Nach dem Ampel-Aus, kurz vor Weihnachten und noch vor den Neuwahlen soll in einem Hau-Ruck-Verfahren der § 218 StGB gekippt werden. Wahlkampf auf Kosten der Ungeborenen und deren Mütter in Not. Martin Grünewald beleuchtet den Streit um das Lebensrecht Ungeborener, erklärt die aktuelle Rechtslage und skizziert die verschiedenen Positionen.
Ein ungeborenes Kind ist nicht nur erbfähig, es genießt auch den Schutz unserer Verfassung. Das Bundesverfassungsgericht vertritt seit 50 Jahren die Ansicht, dass der Staat es notfalls auch vor der eigenen Mutter schützen muss. Darf daran gerüttelt werden? Ein von Vertretern der SPD und der Grünen am 14. November vorgestellter Gesetzentwurf sieht eine weitere Aufweichung dieses Schutzes vor.
In seiner Grundsatzentscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht am 25. Februar 1975 erklärt:
„1. Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.
2. Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht auch gegenüber der Mutter.
3. Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.“
Beratungspflicht nach dem Stopp aus Karlsruhe
Nach dem Stopp aus Karlsruhe hat der Gesetzgeber eine Regelung geschaffen, die die Rechte beider Betroffener berücksichtigt: das Lebensrecht des ungeborenen Kindes und das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau. Beide können kollidieren. Kern des staatlichen Konzeptes ist eine Beratungspflicht, welche der Schwangeren nicht mehr zumutet, als sich mit dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes auseinander zu setzen. Faktisch liegt die Entscheidung über die Fortsetzung oder den Abbruch der Schwangerschaft bereits heute folgenlos bei der Mutter, wenn sie sich an die Regularien hält: Abbruch in den ersten 12 Wochen, Beratung und dann frühestens Abtreibung drei Tage später durch einen Arzt.
Wer ist schwächer und schützenswerter?
Vielen Politikern – vor allem aus dem linken und grünen Lager – bedeutet das zu viel Rücksichtnahme. Gerade diejenigen, die sich politisch gerne für die vermeintlich Schwächsten der Gesellschaft einsetzen, nehmen beim Schutz der Ungeborenen eine andere Position ein. Sie halten die ungewollt Schwangere für schützenswert gegenüber patriarchaler Männerdominanz. Sie verdrängen, dass gerade die gültige Regelung Frauen schützt. Diese können sich Hilfe bei der Beratung holen. Und sie können gegenüber Männern, die eine Abtreibung verlangen, darauf hinweisen, dass dies rechtswidrig ist und sie sich strafbar machen können.
Das will die neue Initiative im Bundestag ändern.
„Wir stellen den Antrag zur Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen, weil wir davon ausgehen, dass er noch in dieser Legislaturperiode beschlossen werden kann”,
erklärten die Grünen-Abgeordnete Ulle Schauws und Carmen Wegge von der SPD gegenüber der Nachrichtenagentur dpa.
Prominente Unterstützer
Den Gesetzentwurf haben auch Kanzler Olaf Scholz, die beiden SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil sowie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich unterschrieben, ebenso die Grünen-Minister Annalena Baerbock und Robert Habeck sowie die Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann. Über die Vorlage soll nach dem Willen der Initiatoren noch vor der Neuwahl des Bundestags am 23. Februar abgestimmt werden. Es handelt sich um einen fraktionsübergreifenden Antrag.
Gleich am nächsten Morgen kündigte CDU-Fraktionschef Friedrich Merz Widerstand an. Bereits vor der Fraktionssitzung erklärte er öffentlich:
„Es gibt einen Gruppenantrag aus der SPD und aus der Grünen-Fraktion sowie von Teilen der FDP, den Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches abzuschaffen. Ich bin wirklich entsetzt darüber, dass derselbe Bundeskanzler, der immer wieder vom Zusammenhalt, vom Unterhaken und von Gemeinsinn spricht, mit auf der Liste dieses Gruppenantrags mit seiner Unterschrift erscheint. Ich fordere den Bundeskanzler auf, seine Unterschrift zurückzuziehen und ich fordere die restliche Koalition auf, diesen Antrag hier nicht zur Abstimmung zu stellen.“
Regierungschaos im Hauruckverfahren nutzen?
Anschließend erklärte die familienpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Silvia Breher:
„Ein so hoch emotionales Thema, ohne eine angemessene Beratungszeit durch das Parlament zu peitschen, ist verantwortungslos. Unsere Gesellschaft ist in der Frage gespalten. Die Befürworter dieses Antrages provozieren geradezu neue gesellschaftliche Unruhe, die vor allem den Frauen schaden wird, die sich in einem Schwangerschaftskonflikt befinden.“
Der rechtspolitische Sprecher der Union, Günter Krings, fügte hinzu:
„Unsere Haltung ist eindeutig: Wir halten uns an die Verfassung, die auch das ungeborene Leben schützt.“ Und: „Die Befürworter dieses Antrags vermeiden eine gründliche Diskussion und wollen das durch den Bundeskanzler verursachte Regierungschaos im Hauruckverfahren für ihre Zwecke nutzen.“
Ministerin will Frauen „entkriminalisieren“
Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Dorothee Bär (CSU), erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur AFP:
„Als CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden wir uns mit aller Kraft dagegen wehren.“
Protest kommt auch von der rechtspolitischen Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Katrin Helling-Plahr. Zum juristischen Fachportal LTO sagte die Fachanwältin für Medizin- und Familienrecht:
„Ich bin nicht Teil dieser Gruppe von Abgeordneten. Ich halte es überdies für höchst unangebracht, ein so komplexes medizinethisches Thema in so kurzer Zeit behandeln und für den Wahlkampf nutzen zu wollen. Statt nun eine Abstimmung übers Knie zu brechen, bräuchte es eine breite gesellschaftliche Debatte, um diesem Thema gerecht zu werden.”
Laut LTO unterstützt Bundesfrauenministerin Lisa Paus ebenfalls den Gruppenantrag. Frauen müssten eigenständig und selbstbestimmt über den Umgang mit der Schwangerschaft entscheiden können – „und zwar ohne kriminalisiert zu werden“, sagte die Grünen-Politikerin.
Kollisionskurs zum geltenden Verfassungsrecht
Damit geht die Bundesministerin auf Kollisionskurs zum geltenden Verfassungsrecht. Eine Fristenregelung, die keine Rücksicht auf das Leben des ungeborenen Kindes nimmt und auf eine Abwägung verzichtet, ist allerdings verfassungswidrig. Ein späteres Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 28. Mai 1993 hat diese lange bestehende Rechtsprechung bestätigt. Deshalb steht der Vorwurf im Raum, dass der Gruppenantrag im Bundestag trotz Kenntnis der Rechtslage einen Bruch des geltenden Verfassungsrechtes plant.
Zu diesem Ergebnis kommt auch neuere juristische Literatur. Patrick Heinemann sieht in dem Versuch zur weitgehenden Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs „gefährliche Relativierungen von Lebens- und Menschenwürdeschutz“. In dem Juristen-Fachportal LTO spricht er von einer „Gefährliche Relativierung der Menschenwürde“. Den Abschlussbericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin der Bundesregierung kommentiert er mit den Worten: „Ein derart abgestuftes Schutzmodell überzeugt mich nicht. Grundrechte gelten oder sie gelten nicht.“ Er sieht darin den Versuch, „ein vorbehaltloses Recht auf den Schwangerschaftsabbruch verfassungsrechtlich herleiten zu wollen“.
Ist Relativierung der Menschenwürde diskussionswürdig?
Der Bericht der von der Bundesregierung beauftragten Kommission, der bereits im April vorgelegt wurde, führe „schwere Schläge nicht nur gegen den Lebens-, sondern auch gegen den Würdeschutz des Nasciturus“ (des ungeborenen Kindes). Unter dem Grundgesetz könne es kein menschliches Leben ohne Würde geben. Vielmehr stellt Patrick Heinemann die Frage, „ob nicht jeder Versuch einer Relativierung der Menschenwürde – sei es auch durch das Bundesverfassungsgericht selbst – besser zurückgewiesen gehört“.
Dann hebt er hervor:
„Das Bundesverfassungsgericht geht in seiner früheren Rechtsprechung zum Schwangerschaftsabbruch sogar soweit, dass der Lebensschutz der Leibesfrucht für die gesamte Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren genießt und daher insbesondere nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden darf“ (BVerfGE 39, 1).
Abschließend weist er auf die Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3 GG) hin, wonach der Schutz der Menschenwürde nicht einmal mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit aus dem Grundgesetz entfernt werden dürfe. Und er resümiert, dass es dem Kommissionsbericht offenbar nicht gelungen sei, gesellschaftliche Mehrheitserwartungen in Einklang mit dem Grundgesetz zu bringen.
Rechtmäßig, was zuvor rechtswidrig war
Worum geht es nun bei den geplanten Änderungen? Der Gesetzentwurf sieht vor, dass der Abbruch auch ohne Beratung für die Frau bis zum Ende der zwölften Schwangerschaftswoche ohne strafrechtliche Folgen bleibt. Nur ein Arzt kann sich strafbar machen, wenn keine Beratung der Schwangeren erfolgt ist. Viele Rechtsbrüche werden nur als Ordnungswidrigkeit mit einem Bußgeld belegt, das gering ausfallen kann. Die dreitägige Wartefrist zwischen Beratung und Abbruch soll gestrichen werden. Abbrüche, denen eine Beratung vorausgegangen ist, verlieren ihren Unrechtscharakter; demnächst würden sie sogar ausdrücklich als rechtmäßig gelten. Und die Krankenkassen sollen in diesen Fällen immer die Kosten übernehmen. Aber handelt es sich beim Schwangerschaftsabbruch denn um eine medizinische Heilbehandlung? Nein!
Bessere Versorgung mit Abtreibungsangeboten
In einem zweiten Gesetzentwurf mit der Überschrift „Versorgungslage von ungewollt Schwangeren verbessern“ fordert die fraktionsübergreifende Gruppe im Bundestag dazu auf, die Versorgungslage für abtreibungswillige Frauen zu verbessern und ihnen das Recht auf Methodenwahl bei einem Schwangerschaftsabbruch zu garantieren. Medikamentöse Abbrüche und eine telemedizinische Behandlung sollen rechtssicher durchgeführt werden können. Krankenhäuser mit Gynäkologie sollen gezwungen sein, entweder selbst Abbrüche durchzuführen oder an geeignete Stellen weiterleiten. Das Erlernen von Schwangerschaftsabbrüchen soll zudem in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung verbindlich verankert werden.
„Gehsteigbelästigungen“
Die Bundesregierung und die Länder sollen ferner „Sorge tragen, dass gegen rechtswidrige Gehsteigbelästigungen von Abtreibungsgegnerinnen und Abtreibungsgegnern vor Beratungseinrichtungen sowie Arztpraxen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten Maßnahmen ergriffen werden“. Unerwähnt bleibt dabei, ob es zu solchen Situationen in Deutschland bisher überhaupt kommt.
Die Deutsche Bischofskonferenz hat bislang noch keine Presseerklärung zu diesen beiden Gesetzentwürfen veröffentlicht.
Verhindert die „Brandmauer“ eine Mehrheit?
Die Erfolgsaussichten der Initiative sind schwer abzuschätzen. Die Fraktionen von SPD und Grünen, aus deren Reihen die Initiative stammt, verfügen über keine eigene Mehrheit im Bundestag. Aus Reihen der Linken, des Bündnisses Sahra Wagenknecht und aus Teilen der FDP sind weitere Stimmen zu erwarten. Wie verhält sich die AfD? Die viel beschworene „Brandmauer“ könnte noch vor der nächsten Bundestagswahl zur Makulatur werden, wenn die Stimmen dieser Partei den Ausschlag geben würden. Eine namentliche Abstimmung würde es zutage bringen.
Martin Grünewald
Der Journalist war 36 Jahre lang Chefredakteur des Kolpingblattes/Kolpingmagazins in Köln und schreibt heute für die internationale Nachrichtenagentur CNA. Weitere Infos unter: www.freundschaftmitgott.de
Dieser Beitrag erschien leicht verändert am 21.11.2024 bei CNA Deutsch.
Bild: Dr. Peter Szczekalla aus Pfarrbriefservice.de