Affektkontrolle ist ein Produkt der christlichen Erziehung. Man lernt sie in der Familie und nicht in der KiTA. In anderen Gegenden der Welt und in anderen Religionen fanden solche Zivilisationsprozesse hingegen nicht statt. Wie wichtig christliche Inkulturation im Zusammenprallen verschiedener Weltreligionen in unserem Land ist, skizziert Helmut Müller im Teil II seiner Überlegungen. Er ist der Auffassung, dass die Defamiliarisierung von Erziehung nicht folgenlos für Gesellschaft und Kirche ist.

Der Umsturz der Gesellschaft in eine Ansammlung von Zusammenwohnenden?

Erziehung im christlichen Abendland heißt eigentlich (und auch vice versa sonst wo), die ganze Zivilisationsgeschichte Europas in einem einzelnen Menschen nachzubilden. Der Soziologe Norbert Elias hat in seinem Lebenswerk „Über den Prozeß der Zivilisation“ akribisch beschrieben, wie langwierig und mühsam dieser Prozess verlaufen ist: Der Feuilletonredakteur der Welt Matthias Heine bringt es auf den Punkt:

„Nach und nach lernten Menschen, nicht nur bei Tisch nicht mehr zu schnäuzen, sondern auch, nicht mehr gleich den Dolch oder Säbel zu ziehen, wenn etwas sie aufregte. Jenseits der von Elias beschriebenen Prozesse dürfte auch die Privatisierung von Religion in der frühen Neuzeit zur Zunahme von Affektkontrolle beigetragen haben. Bei Geistlichen war Selbstbeherrschung immer schon eine Tugend. Als in der Reformation und durch katholische Reformbewegungen die persönliche Priesterschaft von Laien im Alltag verbreitet wurde, verbreitete sich mit ihr auch das Ideal der Affektkontrolle.“

Jeder, der kleine Kinder hat, weiß, welche Kärrnerarbeit es ist, Kindern den richtigen Gebrauch von Zivilisationstechniken beizubringen und im sozialen Miteinander – wenn es denn noch Erziehungsziel ist – eine Affektkontrolle durch einen Transzendenzbezug (sic Brüske!) herbei zu führen. In jedem Kind muss die ganze Zivilisationsgeschichte christlicher Inkulturation nachgebildet werden – das kann die Europas sein, und wenn man darin lebt, sollte sie es – wenigstens in Hinblick auf Affektkontrolle – auf jeden Fall sein.

Matthias Heine macht aber auch – beinahe unanständig, darauf hinzuweisen – auf etwas aufmerksam:

„Aber es gibt in der Welt auch Gegenden, in denen solche Zivilisationsprozesse nie stattfanden oder in denen sie durch den Verfall der den Prozess tragenden Gesellschaften längst wieder umgekehrt sind. Ein Teil der Probleme mit mangelnder Affektkontrolle im Deutschland des Jahres 2024 ist von dort importiert.“

Wobei noch hinzugefügt werden muss: Mangelnde Affektkontrolle betrifft in den gemeinten Staaten eigentlich nur den männlichen Teil der Gesellschaft. Wenn es ganz schlimm kommt, wie etwa in Afghanistan, sperrt man – man verzeihe mir den Ausdruck – den weiblichen Teil der Gesellschaft in Stoffgefängnisse, damit nur ja nicht ein männliches Wesen mit mangelnder Triebkontrolle in eines dieser Stoffgefängnisse einbricht. Die darin gefangene weibliche Person wird da allerdings nur mittelbar beschützt, weil sie nur als Eigentum eines Vaters, eines Bruders oder Ehemanns geschützt wird. Wie Gewitterleuchten hat das mittlerweile auch Auswirkungen etwa an Schulen in unserem Land.

Wie dem auch sei: Greifen wir uns an die eigene Nase: Wie wird unsere Gesellschaft der oben genannten Kulturleistung – ursprünglich für eine Affektkontrolle gesorgt zu haben – gerecht? Affektkontrolle war schon einmal leidlich der Fall gewesen. Faschistoide Gesellschaften haben das nie geleistet: In der braunen Version brauchte man das nicht gegenüber einer anderen Rasse, in roten Versionen gegenüber einer anderen Klasse und neuerdings in einer djihadistischen Version gegenüber Andersgläubigen. Die Opfer mangelnder Affektkontrolle wurden in den Straßenkämpfen der letzten Jahre der Weimarer Republik auf jeweils der anderen Seite zu Märtyrern des richtigen Bewusstseins stilisiert.

Für Robert Spaemann bestehen unsere Probleme nicht darin, dass wir noch nicht genügend richtig wissen, sondern darin, dass wir das, was wir – vor dem „richtigen Bewusstsein“ – schon einmal wussten, wieder vergessen haben. Denn der Prozess der Zivilisation findet durch die Erziehung des Zöglings vom Mutterschoß bis zum Abi – nicht in einem „luftleeren Raum“ (sic. Lufthoheit!) statt. Gesellschaftliche Systeme sollten nur begleitend und unterstützend sein. Zu frühe Eingriffe oder Übergriffigkeit staatlicher Systeme, keine Wertlegung auf Affektkontrolle, Unfähigkeit und ideologische Verblendung Gewaltpotentiale zu verstehen, führen dazu, dass wir Polizei auf Schulhöfen finden und Kinder in Heimen der Jugendhilfe. Das Böckenförde DiktumDer freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann – zeigt, was einmal die beiden Großkirchen, als sie noch die Lufthoheit über Kinderbetten und Schulhöfen innehatten, geleistet haben oder leisten sollten und diese Leistung jetzt immer weniger bringen.  An dessen Stelle drängt immer mehr ein linkes Narrativ das „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“, neuerdings System oder Struktur genannt. Es produziert angeblich Täter, so von Innenministerin Nancy Faeser auf den tragischen Fall von Bad Oeynhausen angewandt und andere Fälle. Es handele sich um „nicht gelungene Integration“ im Fall des Täters. Im Fall von Solingen sendet sie vor allem eine Botschaft nach rechts, dass Hass nicht die Gesellschaft spalten möge. Kaum Erwähnung findet, dass Täter überproportional aus einer Kultur mangelnder männlicher Affektkontrolle stammen. Wie soll man solchen jungen Menschen, die oft fanatisch religiös sind, beibringen sich zu integrieren, wenn sie die Kultur, in die sie sich integrieren sollen als areligiös, schwächlich und dekadent erleben und verachten und sie sogar deshalb aktiv angreifen?

Der Umsturz in der Kirche in eine Räterepublik ihrer Glieder

Das Narrativ „System“ wird mittlerweile auch gerne in Kirchenkreisen benutzt: Das klerikale System sei schuld daran, dass Missbrauch in der Kirche vorkäme. Kein Wort dazu, dass mangelnde Affekt- und Triebkontrolle des Täters ursächlich für seine Taten sind. Das klerikale System soll deshalb durch eine Räterepublik ihrer Glieder ersetzt werden: Wenn die Falschen die Lufthoheit über Kinderbetten gewonnen haben, wird es nicht dadurch besser, dass Gremien sie über einer Räterepublik von Gliedern zu gewinnen suchen. Die Missbrauchsstudie der evangelischen Kirche hat bestätigt, dass die mangelnde Affekt- und Triebkontrolle des Täters Ursprung der Taten ist.

Neuestes Produkt der Umkehr des Zivilisationsprozesses, die immer mehr auch in Kirchenkreise vordringt, ist Daniel Bogners Sexualmoral, die er und andere im Anschluss an Lingen formuliert haben. Hatte Jesus noch Affektkontrolle auch für Männer (Mk 10, 11) verlangt, glaubt Bogner nun offenbar umgekehrt, was vor Jesus nur für Männer galt, jetzt auch für Frauen legitimieren zu können: Er will Begehren, aus der engen Affektkontrolle der katholischen Kirche für beide Geschlechter befreien und damit die gesamte Sexualmoral von ihrer Säule der Tugend losbinden. Anstatt Triebkontrolle bei Männern einzufordern, will man nun unkontrolliertes Begehren auch bei Frauen fördern. Das wäre völlig falsch verstandene, sowohl frauen- als auch männerfeindliche und letztlich auch kinderfeindliche Emanzipation. Lange Zeit gab es in unseren Zivilisationssteppen und Erziehungswüsten noch kirchliche Oasen. Selbst die versteppen zunehmend, wenn zu Bogners Minderung der Affektkontrolle bei Erwachsenen in der Sexualpädagogik der Vielfalt im Kindergarten, eine solche gar nicht aufgebaut wird und zu allem Überfluss sogar Triebe, die nicht altersgemäß sind, stimuliert werden.

Der evangelische Theologe und Psychoanalytiker Rudolf Affemann (1928 – 2018) wusste noch, dass zur Sexualerziehung auch die Beherrschung von Triebimpulsen gehört. Darauf macht neuerdings auch der kanadische Psychologe Jordan Peterson in einem Interview der NZZ aufmerksam und bringt es auf den Punkt:

Wer zügellos lebt, opfert seine Zukunft.

 Weiter schreibt er:

„Man muss sich regulieren. Durch diese Erfahrung der Selbstregulierung muss jeder Zweijährige. Der Kortex seines Gehirns signalisiert ihm, dass seine vitalen Bedürfnisse die wichtigsten sind. Aber er muss das durchbrechen, will er eine reife Persönlichkeit werden. Sonst lebt man nur für das kurzfristige Vergnügen. Langfristige Planung und Bindung ist damit zum Schaden der Betroffenen unvereinbar. Denn wer zügellos lebt, opfert seine Zukunft für die Gegenwart. Mit 20 mag eine solche Lebensweise befriedigen. Mit 50 sicher nicht mehr.[…] Auf hedonistische Zügellosigkeit kann man keine Zivilisation bauen.“

Diese Erkenntnisse sollte man auch in Kirchenkreisen wiedergewinnen und damit Aufhören um das goldene Kalb des Begehrens á la Foucault und jetzt auch Bogner zu tanzen.


Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag


Beitragsfoto: pixabay

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