Humanae vitae ist nach Kardinal Ladaria eine prophetische Enzyklika. Helmut Müller geht in seinem Beitrag ihrem prophetischen Gehalt nach und kommt zu dem Schluss, dass die Sichtweise auf die menschliche Sexualität ein Tandem von personaler Liebe und Fruchtbarkeit sein muss.

Kardinal Luis Ladaria Ferrer SJ, Präfekt des vatikanischen Dikasteriums für die Glaubenslehre, hielt die Eröffnungsrede auf einem Kongress über die Enzyklika Humanae Vitae Pauls VI. aus dem Jahr 1968, die er eine prophetische nannte. Bemerkenswert erscheinen mir seine Ausführungen über das Verhältnis von Natur und Freiheit. Sie sind geeignet neuere Auffassungen zur Anthropologie und einer sogenannten neuen Sexualmoral in ihren problematischen Auswirkungen für die Lehre der Kirche aufzuzeigen. Ladaria betont, dass

„die Enzyklika […] die Natur nicht in Spannung zur Freiheit [sieht], sondern […] der Freiheit die Bedeutung [gibt], die die Wahrheit des ehelichen Liebesaktes ermöglicht und seine volle Verwirklichung erlaubt“.

Natur als Störfaktor menschlicher Freiheit

Die natürliche Zusammengehörigkeit von Geschlechtsakt und Fortpflanzung wird gegenwärtig bedenkenlos getrennt. Die sich in den letzten 50 Jahren als prophetisch erwiesene Anthropologie der Enzyklika schnurrte in ihrer öffentlichen Rezeption auf ein Verbot zusammen, das Zusammengehörige künstlich zu trennen. Das Wegweisende der Enzyklika, dass menschliche Sexualität einer periodischen Gestaltung bedarf, die sich nicht allein an subjektiven Vernunftgründen, sondern auch an einer objektiven natürlichen Periodik ausrichten sollte, wurde zwar wahrgenommen, aber als eine die autonom begriffene Freiheit des Menschen störende Heteronomie gebrandmarkt.

Natur als etwas dem Menschen Äußeres, ihn Umgebendes

In der gegenwärtigen Diskussion wird Natur offensichtlich als etwas dem Menschen Äußeres, ihn Umgebendes verstanden, das Norm seines individuellen und öffentlichen Handelns sein soll. Über eine allgemeine Verantwortung für Natur und Umwelt führt dies geradezu zu Verbotsexzessen, nicht nur in der Politik, sondern bis hinein in die Kirchen. Bei dem gerade zu Ende gegangenen evangelischen Kirchentag hat sich die Berufsgruppe der Metzger und Bauern empört gegen die Entscheidung der Kirchentagsleitung gewandt, nur veganes Essen anzubieten. Hier wurde ganz offensichtlich versucht eine Orientierung an vermeintlich naturgerechtem Verhalten (Tier- und Umweltethik) als Verbotsregel für die Berufsstände der Bauern und Metzger durchzusetzen. Jedenfalls wurde das so von den entsprechenden Verbänden empfunden. Gar nicht davon zu reden, dass mit dieser Verordnung auch eine Bevormundung der Teilnehmer verbunden ist, sich auf dem Kirchentag nur vegan ernähren zu können. Fazit: Das Naturverständnis der Kirchentagsorganisation beeinträchtigt in diesem Fall ganz erheblich die Autonomie des Menschen.

Natur als etwas dem Menschen Innewohnendes

Natur ist aber ganz offensichtlich auch etwas dem Menschen Innewohnendes, denn wie anders ist es zu verstehen, dass wir mit dem uns nächsten Naturwesen, dem Schimpansen 98, 7 % unseres genetischen Erbes teilen. Sogar mit der Bäckerhefe teilen wir noch einen zweistelligen Prozentsatz unseres genetischen Codes. Nun könnte man sagen auf diesen 1,3 % gründet der Unterschied zum Schimpansen und fußt unsere typisch menschliche Freiheit. Und selbst da muss noch auf eine weitere Schranke aufmerksam gemacht werden: 95 % unserer Hirnleistung laufen unbewusst ab, also jenseits dessen, was wir frei bestimmen können. Das soll keine naturalistisch dominierte Rede dagegen sein, dass wir nicht frei wären. Im Gegenteil: Diese empirischen Fakten bestätigen, was Ladaria herausgehoben hat:

Natur als orientierender Faktor menschlicher Freiheit

„Die Enzyklika sieht die Natur nicht in Spannung zur Freiheit, sondern [sie] gibt der Freiheit die Bedeutung, die die Wahrheit des ehelichen Liebesaktes ermöglicht und seine volle Verwirklichung erlaubt.“

Wenn also so viel Natur in uns ist, wie die viel zitierten Human- und Naturwissenschaften feststellen, wie dürfen wir dann einfach zur Tagesordnung übergehen und sagen, Natur begrenze unsere Autonomie, wie so gut wie alle heute lehrenden Moraltheologen an deutschen Universitäten? Und vor allem: Sind wir gut beraten, wenn wir unsere binär angelegten Körper missachten und sogar nach einem Gesetzesplan der Ampelregierung – der zumindest vom BDKJ begrüßt wird – einmal im Jahr bestimmen können, ob wir jetzt Mann oder Frau sind? Fahren wir eigentlich gut damit auch die Naturperiodik aus unserem Liebesleben zu verbannen wo doch sonst alles „Bio“ sein muss? Fazit: Wir stehen vor der Wahl: Sollen wir den eigenen Leib wie den uns nächsten Fremdkörper behandeln? Oder ist es nicht so: Natur beeinträchtigt nicht unsere Freiheit, sondern schenkt uns unaufdringlich ein Maß unsere Freiheit zu orientieren, dass unser Leben letztendlich gelingt und nicht scheitert? Wir haben wirklich die Wahl. Der Text von Humanae vitae ist keine Ansammlung von Verbotsexzessen, wie sie uns Ökodiktatoren in Politik und Kirche verordnen wollen, sondern enthält Wegweisungen zu gelingendem Leben.

Das Tandem von personaler Liebe und Fruchtbarkeit

Humanae vitae hat nämlich den Sinn der Periodik von sexuellem Akt und Fruchtbarkeit für den Menschen erkannt. Das subjektive Lustempfinden beim Liebesakt und die damit objektiv verbundene periodische Fruchtbarkeit bedarf einer vernünftigen und verantwortlichen Gestaltung von Liebe, Zuneigung, körperlichem Ausdruck und dessen Folgen. Im Bereich des Lebendigen wird Fruchtbarkeit durch Befristung auf das Frühjahr oder den Herbst, etwa durch Rauschzeiten beim Schwarzwild oder Brunftzeiten beim Rotwild geregelt. Beim Menschen gibt es keine jahreszeitliche Befristung sondern dafür eine monatliche Periodik. Für den Menschen ist dabei nicht die Befristung das Natürliche, sondern natürlich ist die vernünftige Regelung des Tandems von personaler Liebe und Fruchtbarkeit.

Begehren als Maskerade des Vernünftigen

Die sogenannte neue Moral missachtet nicht nur dieses Tandem von Liebe und Fruchtbarkeit, sondern korrumpiert auch das Natürliche, das ist für den Menschen das Vernünftige. Das bedeutet, die subjektive Lust aus dem Tandem begegnet in der Maskierung des Begehrens (Foucault) und wird mit Nietzsche als die „große Vernunft des Leibes“ als das natürlich Vernünftige der Enzyklika verkauft. Das hat in Windeseile nach dem Lingener Vortrag von Eberhard Schockenhoff von 2019 mit Bezug auf Foucault zu einer Trivialisierung und Fragmentierung der Sexualmoral geführt. Schon drei Jahre später wird diese ganz vom Begehren her konstruierte Moral dem neuen kirchlichen Arbeitsrecht 2022 zugrunde gelegt. Das hat praktisch zu einer Abschaffung des 6. Gebotes geführt wie es der in der Schweiz lehrende Theologe und Philosoph Martin Brüske bezeichnet hat.

Das Prophetische der Enzyklika

Kardinal Ladaria hob in seinem Vortrag das Prophetische der Enzyklika humanae vitae hervor, hier nur knapp auf die Thematik Freiheit und Natur konzentriert. Könnte das nicht eines der Zeichen der Zeit sein – auf die in der Kirche in Deutschland in letzter Zeit unentwegt hingewiesen wird, allerdings nicht auf humanae vitae? Wir sollten den eigenen Leib nicht wie den uns nächsten Fremdkörper behandeln, sondern wie es der Schöpfergott eingerichtet hat und auch wahre Menschennaturfreunde verstehen könnten: Unser Leib ist ein Tandem von personaler Liebe und Fruchtbarkeit.


Dr. phil. Helmut Müller

Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag, Link: https://www.fe-medien.de/hineingenommen-in-die-liebe

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