Die LGBTQI-Agenda hat längst die Institutionen des Protestantismus und der anglikanischen Tradition gekapert. Jetzt ist die katholische Kirche dran.
von Dominik Klenk
Zu beneiden sind sie nicht, die katholischen Bischöfe und das Kirchenvolk in diesen Tagen. Nicht enden wollenden Skandale um die Missbrauchsfälle und ihre mancherorts nicht gelungene moralische und juristische Aufarbeitung hat Vertrauen gekostet. Die Zahl der Austritte erreicht eisige Höhen. Franziskus, der menschennahe Reformer-Papst aus Rom, hatte mit einem Grundsatzbeschluss der Glaubenskongregation wichtige Forderungen des deutschen Synodalen (Sonder-)Weges höchst lehramtlich eingefroren: Homosexuelle Paare werden für ihr Partnerschaft auch in Zukunft ohne den kirchlichen Segen auskommen müssen. Es ist nicht das erste Mal, dass die strenge Sexualmoral das Volk Gottes in Murren versetzt. Schon am Fuße des Sinai fand Mose vor 3000 Jahren bei seiner Rückkehr die Gläubigen nicht in freudiger Erwartung auf die Tafeln der 10 Gebote vor, sondern im Tanz um das Goldene Kalb.
Das „queere“ Frühlingserwachen einiger „Gruppen katholischer Seelsorger und Seelsorgerinnen“ hatte vor einigen Wochen zu „bundesweiten Gottesdiensten für Liebende“ diverser Sexualitäten aufgerufen, als Akt der Solidarität und der Gleichberechtigung der LGBTQI-Community. Liebenden Menschen den Segen versagen? Ja, das klingt harsch für eine Kirche, deren Botschaft doch Nächstenliebe sein soll. Solch unzeitgeistige Ansagen rufen Irritationen und Wut hervor in einer Epoche, die mit politischen Nebelkerzen von Toleranz und Gleichstellung die gesellschaftlichen Lichtverhältnisse verstellt. Nun versteht sich die Kirche, insbesondere die katholische, aber nicht als williger Spiegel der Zeitverhältnisse, sondern als Verkündigerin von mode-resistenten Werten und Normen, die sich durch alle Zeiten bewähren und das Kirchenvolk auf nichts weniger als die Ewigkeit ausrichten sollen.
Liebenden den Segen versagen?
Entgegen dem Regenbogen-Kampagnen-Motto „Jede Liebe zählt“ ist Liebe kein beliebiger Containerbegriff. Sie nimmt im kirchlichen Kontext Maß am Zeugnis des Evangeliums und gründet im dreieinigen Gott als die Liebe selbst. Bei aller gebotenen Ebenbürtigkeit sind Braut und Bräutigam keine vertauschbaren Rollen in einem christlich inszenierten Bühnenstück, sondern jeweils Protagonisten der göttlichen Einheit in Verschiedenheit, die gewahrt werden will. Das Wort des Widerstandskämpfers Reinhold Schneider (1903–1958) erinnert die Kirche an ihr Wächteramt: „Die Zeit erwartet unseren Widerspruch. In wesentlichen Fragen ist sie ratlos, und wenn wir mit ihr gehen, so werden wir es auch.“
Georg Bätzing hatte als Vorsitzender der katholischen Bischofskonferenz die Segnungsfeiern zwar als wenig hilfreich bezeichnet – allerdings auch nicht untersagt: „Die Menschen in homosexuellen Partnerschaften wollen den Segen der Kirche, und zwar nicht im Verborgenen. Sie wollen, dass die Kirche ihr Leben für so wertvoll hält, dass man ihm den Segen Gottes gibt und nicht vorenthält“, so der Limburger Bischof. Beizupflichten ist Bätzing insoweit, als Kirche immer im Licht und nicht „im Verborgenen“ stattfinden soll. Ein liturgischer Segen gehört wahrlich nicht in den Darkroom und auch nicht in die unausgeleuchtete Sakristei. Er muss bis in die Ewigkeit bestehen können. Kirche segnet ja keinen persönlichen Lifestyle, sondern Menschen. Nach jedem Tagzeitgebet und nach jedem Gottesdienst sind alle ohne Ausnahme unter den Segen beschlossen.
Bischof Bätzing sagt weiter, den Wunsch homosexueller Paare nach Paarsegen könne die Kirche nicht einfach nur mit „Ja oder Nein“ beantworten. Gewiss gilt ihnen das uneingeschränkte Ja Gottes zu allen seinen Kindern und das Ja seiner Kirche zu ihren Gliedern, ungeachtet jeder sexuellen Präferenz. Für ein Ja zur geschlechtlichen Verbindung zweier Partner des gleichen Geschlechts hat die Kirche aber keine Vollmacht. Sie kann keine Verheißungen aus dem Hut zaubern, schon gar nicht aus der Heiligen Schrift. In der Bibel findet der Sex zwischen zwei Männern und zwei Frauen nur im Zusammenhang kreatürlicher Zielverfehlung Erwähnung, das heißt, als mit dem Willen Gottes nicht vereinbar.
Auch gleichgeschlechtliche Beziehungen sind im Segenshorizont: die zwischen Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern, Brüdern, Schwestern und Freunden. Sogar für Feinde fordert Gott Liebe ein – allerdings in sexfreien Zonen. Dass zwei sich „erkennend“ ein Leib werden, ist in der Bibel Mann und Frau vorbehalten. Auch massiver Druck auf Theologie und Liturgie, andere sexuellen Konzepte des fluiden Phänomens queerer Selbstentwürfe anzuerkennen, ändert daran nichts.
Lebenspraxis schlägt Orthodoxie
Zuletzt dann der deutlichste Hinweis auf Bätzings im Außerkirchlichen verankerte Denkfigur: Die Stellungnahmen von Papst Franziskus und der Glaubenskongregation in Rom zum Thema der Segnung gebe zwar den Stand der kirchlichen Lehre wieder, aber das helfe nichts, „weil es längst eine pastorale Entwicklung gibt, die darüber hinausgeht“. Das tönt spannend: Lebenspraxis schlägt hier Orthodoxie. Die normative Kraft des faktisch Gelebten wird so kurzerhand zum ethischen und anthropologischen Bezugsrahmen für die Kirche erklärt. Der Geist der Zeit trumpft über den Heiligen Geist. Die Ansage des katholischen Oberhirten ist bemerkenswert, weil sie die Kompassnadel der Kirche in den Fragen der Ehe- und Sexualethik entlang der Magnetfelder der „kleinen Segensfrage“ neu auszurichten sucht.
Der Kompass des Lebens
Wer die vier Himmelsrichtungen, die Längen- und Breitengrade kennt, über eine freischwebende Kompassnadel verfügt und weiß, dass sie sich gen Norden ausrichten wird, der kann sich auf der Landkarte und im Gelände zu jeder Tageszeit und bei jeder Witterung orientieren. In den vergangenen Jahrzehnten ist ein tiefgreifender gesellschaftlicher Kampf um das Menschenbild entbrannt. Wer ist der Mensch? Wie soll er handeln? Wem ist er verpflichtet? Darf er alles, was er kann? Der über Jahrhunderte gültige „Kompass des Lebens“ christlicher Prägung ist in der Anziehung moderner Ideologien, durch beschleunigte gesellschaftliche Umbruchsprozesse und technologischen Fortschritt mächtig ins Rotieren geraten. In dessen Nord-Süd-Linie spannen sich die beiden Pole von Leben (N) und Tod (S) aus. Auf der Quer-Achse steht der Mensch als Mann (W) und Frau (O). Doch wie realisieren sich Mann und Frau leiblich, existenziell, kulturell und als Identität, wo divergieren sie, wo berühren sie einander?
Konstanten werden zu Optionsvarianten
Auf der Nord-Süd-Achse des Kompasses liegen die großen Fragen nach dem Anfang und dem Ende des Lebens. Auch sie sind in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend von Konstanten zu Optionsvarianten gemacht worden und stellen den Grundbezug von Schöpfer und Geschöpf infrage. In-Vitro-Befruchtung, Leihmutterschaft, Abtreibung und Euthanasie als vermeintliche „Menschenrechte“ leisten einer Kultur des Todes Vorschub. Der Zeitgeist fordert nicht nur den Heiligen Geist heraus, sondern drängt in die Innenräume des Heiligen ein, um sie für sich dienstbar zu machen.
Die Frage der Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren in der Kirche tangiert die Justierung der West-Ost-Achse des Kompasses massiv. Die Referenzpunkte Mann und Frau halten die schöpferische Spannung zwischen den beiden Geschlechtern, deren Unterschiedlichkeit, Vitalität und Potenz geistlich und leiblich das Leben einer nächsten Generation prägt und ermöglicht. Neues Leben kann nur aus Mann und Frau hervorgehen. Die Implementierung und Politisierung neuer Identitäten durch die LGBTQI-Community will neue Achsen und Ehe-Optionen bauen. Wenn aber Ehe für alle und alles Ehe ist, verschwindet Ehe als der besondere Bund in einem pansexuellen Allerlei.
Segen für Abtreibungsfeiern?
Wenn die Kirche zu den Verschiebungen auf dem Kompass auf der West-Ost-Achse ihren Segen erteilt werden, gibt es auch auf der Nord-Süd-Achse kein Halten mehr. Ausformulierte Liturgien für „Abtreibungsfeiern“ liegen schon in den Schubladen bereit. Ähnliche Entwicklungen stehen in der Frage nach dem Ende des Lebens an. Euthanasie soll den Menschen selbstbestimmt von einem gottgegebenen Schicksal erlösen. Jüngst hat der evangelische Landesbischof Ralf Meister den kirchlich assistierten Suizid als „diakonische“ Option erwogen. Der Vorstoß traf auf unerwarteten Widerstand in der EKD-Leitung – vorerst. Auch hier richtet sich der Kompass des Lebens zunehmend nach Kraftfeldern aus, die einer Kultur des Todes Vorschub leisten.
Die vier Himmelsrichtungen geben Orientierung und hegen den Kreislauf des Lebens im Leiblichen ein. Wo sich die Koordinaten verschieben, schafft sich Kirche als ein letztes Bollwerk gegen die Dekonstruktion und die letztliche Totalverwertung des Menschen ab. Sie ist allen Unzulänglichkeiten zum Trotz seit Jahrhunderten Wächterin dieser inneren Balance. Die Segnung homosexueller Paare ist darum keine bloß graduelle Richtungsänderung, sondern die massive Umpolung des Kompasses des Lebens. Christliche Anthropologie ist nur als ein Ganzes zu haben. Christen schöpfen, wenn sie einander Segen zusprechen, nicht aus dem Wunschkonzert der Gefühle, sondern aus den Verheißungen Gottes, übermittelt in den Zeugnissen des Glaubens.
Tragt den Baal ins Heiligtum
Mit trojanischen Pferden ins Innere der gegnerischen Festung einzudringen ist eine altbewährte Kampfführung. Sie ist auch heute immer noch wirksam. Wie man die christlichen Kirchen am effektivsten zerstören kann? Baut eine Kirche in der Kirche. Schafft einen Götzen. Tragt den Baal ins Heiligtum und nennt ihn Gott Israels, nennt ihn Gott (je)der Liebe. Nennt den Eros am besten gleich selbst „Gott“ und huldigt ihm. Die LGBTQI-Agenda hat längst die Institutionen des Protestantismus und der anglikanischen Tradition gekapert und sich im Innern breitgemacht und etabliert sich als konstante Größe in Dogmatik, Ethik, Pastoral und Kirchenrecht. Die „Homosegnung“ wird zum Lackmustest der Rechtschaffenheit stilisiert. Es ist kein Zufall, dass sich an dieser vermeintlich kleinen Frage gerade Spaltungen in allen christlichen Lagern abzeichnen. Noch um die Jahrtausendwende gehörte für die Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gleichgeschlechtliche Orientierung in den Bereich der Seelsorge, heute gilt sie zusammen mit Transidentität und Transsexualität regelrecht als zu feiernde Schöpfungsvariante. Die 2013 veröffentlichte Orientierungshilfe der EKD betrachtet inzwischen die gleichgeschlechtliche Partnerschaft gar als mit der heterosexuellen Ehe gleichwertig. Im Kontext der aktuellen politischen Entwicklungen schillert die Sexualethik der EKD als Fifty-Shades-Of-Gender.
Jetzt soll der Kompass nach diesem Muster in der katholischen Kirche umgebaut werden. Im September dieses Jahres wird die Deutsche Bischofskonferenz tagen, um, angefeuert von den Funktionären der Laien-Kaste, über die Vorschläge des Synodalen Weges zu befinden. Der Kompass des Lebens und eine neue Sexualethik werden ganz oben auf der Agenda stehen. Es wird sich zeigen, ob die Bischöfe sich daran erinnern, welches Mandat sie ausüben, für welches Gottes- und Menschenbild sie in Verkündigung und Pastoral einstehen. Ebenso ausschlaggebend wird sein, ob und wie die Laien in der Kirche sich für eine Kultur des Lebens positionieren.
(Der Autor, Dominik Klenk, ist Philosoph und Publizist. Er leitet den Fontis-Verlag in Basel. Zuletzt erschien von ihm: Der christliche Glaube für Entdecker. Die Basics des Glaubens für Eltern und ihre Kinder. Basel 2020.)