Beten wird wieder ein Thema nach der „Zeitenwende“ durch Putin. Sogar von einer Weihe an das unbefleckte Herz Mariens am 25. 3. durch Papst Franziskus ist die Rede. „Not lehrt beten“, auch Menschen, die es nicht aus freien Stücken gewählt hätten. Aber was ist Beten eigentlich? Und was können wir dabei von Spatzen lernen?  Ein Transfer aus der Ornithologie in die (theologische) Anthropologie.

Von Helmut Müller

Auf dem Weg übers Feld komme ich an einem Busch vorbei, aus dem lustiges Spatzengezwitscher klingt. Ich werfe einen Stein hinein, um die eifrigen Sänger zu Gesicht zu bekommen (Man verzeihe mir diese Retardierung in die Kindheit). Statt explosionsartig auseinander zu fliegen, fliegen sie in lockerer Formation zum nächsten Busch, und bald erklingt auch aus diesem Gebüsch ihr geschäftiges Zwitschern. Wie viele andere Tiere nehmen sie offenbar Stimmfühlung (oder wie etwa Dachse Geruchsfühlung) miteinander auf. Geht man an einem warmen Junitag übers Feld, wird man mit etwas Glück Grillen bei der gleichen Tätigkeit beobachten können. Was da zu hören ist, nennen Verhaltensforscher den „Artgesang“.

Gebet – Artgesang des Menschen

Viele Tiere haben ihren Artgesang, woran sie sich erkennen. Sie singen natürlich nicht, damit Verhaltensforscher die Arten unterscheiden und klassifizieren können. Sie singen vielmehr, um ihre Zusammengehörigkeit kundzutun und sich ihrer Gemeinschaft zu versichern: Sie nehmen Stimmfühlung miteinander auf. Haben wir nicht auch einen solchen Artgesang, worin wir uns in unserem tiefsten Wesen erkennen und uns als Brüder und Schwestern empfinden? Etwa in Demonstrationen oder im frenetischen Jubel in Fußballstadien, wenn Jubel wie aus einer Kehle dringt, oder das Gegenteil wie Entrüstung oder kollektive Wut?

Nein, das trifft es noch nicht, auch wenn einige Fanclubs ihre ganz spezifischen Gesänge haben. Allerdings würde ein Verhaltensforscher den Jubel in Fußballstadien unter die „Funktionsgesänge“ einreihen. Funktionsgesänge sind immer begrenzt und haben einen bestimmten Zweck und ein bestimmtes Ziel. Der Artgesang hat das nicht. Er erklingt, wie Konrad Lorenz einmal sagte, wenn der Vogel „dichtend vor sich hin singt.“ Im Artgesang sagt der Vogel: „Ich bin da. Wer ist noch da? Hört mich an und zeigt mir, dass ihr auch da seid, damit ich weiß, dass ich nicht alleine bin.“

Ganz anders die Funktionsgesänge: Sie erklingen, wenn eine Amsel etwa einen Rivalen ansingt, oder wenn sie im Balzgesang um ein Weibchen wirbt. Podiumsdiskussionen, Demonstrationen oder Jubel in Fußballstadien sind gewiss eher diesen Funktionsgesängen zu vergleichen, weil ja doch nur eine von vielen Weisen des Menschseins darin zum Ausdruck kommt.

Stimmfühlung aufnehmen und vor Gott bringen.

Was viel eher als „Artgesang“ des Menschen bestimmt werden kann, war in unserer Zeit mehr und mehr im Schwinden begriffen. Jetzt dringt er in der Ukraine wie zuletzt bei uns vor gut achtzig Jahren auch wieder aus Luftschutzbunkern oder aus Kellergewölben. Vielleicht hört man ihn auch noch in ländlichen Gegenden bei Bittprozessionen. Er gehört nicht nur in Kirchen. Er erklingt noch im Abend- und Morgengebet der Klostergemeinschaften oder als Rosenkranzgebet einiger alter Frauen in leeren Kirchen und auch das ist extrem selten geworden. Funktionsgesänge haben ihn abgelöst auf Straßen und Plätzen, selbst in Coronazeiten als Demonstrationen für und gegen das Impfen. Ich will gar nicht fragen, ob Bittprozessionen – wenn denn jemand darum gebeten hätte – zum gleichen Thema im Frühjahr 2020 erlaubt worden wären.

Gebet ist jedenfalls als Gemeinschaftsgebet im Schwinden begriffen. Das Gebet in Gemeinschaft ist jedoch der Artgesang des Menschen.

Das Gebet allein drückt im Tiefsten das Wesen des Menschen aus. Im Gemeinschaftsgebet nehmen wir gleichzeitig Stimmfühlung miteinander und mit Gott auf, von dem wir kommen und den wir allein unter allen Lebewesen als unseren eigentlichen Lebensgrund erkennen können. Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa würde das als horizontale und vertikale Resonanzachsen bezeichnen.

Der Mensch – das „Tier“ – das betet

Natürlich kann das Gebet als Not- oder Bittgebet auch zu einem Funktionsgesang werden. Aber seine tiefste Bedeutung gewinnt es, wenn wir frei von Erhaltungszwängen sind, wie ein Vogel, wenn er „dichtend vor sich hin singt.“, auf uns gewendet, wenn wir uns im Gebet als Zusammengehörige erleben, die Gott in diese Gemeinschaft mit einbeziehen will. In meiner Heimat war es bis vor wenigen Jahren immer noch Sitte, vor der Beerdigung eines Verstorbenen an drei Tagen mit der Gemeinde einen Rosenkranz für ihn zu beten. Vor 50 Jahren ist man noch mit Rosenkranz in den Händen begraben worden. Ein weiteres Beispiel für unsere besondere Seinsweise: Es ist der Glaube, dass der Verstorbene nicht gänzlich aus dem Kreis der Lebenden ausgeschieden ist, sondern mit ihnen und seinem Urgrund in irgendeiner Weise verbunden bleibt. Dieses Wesen des Menschen wird im Gemeinschaftsgebet ausgedrückt und besonders in Nöten und Katastrophen – Grund hätten wir ja gerade – auch eindrucksvoll erfahren. Warum tun wir es nicht den Spatzen nach und nehmen Stimmfühlung miteinander auf, wie es unserer Art entspricht – anstatt uns in Funktionsgesängen auf Straßen und Plätzen – wie Amseln einen Rivalen – wütend anzusingen?

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von Dr. phil. Helmut Müller

Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag, Link: https://www.fe-medien.de/hineingenommen-in-die-liebe

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