Niederlande: Schlechte Erfahrungen mit Zweideutigkeit

In Deutschland wird gesagt, dass die Kirche die Menschen erst zurückgewinnen könne, wenn der „Reformstau“ überwunden sei. Die theologische Zeitschrift „Communio(Verlag Herder) fragte Kardinal Willem Eijk, Erzbischof von Utrecht, ob diese Annahme zutreffe. Seine Antwort: „Auf diese Weise werden Sie niemanden zurückholen. Machen Sie nicht unseren Fehler.“ Martin Grünewald hat das Interview zusammengefasst.

Kardinal Eijk antwortete wörtlich:

„Von der Kirche in den Niederlanden können Sie lernen, dass dies ein Irrtum ist. Wer Verwirrung stiftet, entfremdet die Menschen von der Kirche. Auf diese Weise werden Sie niemanden zurückholen. Ich möchte den Bischöfen anderer Länder sagen: Machen Sie nicht diesen Fehler, machen Sie nicht unseren Fehler. In Pfarreien, in denen der Glaube gut verkündet und die Liturgie mit Würde gefeiert wird, sind die Kirchen voll. Es geht darum, Christus in den Mittelpunkt zu stellen.“

Einst galt die Kirche in den Niederlanden als besonders progressiv. Von 1966 bis 1970 tagte das Pastoralkonzil der niederländischen Kirchenprovinz. Reformen wurden schneller und intensiver als im Nachbarland Deutschland eingeführt. Der holländische Katechismus (1966) galt als fortschrittlich und wurde anfangs gut verkauft. Zwischen 1965 und 1975 halbierte sich allerdings landesweit die Zahl der Kirchenbesucher. Heute sind es noch 2,5 Prozent, etwa halb so viele wie in Deutschland.

Grundsatzfragen regional entscheiden?

Was hält Kardinal Eijk von dem Reformvorschlag, Fragen, wie die Zulassung von Frauen zum Weihesakrament, auf regionaler Ebene zu regeln?

„Wenn die Einheit in der Verkündigung verloren geht, verliert die Kirche ihre Glaubwürdigkeit. In den Niederlanden haben wir in den letzten 50 Jahren sehr schlechte Erfahrungen mit dem Schaffen von Zweideutigkeit und Verwirrung gemacht.“

Lässt sich allein damit der rapide Rückgang des kirchlichen Lebens erklären? Die Hauptursache erblickt der niederländische Kardinal in der Säkularisierung.

„Sie begann mit dem wachsenden Wohlstand. Er ermöglichte es den Menschen, individuell zu leben, losgelöst von der Gemeinschaft. Individuen stellen sich selbst in den Mittelpunkt und werden sozusagen ihr eigener Papst: Sie wählen ihre eigene religiöse Auslegung und ihre eigenen ethischen Werte. Infolgedessen verlieren sie die Verbindung zur Kirche. Wohlstand führt zu Individualisierung und Individualisierung zu Säkularisierung.“

Staat tritt an die Stelle der Kirche

Für ihn bedeute Säkularisierung, „dass die menschliche Person nicht mehr im Mittelpunkt steht und der Staat zunehmend die Entscheidungen über Grundrechte trifft.“ Wo früher die Vorstellung vorherrschte, dass der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen sei und daher unveräußerliche Rechte besitze, übernehme jetzt der Staat diese Rolle einer letzten Instanz. Als Nachwirkung der Säkularisierung beschrieb der Erzbischof von Utrecht die Legalisierung der Abtreibung und den rapiden Anstieg der Euthanasiefälle „von 1.500 im Jahr 1991 auf möglicherweise 10.000 in diesem Jahr“. Fast 40 Prozent der Ehen würden mit einer Scheidung enden.

„Das gesellschaftliche Experiment, eine ethische Ordnung ohne Gott zu etablieren, wird auf lange Sicht im Bankrott enden.“

In seiner Jugend seien viele Menschen gedankenlos in die Kirche gegangen, aus soziologischen Gründen.

„Die Menschen hatten oft keine persönliche Beziehung zu Christus, wussten nichts vom persönlichen Gebet. Wenn die Menschen heute in die Kirche kommen, tun sie dies aus einer bewussten Entscheidung heraus.“

Trotz der Schrumpfung unter den Gläubigen sieht der Erzbischof von Utrecht positive Anzeichen: „In allen Pfarreien sehen wir immer mehr junge Menschen, die um die Taufe oder Firmung bitten, Menschen im Alter zwischen 20 und 50 Jahren, die sozusagen aus dem Nichts auftauchen. Das sind keine riesigen Zahlen, aber es ist ein positives Zeichen.“

Missionarische Projekte in Pfarreien

Mehrere Diözesen würden missionarische Projekte in den Pfarreien organisieren. An erster Stelle erwähnte er den Alpha-Kurs, aber auch Katechese nach der Firmung, die Bildung von Jugendgruppen, intensive Ehevorbereitung und Familiensonntage, zu denen Erstkommunikanten, Firmlinge und ihre Eltern eingeladen werden. Der Gottesdienst nehme dadurch erheblich zu. Für jede Altersgruppe gebe es eine eigene Katechese. „Und indem man die Eltern in die Katechese einbezieht, ermöglicht man es den Familien, auch zu Hause weiter über den Glauben zu sprechen.“

Kardinal Eijk setzt auch auf Glaubensgespräche.

„Wir reden immer über die Schließung einer Kirche oder die Fusion einer Pfarrei und eigentlich viel zu wenig über den Glauben.“

Dabei handle es sich um betende Gespräche, nicht um polemische Diskussionen. „Die Menschen, ob jung oder alt, betonten, dass wir gute liturgische Feiern und Katechese brauchen. Es wurde auch gesagt, dass wir mehr missionarisch aktiv sein müssen.“

Der Erzbischof von Utrecht hat kein Problem, sich vom gesellschaftlichen Zeitgeist abzusetzen:

„Wir glauben, dass es unsere Aufgabe ist, die Wahrheit auszusprechen, auch wenn es schwierig ist.“


Martin Grünewald
Der Journalist war 36 Jahre lang Chefredakteur des Kolpingblattes/Kolpingmagazins in Köln und schreibt heute für die internationale Nachrichtenagentur CNA. Weitere Infos unter: www.freundschaftmitgott.de


Quelle Beitragsbild: pfarrbriefservice.de Foto: Bernhard Riedl

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