Von der Aversion gegen alles Katholische hin zu einer Kirche, die Tiefe und Schönheit hat. Bernhard Meuser sprach am 31. Januar 2025 anlässlich der Pressekonferenz zur Buchvorstellung „Urworte des Evangeliums“ in Köln über Kirchenhasser, Lamentierer, falsche Reformen und das Aufleuchten einer neuen Kirche am Horizont durch den Glauben und das Engagement von Menschen, die ihre Kirche lieben.

Kirche ist mehr als Lametta

Das Thema, das uns in der Abtei Mariendonk zusammenführte, möchte ich mit einem kleinen Erlebnis illustrieren. Im Advent 2024 war ich in einem ICE unterwegs. In der Vierer-Sitzgruppe mir gegenüber saßen drei Girlies, die wohl die Oberstufe eines kirchlichen Gymnasiums besuchten. Plötzlich brach es aus einer der jungen Damen heraus: „Ich hasse das Katholische!“ Lebhafte Zustimmung der anderen. „Yesss!!! Katholisch ist sowas von Scheiße!“ Doch dann differenzierte die Wortführerin: „Aber eines muss man ihnen lassen: Weihnachten, das können sie!“ – „Verdamm mich, das können sie!“ Hinterher schwelgten sie im Weihnachtszauber …

So ist es, dachte ich mir.

Es geht ein eisiger Wind über alles Christliche hinweg. Irgendwo haben sich noch Fetzen von Lametta im Gelände verfangen. Die kollektive Aversion gegen alles Katholische – sie muss übrigens nicht unbedingt ein Abschied von Religion und ein Abgesang auf Gott sein – hat mit der „Kirche des Missbrauchs“ zu tun (wie sie von außen und innen affirmiert wurde), – aber ganz bestimmt nicht nur. Wir hätten unser Buch „Urworte des Evangeliums“ gewiss nicht geschrieben, wenn wir nicht tief davon überzeugt wären, dass die Kirche mehr als Lametta zu bieten hat.

Ort der Gegenwart Jesu Christi

Wer ist „wir“? Der “Neue Anfang” ist vielen Katholiken nur als eine Art “außerparlamentarische Opposition” zum deutschen Synodalen Weg bekannt. Das waren wir und sind wir, wenn uns auch eine ganz andere, eine positive, man könnte sagen „progressive“ Vision antreibt. Viele von uns sind Mütter oder Väter; und wir denken vor allem an unsere Kinder, denen gerade auf allen Ebenen die „Kirche“ ausgetrieben wird. Wir möchten in ihnen Liebe zu Gott wecken und ihnen einen Begriff von dieser Kirche schenken, der Tiefe und Schönheit hat, und der in der Lage ist, ihnen eine intellektuelle und emotionale Heimat zu geben. Sie werden daher in unserem Buch weniger Kritik an den bestehenden Verhältnissen finden, als die leidenschaftliche Vergewisserung der göttlichen Ursprünge dieser Institution, die in der tiefsten Entfremdung immer noch der Ort Seiner Gegenwart ist. Wir halten es nach wie vor mit dem provokanten Bekenntnis von Frére Roger:

„Christus und die Kirche lieben, das ist eins.“

Das „systemische“ Missbrauchs-Narrativ

Die Initiative „Neuer Anfang“ entstand im Jahr 2021 aus der Verwunderung einiger katholischer Anthropologen, Philosophen und Theologen über die Aufarbeitung von Missbrauch in der Katholischen Kirche in Deutschland, wie er nach der Veröffentlichung der MHG-Studie im Jahr 2018 das Gebot der Stunde war. Ohne dass man es für nötig hielt, sich einer sachgerechten öffentlichen Debatte über diese Studie und die wirklichen Ursachen von Missbrauch zu stellen, wurden die Gläubigen mit einem feststehenden „Ergebnis“ konfrontiert.

Da sich hinter dieses Ergebnis, von dem gleich noch zu reden sein wird, gleich zwei Institutionen stellten – nämlich die deutsche Bischofskonferenz und das ZdK als einer Art Laienvertretung – verfiel die Öffentlichkeit in ergebene Schockstarre. Und glaubte! Nach dem Motto: Die müssen ja wissen, woran es liegt!

Die „Erzählung“, die fortan wie ein Dogma durch Kirche, Land und Medien getragen wurde, lautet in Kurzfassung:

Der sexuelle Missbrauch in der Katholischen Kirche ist kein Zufall, sondern der symptomatische Ausdruck und die systemlogische Folge einer auf allen Ebenen herrschenden strukturellen Gewalt. Die zölibatär-klerikale Männerherrschaft produziert fortwährend neue Opfer, indem sie immer neue Formen von geistigem, geistlichem und sexuellem Missbrauch hervorbringt, die sie mit Instrumenten der Machtsicherung vertuscht.

Diese “Erzählung” kam denen entgegen, die – außerhalb der Kirche – in der Kirche immer schon das Böse sahen. Sie kam aber auch denjenigen gelegen, die – innerhalb der Kirche, oft sogar von ihr bezahlt – plötzlich ihre eigene, real existierende Kirche nicht fies genug zeichnen konnten, auf dass ihre eigene Vision einer anderen, humanen, toleranten, demokratischen Kirche wie der Morgenstern nach finsterer Nacht aufging. Eine Argumentationsfigur, die an die Endphase der DDR erinnert: „Wenn aber der wirkliche Sozialismus kommt …“

Opfer der  „Un-Kirche“ der Gewalt

Angestellte Kinder der Kirche setzten sich so gründlich von der „bösen“ Mutter ab, bis jede historische und aktuelle Lebensäußerung der hierarchisch verfassten Kirche dem „bösen“ Herrschaftsanspruch von „bösen“ Klerikern entsprang, denen keine Form von Gewalt schlimm genug erschien, sie anzuwenden: Geistige Gewalt, geistliche Gewalt, sexuelle Gewalt. Die Kirche Jesu erschien plötzlich als ein einziges antimodernes Refugium von Gewaltherrschaft – vom Lehramt in unbedingter Bindung an das Wort Gottes, über die Sakramente, den Zölibat bis zum Katechismus – alles Gewalt. Laien von Priestern zu unterscheiden? Gewalt! Kindern die Beichte abzunehmen? Gewalt? Frauen die freie Berufswahl zum Priestertum abzusprechen? Gewalt! Priester zur Keuschheit zu verpflichten? Gewalt! Nach und nach entstand das Bild einer Un-Kirche, die nur noch Opfer produzierte, deshalb aufgeklärten Menschen nicht mehr zumutbar ist, es sei denn in der Negation und als herstellbare Utopie im Horizont der Moderne. Man könnte, was man aus dem Missbrauch schöpfte, von einer “Religionsterror-These” sprechen. Denken Sie bitte noch einmal an den Anfang meiner Rede zurück: Wer hat den drei Girlies im ICE den Hass auf „das Katholische“ eingeimpft? Möglicherweise war es ihr eigener Religionslehrer.

Die geplatzte „Religionsterror-These“

Wie viele andere Gläubige auch schenkten wir dieser “Erzählung” von Anfang an keinen Glauben. Tatsächlich stellte sich die Gleichsetzung von “Katholisch” und “Missbrauch” spätestens nach der evangelischen Missbrauchs-Studie „ForuM“ als krachenden Irrtum heraus. Rein quantitativ gibt es keinen Unterschied zwischen Missbrauch in der katholischen wie der evangelischen Kirche – höchstens der, dass ‘katholisch’ ein signifikant hoher Anteil von gleichgeschlechtlichen Übergriffen auf männliche Jugendliche festzustellen ist. „Ein reines Männlichkeitsphänomen!“ diagnostizierte der Soziologe Detlef Pollack. Mit Zölibat habe das nichts zu tun. Die Kirchen könnten allenfalls helfen, ein gesamtgesellschaftliches Problem besser aufzuarbeiten.

Die geplatzte „Religionsterror-These” – die Annahme einer Kirche also, die strukturell so böse ist, dass ihre Gewalt sogar sexuelle Formen annimmt – entwertete von einem auf den anderen Augenblick die falsch ansetzende Missbrauchsaufarbeitung, machte Tonnen von Papier zunichte und entzog den meisten Folgerungen, die aus der Religionsterror-Erzählung geschöpft wurden, den Boden.

Papst versus deutsche Reformbestrebungen

Die Kritik, mit der Papst Franziskus von Anfang an den deutschen Vorstellungen von Reform begegnete, setzten in einer anderen Tiefe an, – nämlich bei der erschütternden Erosion von Glauben als der wahren Ursache ihres spirituellen und ethischen Niedergangs. In einem 19-seitigen, handgeschriebenen Brief an die deutschen Katholiken formulierte der Papst eine „Einladung, sich dem zu stellen, was in uns und in unseren Gemeinden abgestorben ist, was der Evangelisierung und der Heimsuchung durch den Herrn bedarf.“ Das verlange einen Mut, der „viel mehr“ sei, „als ein struktureller, organisatorischer oder funktionaler Wandel.“ Die ernsten Worte von Papst Franziskus fanden bei den unmittelbaren Adressaten leider keine Beachtung.

Der „Neue Anfang“

Der „Neue Anfang“ hat sich diese Linie von Anfang an zu eigen gemacht und sie auch dort verteidigt, wo reaktionäre Kräfte vom Papst abrückten, wo sie etwa „Fiducia supplicans“ als häretisch zu erkennen meinten oder das Insistieren von Franziskus auf „Synodalität“ als Erfindung des Teufels diskreditierten. Insofern befinden wir uns in bester Gesellschaft, wenn der „Neue Anfang“ als konservativ, rechts oder reformfeindlich geschmäht wird. Wir sind so konservativ, progressiv, skeptisch, mutig und ungeduldig wie der Papst. Was sind wir noch?

Wir sind Männer und Frauen, die ihre Kirche lieben, trotz der beschämenden Vorgänge um Missbrauch und Vertuschung. Ich selbst bin – nebenbei bemerkt – Betroffener eines solchen Missbrauchs.

Wir sind (man muss das hinzufügen) freie, dem Evangelium verpflichtete Leute. Wir beziehen in der Regel kein Kirchengehalt, das ein Interesse am Erhalt falscher Strukturen begründen würde.

Wir bekennen uns zu einer Form von kritischem Katholizismus, der sich auch von Bischöfen den Mund nicht verbieten lässt.

 Wir leiden unter der fundamentalen Entfremdung der Kirche von ihrem Ursprung, – einer Kirche, die sich, ihre aktuellen Wünsche und ihre gesellschaftliche Reputation wichtiger nimmt als ihre Botschaft und ihren Herrn.

 Wir engagieren uns für die anspruchsvollere Erneuerung, die Papst Franziskus in EVANGELII GAUDIUM proklamiert hat. Sie sucht nach der verlorenen Liebe zu Gott und beginnt mit der Bekehrung unseres eigenen Herzens.

Wir weisen das kircheninterne Gejammer über die schlimme Säkularisierung zurück. Wir sind selbst dran schuld, wenn nur noch 6 % der Kirchenmitglieder am Sonntag die Messe besuchen und 30 % der Kirchenmitglieder nicht an die eigene Auferstehung und das Ewige Leben glauben.

Wir staunen darüber, dass Freikirchen vor jungen Leuten überquellen und in der Katholischen Kirche oft nur noch graue Panther zu sehen sind.

Wir ärgern uns über Kirchenvertreter, die im Politischen dilettieren und im Spirituellen versagen. Wir schämen uns der kirchlichen Wortführer, die im gleichen Moment ihre Apparate retten wollen, in dem sie unfähig geworden sind, ihren Sinn zu benennen, ihren Zweck zu beschreiben und ihre Inhalte zu lehren.

Uns bedrückt die geringe Integrationskraft einer verbürgerlichten Kirche, in der zwar junge Menschen keine Heimat mehr finden, aber selbst Missbrauchstäter noch eine Nische finden und fröhlich fortalimentiert werden.

Aufbrüche sehen statt Jammern

Als wir unser Buch „Urworte des Glaubens“ begannen, setzten wir uns mit großem Ernst einer Frage aus, mit der Papst Franziskus im Jahr 2013 die brasilianischen Bischöfe konfrontierte: „Sind wir noch eine Kirche, die imstande ist, die Herzen zu erwärmen? Eine Kirche, die fähig ist, nach Jerusalem zurückzuführen? Wieder nach Hause zu begleiten? In Jerusalem wohnen unsere Quellen: Schrift, Katechese, Sakramente, Gemeinschaft, Freundschaft des Herrn, Maria und die Apostel … Sind wir noch fähig, von diesen Quellen so zu erzählen, dass wir die Begeisterung für ihre Schönheit wiedererwecken?“

Wir schauten uns in die Augen. Und wir entdeckten das „Ja“ in den Erfahrungen des Anderen. Jeder, der an diesem Buch mitgeschrieben hat, hat mehr erlebt als den grauen Pragmatismus des kirchlichen Alltags.

Wir haben mehr von der Kirche und in der Kirche gesehen als eine unbewegliche Behörde, mehr als eine Bürokratie, die weder an sich, noch wirklich an Gott glaubt, aber unter allen Umständen den Menschen gefallen und als unersetzlich angeschaut werden möchte.

Wir haben Aufbrüche gesehen, wo verbrannte Erde war.

Wir haben gesehen, wie aus konventionellen Christen und gelangweilten Kirchenbesuchern entschiedene Jünger Jesu wurden.

Wir haben junge Leuten gesehen, die soziale Projekte durchführen, die Glaubensgruppen gründen und sich Kraft holen, indem sie Lobpreis machen und anbeten.

Wir haben Leidenschaft gesehen in alten Leuten, die ihre Häuser öffnen für Alphakurse.

Wir haben es an den Rändern der großkirchlichen Apparate gesehen. Wir entdeckten das gleiche Feuer der Liebe aber auch in Leuten, die sich in klassischen Gemeinden, in Verbänden und Vereinen engagieren. Auch dort gibt es leidenschaftliche Christen. Nicht wenige von ihnen leiden unter dem Defätismus in den offiziellen Strukturen.


Bernhard Meuser
Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral.


Beitragsfoto: Bernhard Meuser, hier bei der Buchpräsentation am 1.2.25 / Fotograf: Thomas Esser

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