat. Der für mich mit zentrale Aspekt des Verlustes der terrestrischen Behausung findet sich nun aber auch explizit im Neuen Testament, besonders markant im letzten Buch der Heiligen Schrift: Das achte Kapitel der Johannesoffenbarung (die „Apokalypse“ katexochen) spricht deutlich davon (Verse 6-12): der dritte Teil der Erde verbrennt sowie der dritte Teil der Bäume, ein großer Berg versinkt im Meer, ein Drittel der Meeresbewohner kommt um, das Wasser wird unge­nießbar etc.

Wie gesichert nun die menschliche Verursachung des Klimawandels ist, kann ich nicht beur­teilen. Aber ich halte es auf alle Fälle für die „via tutior“, den sichereren Weg, dieses als Forschungs­ergebnis zu akzeptieren; jedenfalls dahingehend, dass der Mensch entscheidenden Anteil daran hat. Um damit aber zum theologisch relevanten Punkt zu kommen: menschliche Verursachung und von Gott eingestifteter Vorzeichencharakter schließen einander nicht aus. Dass sich beispielsweise Volk gegen Volk und Reich gegen Reich erheben wird (Mt 24,7), ist sicher menschlich verursacht. Und im Rahmen eines kleinen Besinnungsaufsatzes muss ich das nicht durchreflektieren, um mich mit folgen­der Feststellung begnügen zu können: Das menschlich Initiierte kann in einer Weise aufpotenziert werden, dass es jenen ungeheuren, verhängnisvollen Widerfahrnischarakter erhält, der sich als Spra­che des Gerichtes Gottes von selbst aufdrängt. Nicht umsonst kennen wir aus dem Alten Testament den Tun-Erge­hen-Zusammenhang.

Thomas von Aquin und die Frage des „Wann?“

Nun aber: Vorzeichen des Jüngsten Gerichts, der Wiederkunft Christi. Diskreditiere ich mich durch meine Andeutungen nicht als ein Naherwartungssektierer? Als ungeheuer hilfreich finde ich die nüchterne Lehre des heiligen Thomas von Aquin zu den Vorzeichen des Weltendes und der Wie­derkunft Christi. Die letzte mir ad hoc bekannte knappe systematische Bündelung findet sich in Depo­tentia 5,6. In der Behandlung der Frage, ob man wissen könne, wann die Bewegung des Him­mels zum Stehen komme, sprich: wann Christus wiederkommt, benennt er als Proargument die Tat­sache, dass das NT aus dem Mund Christi und der Feder der Apostel doch einschlägige Vorzeichen bezeuge.

Thomas‘ Antwort (ibd. ad5): „Jene Zeichen sind gesetzt, um zu manifestieren, dass irgendwann die Welt ihr Ende finden wird; nicht aber, um eine bestimmte Zeit zu manifestieren, wann sie ihr Ende finden wird. Es werden nämlich unter jenen Zeichen welche angeführt, die es gleichsam von Anbe­ginn der Welt gab, wie dass sich Volk gegen Volk erheben wird, und dass das Beben der Erde über Gegenden hinweg sein wird. Aber: wenn das Ende der Welt bevorsteht, wird sich dies überreicher ereignen. Welches nun aber dieses Ausmaß dieser Zeichen, das um das Ende der Welt sein wird, ist, kann uns nicht bekannt sein.“ Thomas‘ Erläuterung legt meiner Einschätzung nach folgende Interpretation nahe: Markante Verdich­tungen solcher Zeichen kann es immer wieder, also auch vor der finalen geben; allein, wir wissen nicht um das Ausmaß der finalen katastrophischen Verdichtung, auf dass uns der Termin, „Tag und Stunde“ unbekannt bleibt (Mt 24,32-42parall.).

Wir wissen nicht wann, nur dass!

Thomas‘ wichtige Auskunft impliziert zwei Optio­nen: In der Tradition des hl. Augustinus ist er jeder Form von zelotischem Charismatismus abge­neigt, der glaubt, mit Hilfe sicherer (angeblich durch die Schrift gestützter) Indizien das (nahezu) un­mittelbar bevorstehende Ende (Antichrist und Wiederkunft Christi) postulieren zu dürfen (sehr be­redt dazu: Contra-impugnantes V,5). Nein, wir wissen nicht, wann Christus wiederkommt, auch den Zeitraum eingrenzende Terminierungen sind uns verwehrt. Aber: Es gibt solche Vorzeichen, und zwar mit Aus­sagekraft, dass der Herr überhaupt wiederkommt, mit welcher Wiederkunft wir immer rech­nen müs­sen!

Thomas‘ zitierte Auskunft ist durchaus für jene Interpretation offen, wonach nicht nur mit Verdichtungen der katastrophischen Vorzeichen schon vor den finalen zu rechnen ist (s.o.), son­dern solche vor-finale Verdichtungen eigentümlich signifikant ausfallen können. Um dem dafür Wa­chen nachhaltig zu denken zu geben, ohne dass man deshalb ableiten könnte: „Jetzt aber steht es be­vor.“ Was nämlich unsere Zeit aus-„zeichnet“, ist die eminente Aporie­behaftetheit ihrer Probleme mit Katastrophenpotential, und in globalem Ausmaß: die Klimakatastro­phe ist nur eines davon. Aus­weglosigkeit – die ich deshalb noch nicht eigenmächtig zur absoluten hochstilisiert haben will – hat nun einmal signifikantes Vorzeichenpotential für das Ende.

Leben in der „letzten Zeit“

Von daher bleibt aber für uns: Für eine Ende-der-Welt-Hysterie, die Christi Wiederkunft zeit­lich in nächster oder doch wenigstens bestimmter Nähe terminiert, ist kein Raum, wofür Autoritäten wie Thomas und schon Augustinus einstehen. Jedoch kann man mit gutem Grund den Kairos unserer mit Ausweglosigkeiten belasteten Tage dahingehend deuten, wonach wir im Sinne der Vorzeichen in massiver Dringlichkeit daran erinnert sind, dass wir in der „letzten Zeit“ leben, das heißt jener eschatologisch bestimmten, die garantiert auf Christi Wiederkunft zugeht (vgl. S. Thomas: DePotentia 5,6arg/ad9; Contra-impugnantes V,5). Für diese Wiederkunft müssen wir alle Zeit bereit und entsprechend wach­sam sein (vgl. Mt 24,42-44). Mir jedenfalls kommt es so vor, als sei der Advent die Kirchenjahreszeit unserer Tage. Selbst mitten im Hochsommer, da so vielen der Sinn ganz und gar nicht nach letzten Dingen steht. Ja, gerade da.

 

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Dr. theol. Klaus Obenauer
ist Privatdozent an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn. Zur Zeit arbeitet er als selbständiger Übersetzer. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der scholastischen Theologie und Philosophie.

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