Zum 750. Todestag des hl. Thomas von Aquin
Am 7. März 1274, vor 750 Jahren, ist Thomas von Aquin bei den Zisterziensern in Fossanova gestorben. Schon Monate vorher bricht er die Arbeit am vielleicht größten Werk der abendländischen Theologie, der Summa theologiae, ab: Thomas verstummt. Alles erscheine ihm wie Spreu. Was hat es mit diesem Verstummen auf sich? Martin Brüske geht der Frage nach.
Nikolaus 1273: Thomas verstummt
Am Nikolaustag des Jahres 1273, nach der Messe, legt der größte Lehrer der Kirche, der hl. Thomas von Aquin, die Feder nieder. Oft ist die Geschichte erzählt worden: Thomas wird nicht mehr weiterschreiben. Er weigert sich zu diktieren. Sein größtes Werk, die Summe der Theologie, wird unvollendet bleiben. Mitten im Abschnitt über die Sakramente bricht sie ab. Thomas schweigt. Reginald von Piperno, der enge Freund, Mitbruder und Sekretär, ist bestürzt. Er sucht in den Meister zu dringen. Erst nach einigem Zögern erhält er eine Antwort:
„Ich kann nicht mehr. Alles was ich geschrieben habe, erscheint mir wie Spreu“. Und etwas später ergänzt Thomas: „Gegenüber dem, was ich geschaut habe.“
Heißt das: Alles war sinnlos, was ich geschrieben und getan habe? Leer und bedeutungslos?
Monate später macht sich Thomas, vom Papst gerufen, von Süditalien aus auf den Weg zum Konzil von Lyon. Während der Reise erkrankt er schwer. Bei den Zisterziensern von Fossanova, südlich von Rom, stirbt er am 7. März 1274, keine fünfzig Jahre alt.
Das Hohelied auf dem Totenbett
Eine alte Biographie macht eine geheimnisvolle Andeutung: Auf dem Sterbebett habe Thomas den Zisterziensermönchen das Hohelied – jene alttestamentliche Sammlung von Liebesgedichten über das Suchen und Finden der Liebenden – ausgelegt.
Das Hohelied – wie gesagt: eigentlich Poesie, die die Liebe zwischen Frau und Mann in allen ihren Dimensionen feiert – wird seit sehr früher Zeit, möglicherweise schon seit seiner Aufnahme in die Sammlung der Heiligen Schrift, als Text über die bräutliche Begegnung von Gott und Mensch (Gott und Volk Israel, Christus und Kirche, Christus und Seele) verstanden. Im Drama der Liebe mit allen seinen Dimensionen sehen jüdische und christliche Interpreten also das Drama der Gottesbegegnung in Suche, Vereinigung und Verlust, in Nähe und Entzug, in Seligkeit und Not ausgesprochen. So wird das Hohelied zu einem der Grundtexte der Mystik und seine Auslegung zu einem der Orte, in der mystische Erfahrung ausgesprochen, entfaltet und gedeutet wird.
Der Predigerbruder als Lehrer der Mystik
Wenn der alte Biograph des hl. Thomas also erzählt, dass Thomas den Mönchen auf dem Sterbebett das Hohelied ausgelegt habe, dann deutet er damit an: Thomas ist in den letzten Monaten seines Lebens die Gnade mystischer Gottesbegegnung zuteil geworden. Bis zuletzt aber ist Thomas ganz und gar seiner Berufung als Dominikaner, als Predigerbruder, treu geblieben: Bis auf das Sterbebett gibt er lehrend weiter, was er in der Kontemplation geschaut hat. „Contemplari et contemplata aliis tradere“ lautet ein, übrigens von Thomas selbst formuliertes, Motto des Dominikanerordens: „In der Betrachtung leben und anderen die Früchte der Betrachtung weitergeben“. Aus dem Lehrer der Theologie ist der Lehrer der Mystik geworden, der Lehrer der unmittelbaren Begegnung mit dem Geheimnis Gottes.
Schenken wir den alten Texten – dem Zeugnis des Reginald und dem Bericht über das Sterben des Thomas – Vertrauen, dann wird vom Ende aus auch ein deutliches Licht auf das Ereignis des Nikolaustages 1273 geworfen:
„Alles was ich geschrieben habe erscheint mir wie Spreu – gegenüber dem, was ich geschaut habe“.
Thomas ist an diesem Morgen, in der Unmittelbarkeit mystischer Gottesbegegnung, das Geheimnis Gottes so intensiv und überwältigend aufgegangen, dass alles in der Sprache der Theologie Sagbare dahinter radikal zurückbleibt. So radikal, dass ihm in der Überwältigung das Schreiben und Diktieren unmöglich wird, dass ihm nur noch das Schweigen oder ihm, dem Predigerbruder, die Bildsprache der mystischen Kontemplation im Hohenlied bleibt.
Thomas und das Geheimnis Gottes
Was aber nach außen die Gestalt eines dramatischen Abbruchs hat, dass ist nach innen weniger Bruch, als Übergang und Vollendung. Dieser Übergang widerruft das theologische Denken des hl. Thomas, anders als es im ersten Augenblick den Anschein („Spreu“) haben könnte, nicht. Vielmehr ist er in ihm zutiefst angelegt. In der durchsichtigen Rationalität, der intellektuellen Redlichkeit und Klarheit, der Nüchternheit, Sachlichkeit und Zurückhaltung des Denkens des hl. Thomas findet sich zugleich ein tiefes Wissen und eine deutliche Betonung der Geheimnishaftigkeit Gottes. Auf dieses Geheimnis muss alle theologische Rede verweisen. Tut sie es nicht, wird sie falsch, ja, gefährlich und neigt zur Pervertierung. So gehört zur Wahrheit der Theologie ihre bewusst vollzogene und immer wieder neu vollzogene Relativierung hin auf das größere Geheimnis Gottes. Ohne theologisches Sprechen bleibt umgekehrt alle Rede vom Geheimnis vage und unverbindlich. Theologie hat die Aufgabe, präzise auf das Unsagbare hinzuweisen. Genau das wird für Thomas in der letzten Phase seines Lebens zur existentiellen Wirklichkeit: Die notwendige Selbstrelativierung allen Sprechens von Gott wird in ihm biographische Gestalt.
„Was aber Gott ist, wissen wir nicht“
Schauen wir also auch ein wenig in das Werk des Thomas! Ungefähr dreißig Mal findet sich darin in vielen Variationen die Aussage:
„Was aber Gott ist, wissen wir nicht“.
Ist das nicht die Bankrotterklärung des theologischen Projekts, das Eingeständnis des Scheiterns – genau wie das Wort vom „Stroh“? So paradox es klingt: Gerade das Gegenteil ist der Fall, denn gerade darin drückt sich die Sachlichkeit und Angemessenheit der theologischen Rede aus. Solche Aussagen müssen sich aus der Mitte der theologischen Denkbewegung heraus ergeben. Wenn sie nicht nur Ornament sind, sondern wirklich aus dem Zentrum kommen, dem existentiellen wie dem intellektuellen, dann genügen sie einem zentralen Kriterium einer angemessenen Rede von Gott. Dieses Kriterium drückt ein anderer großer Gotteslehrer, der hl. Aurelius Augustinus, so aus:
„Wenn Du es begreifst, dann ist es nicht Gott.“
Und noch ein anderer der großen christlichen Denker, der hl. Anselm von Canterbury, formuliert es so, dass er zunächst davon ausgeht, dass Gott der ist, über den hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, um dann festzustellen, dass im Entwerfen dieses Größten das Denken in Wirklichkeit nicht bei sich bleiben kann, sondern über sich selbst hinaus muss, dass das Größte des Denkens gerade darin besteht, auf den zu verweisen, der größer ist als alles Denken.
Verbindliches Geheimnis
Ja, Gott ist immer größer. Ohne die Mühe jedoch das Geheimnis Gottes denkend zu umkreisen, alle Anstrengung zu wagen, um es immer genauer zu benennen, ist die Rede vom Geheimnis Gottes selber gefährdet – wie schon angedeutet – vage, undeutlich und vor allem unverbindlich zu werden. Ja, sie wird dann billig, weil sie einen in der Tat nichts mehr kostet, weil sie zur Maskierung von Unernst, religiöser Trägheit und der Scheu vor dem Wagnis wird, ein Leben aus dem Glauben wirklich ernst und konsequent zu ergreifen.
Denn Gott selbst ist in seiner bleibenden Geheimnishaftigkeit alles andere als unverbindlich. Denn er hat sich als Geheimnis offenbart und mitgeteilt. Offenbarung bedeutet keine Aufhebung des Geheimnisses, sondern seine Mitteilung. Wir bekommen keine Informationen, wie es sich nun mit dem bisher Rätselhaften eigentlich verhält, sondern das Geheimnis kommt uns nahe. Ja, die Dimensionen des Geheimnisses vertiefen sich noch einmal. Dass durch die Menschwerdung Gottes das Geheimnis des Menschen in das Geheimnis Gottes aufgenommen ist, das zum Geheimnis Gottes auch das Geheimnis des Kreuzes gehört – das sind weitere Dimensionen des Geheimnisses, die es noch tiefer und noch überwältigender machen. In der Menschwerdung geschieht die absolute Nähe des absoluten Geheimnisses – so drückt es Karl Rahner aus. Was es in Gottes Offenbarung an verbindlicher und aussagbarer Lehre gibt, die der Kirche anvertraut ist, dient der Aussage und der Einweisung in dieses Geheimnis.
Und: In diesem Geheimnis liegt unser Heil. Nichts ist furchtbarer als die Vorstellung eines von Ewigkeit zu Ewigkeit begriffenen Gottes. Die Langeweile, die das Resultat dieses Begreifens wäre, ist identisch mit der Hölle. Der Gott jedoch, der auf ewig das Geheimnis der Liebe bleibt, das immer wieder neu ist, wird auch auf ewig der Grund unseres Entzückens und unseres Lobpreises, unserer Wonne und unserer Freude sein. Ja, mehr noch: Der hl. Gregor von Nyssa sagt, wir werden auf ewig immer tiefer in das Geheimnis Gottes hineingehen, in immer größerer Lebendigkeit und von Seligkeit zu Seligkeit.
Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau.
Quelle Beitragsfoto: Adobe Stock, Santa Maria Novella, Florenz