Hic Rhodus, hic salta: Die deutschen Bischöfe müssen ihr Verhältnis zu Barmen 1 klären

Nein, ein „Nazivergleich“ war das definitiv nicht. Kurt Koch hat nicht behauptet, dass die Synodalen des Jahres 2022 ticken wie die Braunhemden des Jahres 1933. Er hat noch weniger behauptet, dass die inhaltliche Mentalität der theologisch oft liberalen (Zufall?) evangelischen Pfarrerschaft, die zugleich politisch stramm deutschnational dachte und die sich mit den neuen Verhältnissen nach der Machtergreifung nicht nur arrangierte sondern identifizierte, den Mentalitäten der Mehrheitsbischöfe des Synodalen Weges ähnlich oder gleich sei.

Vielmehr: Kurt Koch hat eine reale theologiegeschichtliche Analogie präzise benannt – hinter der ein ebenso reales theologisches Problem steht. Kurt Koch fragt – und die Frage ist schlicht sachlich berechtigt – ob den Synodalen des Jahres 2022 der grundlegende Begriff der Offenbarung nicht ähnlich ins Unklare geraten ist, wie den theologischen Vordenkern der Deutschen Christen des Jahres 1933 und danach. Das und nur das steht zur Debatte.  Wenn auch nur die Frage berechtigt ist, dann allerdings ist das äusserst schmerzhaft. Und es verwundert nicht, dass die offensichtlich Getroffenen versuchen, die sachliche Berechtigung der Frage in einem Wust künstlicher Empörung über einen nicht vorhandenen Nazivergleich zu ersticken.

Die 1. These der Barmer Erklärung

Es verwundert ebensowenig, dass Georg Bätzing und viele andere Empörte den zentralen Text, den Kurt Koch zur Unterscheidung positiv wie abgrenzend anführt, schlicht unterdrücken. Das allerdings halte ich für eine Infamie. Es ist ein berühmter Text. Es ist ein wichtiger Text. Dass aber der Ökumeneminister des Vatikan diesen Text zur entscheidenden Stützung seiner kritischen Anfrage als theologische Autorität anführt, als sei es ein Text des eigenen Lehramts, ist zugleich ein ökumenisches Ereignis. Denn der berühmte und wichtige Text ist ein protestantisches Bekenntnis. Es handelt sich um die erste These der Barmer theologischen Erklärung:

„Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

Kurt Koch eignet sich diesen protestantischen Bekenntnistext als Ausdruck seines eigenen Glaubens an und eröffnet damit eine katholische Rezeption dieser ersten Barmer These. Damit folgt Koch einer schon im Ursprung der Erklärung angelegten Dynamik. Denn auch dieser Ursprung war bereits ein ökumenisches Ereignis: Angesichts der Bedrohung durch die Gleichschaltung der deutschen evangelischen Kirche durch das Zusammenspiel des Naziregimes mit den „Deutschen Christen“ formulieren erstmals lutherische, reformierte und unierte Theologen ein ihren jeweiligen Bekenntnisstand übergreifendes Bekenntnis gegen die falsche, das Evangelium verratende Theologie der Deutschen Christen und der damit verbundenen Konzeption von Kirche.

Konfessionsübergreifendes Offenbarungsverständnis

Die theologische Grundlage der Bekennenden Kirche übergreift also die innerprotestantischen Bekenntnisstände. Das war alles andere als leicht und und schon gar nicht selbstverständlich. Denn innerhalb des Protestantismus war es gerade nach dem ersten Weltkrieg zu einer intensiven Rückbesinnung auf die unterschiedlichen Bekenntnisse gekommen; es sei als Beispiel für dieses Phänomen nur an die sogenannte „Lutherrenaissance“ erinnert. Dem gegenüber realisiert Barmen das, was C.S. Lewis „Mere Christianity“ genannt hat: „Christentum schlechthin“ noch vor den Gegensätzen der Bekenntnisbildung. Und deshalb kann Kurt Koch Barmen 1 aufnehmen und mit vollem Recht zum Unterscheidungskriterium einer innerkatholischen Debatte machen. Um es pointiert auf den Punkt zu bringen: Zwischen Barmen 1 und das erste Kapitel der dogmatischen Konstitution Dei Verbum – die sog. Offenbarungskonstitution des zweiten Vaticanums, ein Text des höchsten Lehramts also – passt kein Blatt Papier. Barmen 1 ist eine konfessionsübergreifende Aussage von schlechterdings fundamentaler Bedeutung für das Selbstverständnis des christlichen Glaubens.

Natürlich liest jeder dann wiederum die Thesen im Licht der eigenen konfessionellen Tradition. Man kann sie legitim lutherisch und reformiert lesen. Das ist selbstverständlich. Aber eben auch – und das ist wohl die Überzeugung des Ökumeneministers – katholisch. Das hätte den Karl Barth des Jahres 1934, der mit dem norddeutschen Lutheraner Hans Asmussen der schweizerische, reformierte Hauptautor der Thesen ist (der Dritte im Bunde war der bayerische Lutheraner Thomas Breit), wohl ziemlich verwundert. Er hätte gefragt: Ist diese Rezeption legitim? Haltet ihr Katholiken es nicht so, wie es auch unsere Liberalen seit Schleiermacher getan haben: Stellt ihr nicht neben das Offenbarungszeugnis der Schrift, in der das eine Wort Gottes, das da zuerst und zuletzt Jesus Christus ist, aktuell gehört werde kann, weitere Quellen wie die sog. „natürliche Theologie“, die als philosophische Theologie euren Gottesbegriff bestimmt? Ist nicht – vgl. die berühmte Stelle aus dem Vorwort des ersten Bandes der Kirchlichen Dogmatik 1932 – die „Analogia entis“ die Erfindung des Antichrist und der einzige ernsthafte Grund nicht katholisch zu werden?

Das „Dei Verbum“ wörtlich nehmen

Nun, 1934 hätte man Barth noch nicht auf die gegenüber Barmen 1 ebenso radikale Christozentrik von Dei Verbum verweisen können. Henri de Lubac hat in seinem grossartigen Kommentar zur Offenbarungskonstitution nachdrücklich angemahnt, das „Verbum“ in „Dei Verbum“ immer gross zu schreiben. Denn das Wort Gottes, als Inbegriff der Selbstmitteilung Gottes in Wort und Tat, sei hier eben – als das eine Wort in den vielen Worten und als ihr absoluter Grund – identisch mit Jesus Christus als dem fleischgewordenen Logos. Genau so sieht es auch Barmen 1. Aber auch in der Offenbarungskonstitution des ersten Vaticanums ist die „natürliche Theologie“ keine Quelle der Verkündigung der Kirche neben dem eigentlichen Offenbarungsgeschehen. Sie ist kein Addendum auf der selben Ebene, sondern lediglich ein fundamentaltheologischer Horizont, der klärt, wieso ein Offenbarungsereignis als solches überhaupt erfasst werden kann. Überdies unterliegt – das erste Vaticanum macht dies ausdrücklich, indem es Thomas von Aquin zitiert – alles denkerische Bemühen des Menschen um eine philosophische Gotteslehre der kritischen Unterscheidung vom eigentlichen Offenbarungswort her. Barths Theologie gerät an dieser Stelle in Aporien, sein rein pneumatologischer Lösungsversuch entgeht nicht der logischen Widersprüchlichkeit. De facto nähert er sich der recht verstandenen katholischen Position in der Lichterlehre der Schöpfungsbände der Kirchlichen Dogmatik weitgehend an. Es bleibt dabei: Die exklusive Christozentrik des Offenbarungsbegriffs in Barmen 1 ist mit der verbindlichen katholischen Lehre nicht nur kompatibel, sondern substantiell identisch. Kurt Koch liegt richtig, wenn er die starke und klare Formulierung von Barmen 1 kriteriologisch gegenüber der verwaschenen Offebarungstheologie im Orientierungstext des Synodalen Weges in Anschlag bringt.

Faktische Relativierung der Offenbarung

Denn in der Tat – und das ist der eigentliche Knackpunkt: Im Orientierungstext des Synodalen Weges geschieht strukturell – und genau dies ist hier entscheidend, nicht aber eine Übereinstimmung in materiellen Vorstellungen, die es nicht gibt – die selbe Katastrophe, die dem (Pseudo-)Offenbarungsdenken der Deutschen Christen zugrundelag. Um was handelt es sich? Neben der in Jesus Christus eschatologisch unüberbietbaren und endgültigen Offenbarungsgeschichte Gottes treten weitere Offenbarungsereignisse, die nicht identisch sind mit der je neuen Vergegenwärtigung der Christusoffenbarung und der je neuen vertiefenden Aneignung und Entdeckung des einen und einzigen Evangeliums. Worin liegt die Katastrophe? Mit zwingender Notwendigkeit wird so eben die absolute Qualität, die eschatologische Unüberbietbarkeit und Endgültigkeit der Christusoffenbarung relativiert – und damit de facto aufgehoben. Zugleich wird aus Offenbarungstheologie schlechte Geschichtsphilosophie. Denn immer ist damit verbunden die beinahe absolute Selbstgewissheit, die kaum mehr befragbar ist, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Georg Bätzing sollte sich selbst einmal kritisch befragen, ob z.B. sein hohles Pathos von Fortschritt und Zukunftsfähigkeit mit dem er inzwischen regelmässig Kritiker als fortschrittsfeindliche Dunkelmänner denunziert und das sozialwissenschaftlich nicht gedeckt ist (um es vorsichtig auszudrücken) nicht genau in die Richtung dieser geschichtsphilosophischen Korruption weist. Die Zukunft der Kirche liegt in der steten Neuheit des Evangeliums und in der Erneuerungskraft des Heiligen Geistes: zwei Seiten einer Medaille – und sonst in nichts. Alles andere ist Irrglaube.

Ist das nur eine böse Unterstellung? Um diese Frage zu klären, bietet sich die direkte Konfrontation an. Hören wir noch einmal die Abweisung in Barmen 1:

„Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

Und nun Georg Bätzing in einer sicher authentischen Auslegung des Orientierungstextes:

„Der Orientierungstext geht nun aber, gemeinsam mit einer Reihe von lehramtlichen Texten, wie etwa der Konzilskonstitution Gaudium et spes und der Enzyklika Pacem in terris des hl. Papstes Johannes XXIII., davon aus, dass Gott, der Schöpfer und Erhalter der Welt, sich auch in dieser Welt und in der Geschichte der Menschen immer wieder offenbart, dass sein Wirken und sein Wesen also an Ereignissen der Geschichte verdichtet erkennbar wird…..Unter dieser Rücksicht aber sind sie tatsächlich nicht nur „Verstehens-Hintergrund“, sondern echte Quellen für die Reflexion des Glaubens. Nicht allein aus Schrift und Tradition, Theologie, Lehramt und Glaubenssinn der Gläubigen kann etwas über den Willen Gottes für die Menschen und für seine Kirche erfahren werden, sondern auch aus Zeitereignissen und Zeitentwicklungen in der Geschichte, durch die das Volk Gottes pilgernd unterwegs ist.“

Karten auf den Tisch!

Ob hier Gaudium et spes und Pacem in terris korrekt interpretiert sind, muss dringend nachgefragt werden. Dies soll aber nicht unsere Frage sein. Klar ist nur eines: Wer die Rede von der Geschichte als Ort der Offenbarung Gottes bei den theologischen Vordenkern der Deutschen Christen kennt, kann hier nur zutiefst erschrecken. Was Bätzing hier sagt, ist genau das, was Barmen 1 verwirft.

Und was Bätzing hier sagt, widerspricht in aller Klarheit Dei Verbum:

„Er [Jesus Christus] ist es, der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt und durch göttliches Zeugnis bekräftigt, daß Gott mit uns ist, um uns aus der Finsternis von Sünde und Tod zu befreien und zu ewigem Leben zu erwecken. Daher ist die christliche Heilsordnung, nämlich der neue und endgültige Bund, unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit (vgl. 1 Tim 6,14 und Tit 2,13).“ (DV 4, vgl. schon DV 2: „Die Tiefe der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist.“)

Wie sieht die Bilanz aus? Kurt Koch stellt mit theologiegeschichtlicher Präzision eine sachlich schwergewichtige Frage. Unsere ersten Nachforschungen zeigen ein erschreckendes, ja ein verheerendes Ergebnis. Georg Bätzing und die deutschen Bischöfe, die Synodalen und das ZDK müssen sich die Frage gefallen lassen: Wie haltet ihr es mit Barmen 1 als einer auch katholisch gültigen Basisformulierung eines schlicht christlich authentischen und verbindlichen Offenbarungsverständnisses? Barmen 1: Ja oder Nein? Hic Rhodus, hic salta.


Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau.

Bildquelle: Adobe Stock (bearbeitet)

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