Dass ein deutsch-katholisches Sonderlehramt kein gangbarer Weg ist, muss jedem klar werden, der die Ausführungen des folgenden Vortrages von Prof. Dr. Dr. Stefan Mückl aus Rom nachvollzieht. Der Autor nimmt eine Einordnung des Begriffs „Gehorsam“ im kirchlichen Kontext vor, zeigt Grenzen und Gefahren des Gehorsamsanspruches auf und skizziert Handlungsmöglichkeiten für Gläubige bei „Amtsmissbrauch“. Der Beitrag wurde als Vortrag im Rahmen des 6. Online-Studientags des Neuen Anfang zum Thema „Gehorsam“ gehalten und ist in Kürze auch auf dem Youtube-Kanal des Neuen Anfangs nachzuschauen.

In seiner Summa theologiae widmet sich der hl. Thomas von Aquin auch der Frage:

„Müssen Untergebene ihren Vorgesetzten (suis praelatis) in allem gehorchen?“[1]

Der systematische Kontext ist die Tugendlehre des Heiligen, die Behandlung des Gehorsams ist eingebettet in die Darlegung der Tugenden des Gemeinschaftslebens. Der Ausgangspunkt ist also die Erkenntnis, dass das menschliche Zusammenleben auf das Bestehen und Beachten von Ordnungsprinzipien angewiesen ist, soll sich nicht schlicht der Stärkere durchsetzen, oder aber die Gemeinschaft in Chaos und Anarchie versinken und somit letztlich untergehen.

Da eine Gemeinschaft nicht nur eine rein faktische Größe darstellt, sondern auch nach Strukturen des Rechts verfasst ist, erlangt der Gehorsam über seine moralische Dimension hinaus rechtliche Bedeutung. Gehorsam ist nicht allein Tugend, sondern auch Rechtspflicht. Allein auf Einsicht und Freiwilligkeit, so erstrebenswert sie auch sind, lässt sich unter den Bedingungen der gefallenen Natur des Menschen keine Gemeinschafts-, Sozial- und Rechtsordnung aufbauen. Die für das Gemeinschaftsleben bedeutenden und geltenden Regeln müssen auch durchgesetzt werden (können). Was für den staatlichen Bereich gemeinhin einleuchtet, gilt auch für die Kirche, zumal dann, wenn sie nach ihrem Selbstverständnis hierarchisch verfasst ist[2].

Am Anfang unserer Überlegungen werfen wir einen kurzen Blick auf das, was Gehorsam sprachlich und inhaltlich meint (I.). Sodann wenden wir uns den Regelungen der kirchlichen Rechtsordnung zu, fragen also danach, inwieweit diese von den Gläubigen rechtlich Gehorsam einfordert (II.). Das führt uns zum entscheidenden Problem, was ein Gläubiger tun kann (oder muss), wenn er sich mit einem Gehorsamsanspruch konfrontiert sieht, der von der kirchlichen Rechtsordnung nicht gedeckt ist (III.). Am Ende steht ein kurzer Ausblick (IV.).

I. Begriff und Bedeutung des Gehorsams

„Gehorsam“ ist, wie ihn der allgemeine Sprachgebrauch versteht, kein gänzlich positiv besetzter Begriff. Das Lehramt der deutschen Sprache, der Duden, definiert ihn als die „Unterordnung unter den Willen einer Autorität“. In dieser Umschreibung wecken gleich zwei Begriffe bei vielen instinktive Abneigung, die Zumutung einer „Unterordnung“ und die bloße Existenz einer „Autorität“, zumal in Zeiten, in denen nicht wenige eifrig damit beschäftigt sind, die von ihnen ausgemachten Bastionen kirchlicher Autorität zu schleifen. Speziell in Deutschland dürfte jene instinktive Abneigung gegen Gehorsam auch mit dem Erbe von Immanuel Kant zusammenhängen, der darunter versteht, dass „auch wider Neigung Folge geleistet werden muss“[3].

Rein etymologisch meint Gehorsam schlicht „hören“, genauer, auf einen anderen, ein Gegenüber, hören. Das Gleiche gilt für den lateinischen Begriff der oboedientia, abgeleitet vom Verb ob-audire, auf einen anderen hören. Die Rechtsprache der Kirche verwendet folglich im Codex Iuris Canonici diesen Terminus der oboedientia, freilich nicht nur diesen. Hinzu tritt ein anderer Begriff, der des obsequium, auch er abgeleitet aus einem lateinischen Verb, ob-sequi, einem anderen folgen. Im Deutschen sagt man dazu auch „Folgsamkeit“, was das Lehramt des Duden denn auch als Synonym für Gehorsam ausweist.

II. Gehorsam in der kirchlichen Rechtsordnung

Das grundlegende Rechtsbuch für die universale Kirche, der Codex Iuris Canonici[4], normiert als eine für sämtliche Gläubigen gültige Pflicht in c. 212 § 1 auch die Pflicht des Gehorsams:

„Was die geistlichen Hirten in Stellvertretung Christi als Lehrer des Glaubens erklären oder als Leiter der Kirche bestimmen, haben die Gläubigen im Bewusstsein ihrer eigenen Verantwortung in christlichem Gehorsam zu befolgen.“

Wie so oft, folgt der Codex auch an dieser Stelle fast wörtlich einem Dokument des II. Vatikanischen Konzils, nämlich einem zentralen Gedanken der Kirchenkonstitution Lumen gentium[5]. Mag es bei einer flüchtigen Lektüre der Norm scheinen, dass sie die Hirten als Befehlende und die Gläubigen als Gehorchende sieht, liegen die Dinge doch komplexer. Da sich die Vorschrift im Titel über die „Pflichten und Rechte aller Gläubigen“ findet, sind auch die Hirten selbst angesprochen: Auch sie sind ihrerseits sowohl zum Glaubensgehorsam als auch zur Befolgung der (von ihnen erlassenen) Gesetze verpflichtet[6].

Inhaltlich ist die Stoßrichtung des den Gläubigen abverlangten Gehorsams eine doppelte: Der erste Bezugspunkt ist die Glaubenslehre (das, was die „geistlichen Hirten in Stellvertretung Christi als Lehrer des Glaubens erklären“), der zweite die Anordnungen der Hirten „als Leiter der Kirche“. Mitunter finden sich dafür im Schrifttum die verknappenden Schlagworte des „Glaubensgehorsams“ und des „kanonischen Gehorsams“[7]. Während der erstgenannte alle Gläubigen trifft, verpflichtet der zweite nur diejenigen, die spezifische kirchliche Bindungen übernommen haben, insbesondere die Inhaber eines kirchlichen Amtes.

Geschuldet ist der Gehorsam den „geistlichen Hirten“, also dem Papst und den Bischöfen – nur sie sind nach der Verfasstheit der Kirche „Stellvertreter Christi“ in der Lehre bzw. „Leiter der Kirche“ in der Regierung. Sie haben damit teil am dreifachen Amt Christi, des Lehrens, des Leitens und des Heiligens, allerdings nicht im Sinne eines absoluten personenbezogenen Rechts, sondern als integrales Element der kirchlichen communio. Deutlich wird dies wiederum in Lumen gentium:

„Die Bischofsweihe überträgt mit dem Amt der Heiligung auch die Ämter der Lehre und der Leitung, die jedoch ihrer Natur nach nur in der hierarchischen Gemeinschaft mit Haupt und Gliedern des Kollegiums ausgeübt werden können.“[8]

Daraus ergibt sich bereits eine fundamentale inhärente Grenze des von den Gläubigen geschuldeten Gehorsams: Ausschließlich das, was sich im Rahmen der (universal)kirchlichen communio bewegt, bindet und verpflichtet. Diese ekklesiologische Grundaussage findet im Kirchenrecht ihre nähere Ausgestaltung:

Glaubensgehorsam

Was Papst und Bischöfe als Lehrer des Glaubens erklären, betrifft den Komplex des kirchlichen Lehramtes. Der Codex systematisiert, entsprechend den dogmatischen Vorgaben, das Lehramt in ein universales und ein partikulares. Das erste übt der Papst, entweder alleine oder gemeinsam mit dem Bischofskollegium, aus (c. 749), das zweite die Bischöfe, seien es die Diözesanbischöfe als einzelne oder in kollegialer Form in Bischofskonferenzen und Partikularkonzilien (c. 753). Allein das universale Lehramt kann unfehlbar sein (c. 749, 750 § 1), ihm schuldet der Gläubige im strengen Sinne Zustimmung und Gehorsam im Glauben. Von hoher, wenngleich nicht höchster, Verbindlichkeit ist ferner das zwar nicht unfehlbare, aber authentische Lehramt auf universaler Ebene, ihm gegenüber haben die Gläubigen (und zwar alle Gläubigen, auch die geistlichen Hirten) „religiösen Verstandes- und Willensgehorsam“ zu erweisen (intellectus et voluntatis obsequium, c. 752)[9].

Auf einer dritten Ebene findet sich schließlich das sogenannte partikulare Lehramt. Kraft Natur der Sache kann es nicht unfehlbar und allgemein verbindlich sein – denn die Offenbarung Gottes ist stets universal, und deren Inhalt der Kirche als solcher (und Ganzer) anvertraut[10]. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass die Verbindlichkeit von Aussagen des partikularen Lehramtes zum einen auf die betroffenen Partikularkirchen begrenzt ist, und dies zum anderen nur dann, wenn sie mit verbindlichen Aussagen des universalen Lehramtes in Übereinstimmung stehen. Die entsprechende Norm des Codex, auch sie einer Formulierung von LG entnommen, lautet:

„Die Bischöfe, die in Gemeinschaft mit Haupt und Gliedern des Kollegiums stehen, sind, sei es als einzelne, sei es auf Bischofskonferenzen oder auf Partikularkonzilien versammelt, wenn sie auch Unfehlbarkeit in der Lehre nicht besitzen, die authentischen Künder und Lehrer des Glaubens für die ihrer Sorge anvertrauten Gläubigen; die Gläubigen sind gehalten, diesem authentischen Lehramt ihrer Bischöfe mit religiösem Gehorsam zu folgen“[11].

Dem Lehramt der Bischöfe schuldet der Gläubige – in der betreffenden Diözese oder auf dem Gebiet der betreffenden Bischofskonferenz – also keinen Glaubensgehorsam, sondern „religiösen Gehorsam“ (obsequium religiosum). Dieser kann legitimerweise aber nur von den Bischöfen eingefordert werden, die selbst dem universalen kirchlichen Lehramt gehorchen. Jedes Lehramt muss ausgerichtet sein am Wort Gottes, wie es in der Offenbarung aufscheint:

„Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt …“[12]

Die auctoritas des Lehrens ist weder „Autorität über die Kirche“ noch „Autorität der Kirche“, sondern vielmehr „Autorität in der Kirche“: Dem Glaubensurteil, ob definitiv oder nicht, unterliegen sämtliche Träger des kirchlichen Lehramtes als „erste Gläubige der Kirche“[13]

„Kanonischer Gehorsam“

Eine spezifische Gehorsamspflicht trifft aufgrund des Weihesakraments die Kleriker, bei dessen Empfang sie ihrem Bischof und seinen Nachfolgern „Ehrfurcht und Gehorsam“ versprochen haben. Das Kirchenrecht fasst dieses Versprechen in die knappe juridische Form

„Die Kleriker sind in besonderer Weise verpflichtet, dem Papst und ihrem Ordinarius Ehrfurcht und Gehorsam zu erweisen.“ (c. 273).

Das bedeutet freilich kein einseitiges Über- und Unterordnungsverhältnis, vielmehr verbindet Bischof und Priester ein wechselseitiges Treueverhältnis. Nach Lumen gentium

„sollen die Priester den Bischof wahrhaft als ihren Vater anerkennen und ihm ehrfürchtig gehorchen. Der Bischof hinwiederum soll seine priesterlichen Mitarbeiter als Söhne und Freunde ansehen“[14].

Inhaltlich erstreckt sich die Gehorsamspflicht sowohl auf die bereits von Rechts wegen statuierten Handlungsnormen wie auf die vom Bischof allgemein oder im Einzelfall getroffenen Anordnungen. Im letzten Punkt ergeben sich keine grundlegenden Unterschiede zu den auch an andere Gläubige gerichteten Gehorsamspflichten: Gesetze verpflichten „alle, für die sie erlassen worden sind“ (c. 12 § 1), ein Verwaltungsbefehl erlegt einer Person oder mehreren Personen unmittelbar ein Tun oder Unterlassen auf (c. 48).

Eine wesentliche Grenze der (kanonischen) Gehorsamspflicht ergibt sich aus der sie absichernden strafrechtlichen Norm des c. 1371 § 1[15]:

„Wer dem Apostolischen Stuhl, dem Ordinarius oder dem Oberen, der rechtmäßig gebietet oder verbietet, nicht gehorcht und nach Verwarnung im Ungehorsam verharrt, wird . . . bestraft.“

Anders gewendet: Die Gehorsamspflicht besteht nur im Hinblick auf rechtmäßige Befehle[16], es darf also weder etwas Rechtswidriges geboten noch etwas Rechtmäßiges verboten werden[17]. Gleichermaßen ist der kirchliche Gesetzgeber

„nicht der absolute Herr, der nach Gutdünken als Recht erlassen kann, was er will. Er muss sich vielmehr an innere Grenzen halten, die sich aus dem Glauben der Kirche ergeben und im Fall des göttlichen Rechts unmittelbar rechtlich verpflichtend sind“[18].

Die Rechtswidrigkeit eines partikularen Gesetzes kann sich aus formalen wie aus inhaltlichen Gründen ergeben. Formal kann der Bischof, in seiner Diözese der alleinige Gesetzgeber, kein Gesetz gültig erlassen, das höherem (also universalen) Recht widerspricht (c. 135 § 2). Eine vergleichbare Antwort hatte Thomas von Aquin bereits vor Jahrhunderten auf die eingangs aufgeworfene Frage gegeben:

Der Untergebene muss seinem Vorgesetzten eben nicht in allem gehorchen (subditus suo superiori non teneatur in omnibus obedire), speziell dann nicht, wenn eine höhere Instanz Anderes normiert hat (propter praeceptum maioris potestatis)[19].

III. Folgerungen

Was bedeuten diese allgemeinen Grundsätze nun für den Anwendungsfall des sog. „Synodalen Weges“, seine „Beschlüsse“ und eventuelle Umsetzungsakte der Diözesanbischöfe (deren Gesetzgebungsvollmacht die Satzung des „Synodalen Weges“ in Art. 11 Abs. 5 ausdrücklich zu respektieren versprach)?

Divergierende Lehraussagen

Sollte ein Diözesanbischof etwas verkünden, was Aussagen des universalen Lehramtes ganz oder teilweise widerspricht, handelt es sich schon begrifflich nicht um Lehramt – er ist nur dann dessen Träger, wenn er in Gemeinschaft mit Haupt und Gliedern des Bischofskollegiums steht. Ein bischöfliches „Solo“ ist Nicht-Lehramt, kein Gläubiger wäre daran gebunden. Ebenso wenig ist Träger des kirchlichen Lehramts der einzelne Auxiliarbischof („Weihbischof“), mag er auch Beauftragter für irgendetwas sein. Er hat allein in kollegialer Form Anteil am Lehramt, nämlich als Mitglied der Bischofskonferenz oder des Partikularkonzils. Letzteres wollte der „Synodale Weg“ ausdrücklich nicht sein. Zwar kann auch der Bischofskonferenz eine gewisse lehramtliche Kompetenz zukommen, sofern sie einstimmig oder wenigstens mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit entscheidet. Im letzteren Fall bedarf es zusätzlich der recognitio durch den Apostolischen Stuhl[20].

Im Grunde scheint es aber auch den treibenden Kräften auf dem „Synodalen Weg“, seien sie Bischöfe oder nicht, klar zu sein, dass ein deutsch-katholisches Sonderlehramt kein gangbarer Weg ist. Das bestätigen letztlich die immer wieder vorgetragenen Forderungen an die Universalkirche, die kirchliche Lehre „weiterzuentwickeln“ und bestimmte Aussagen im Katechismus der Katholischen Kirche, der in seiner Gesamtheit jedenfalls Ausdruck des authentischen universalen Lehramtes ist, zu ändern.

Gehorsam gegenüber hierarchischen Rechtsakten

Schon vor Jahrzehnten bemerkte Karl Rahner:

„(Es) ist durchaus damit zu rechnen, dass Obere etwas befehlen können, was objektiv gegen das Gebot Christi und der Kirche und der Moral … ist, aber nicht vom Oberen wahrgenommen wird.“[21]

Dem entspricht das nüchterne und daher die menschliche Schwachheit in Rechnung stellende Kirchenrecht: Die Strafnorm des c. 1371 § 1 geht ersichtlich davon aus, dass ein Gesetz oder ein konkreter Befehl rechtswidrig sein können.

Die entscheidende Frage lautet: Quis iudicabit? Wer entscheidet darüber?

Eine Rechtsordnung, die auf den Rechtsgehorsam ihrer Angehörigen essentiell angewiesen ist, kann es schlecht der subjektiven Befindlichkeit des einzelnen überantworten, ob ein Gesetz oder ein Einzelakt gelten soll oder nicht. Im Ausgangspunkt spricht, wie auch im Bereich des staatlichen Rechts, eine Vermutung für die Rechtsmäßigkeit eines konkreten Gesetzes oder Befehls (favor iuris)[22]. Es liegt also am Gläubigen, die Rechtswidrigkeit von Normen bzw. Einzelanordnungen darzulegen und vor den dafür zuständigen Stellen geltend zu machen.

Der dafür von einer Rechtsordnung vorgesehene Weg ist der Rechtsweg. Das gilt auch in der Kirche. Gegen einen Verwaltungsbefehl kann jeder davon betroffene den sog. hierarchischen Rekurs einlegen (cc. 1732 ff.), über den – daher der Name – der hierarchische Vorgesetzte des Bischofs, also der Papst, entscheidet. Zuvor hat sich der beschwerdeführende Gläubige im Wege einer Gegenvorstellung an den Bischof zu wenden, um ihm Gelegenheit zu geben, seine Entscheidung zu überdenken und ggf. zu revidieren.

Im Fall eines partikularen Gesetzes sieht das universale Kirchenrecht, bestätigt im modifizierten Statut über die Römische Kurie, einen spezifischen Rechtsbehelf vor. Art. 181 der Apostolischen Konstitution Praedicate Evangelium[23] lautet:

„Auf Antrag der Betroffenen prüft das Dikasterium (für die Gesetzestexte, SM), ob Gesetze und allgemeine Dekrete, die von Gesetzgebern unterhalb des Papstes erlassen wurden, mit dem allgemeinen Recht der Kirche übereinstimmen.“

In beiden Fällen freilich ist unabdingbare Voraussetzung für die Einlegung eines Rechtsmittels, dass eine Rechtsnorm bzw. ein konkreter Verwaltungsbefehl existiert[24]; ein Gesetz muss promulgiert (c. 7)[25], ein Verwaltungsbefehl mitgeteilt werden (cc. 54, 55). Denn formal löst erst ein bestehender Rechtsakt die (potentiell den Betroffenen rechtswidrig) beschwerende Gehorsamspflicht aus. Den derzeit zu beobachtenden Bestrebungen, „Beschlüsse“ des „Synodalen Weges“ durch extra- oder präter-rechtliche Mechanismen „umzusetzen“ (etwa: Leitlinien, Aktionspläne o.ä.), ist damit allerdings kaum beizukommen.

Für diesen Fall könnte das auch im kanonischen Recht gewohnheitsrechtlich anerkannte[26] Remonstrationsrecht stärkere Bedeutung erlangen, wie es im (hinsichtlich der spezifischen Gehorsamspflichten) strukturell vergleichbaren staatlichen Beamten- und Soldatenrecht positiviert ist[27]. Demnach sind Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen dem Vorgesetzten, ggf. auch dem höheren Vorgesetzten vorzulegen. Bestimmte Anordnungen dürfen, selbst wenn der Vorgesetzte auf ihnen bestehen sollte, nicht ausgeführt werden (Verletzung der Menschenwürde, Begehung einer Straftat). So könnte ein kirchlicher Amtsträger auch bei (bewusst) nicht rechtsförmig gehaltenen Mechanismen der Umsetzung von „Beschlüssen“ des „Synodalen Weges“ seinen Ordinarius und ggf. den Apostolischen Stuhl jedenfalls zur Befassung mit einer konkreten Fallgestaltung veranlassen, im Idealfall auf den Ausspruch einer rechtsverbindlichen Anordnung hinwirken, gegen welche dann die erwähnten Rechtsschutzmöglichkeiten offenstehen.

Die Fehlbarkeit des Menschen und seiner Handlungen wird den Erlass rechtswidriger Gesetze oder Verwaltungsbefehle niemals völlig ausschließen können. Erweist sich allerdings in ihnen der Widerspruch zur kirchlichen Rechtsordnung als derart offenkundig und gravierend, dass die Annahme eines bloßen Versehens nach menschlichem Ermessen auszuscheiden hat und vielmehr der nicht nur theoretische Verdacht besteht, die kirchliche Rechtsordnung solle durch Maßnahmen des Kirchenrechts auf scheinbar „legalem“ Weg umgestürzt werden, könnte unter einem ganz anderen Gesichtspunkt das Strafrecht (wieder) Bedeutung erlangen. Stimmen in der älteren Literatur[28] erwägen, im Erlass rechtswidriger Gesetze oder Einzelanordnungen ein als Amtsmissbrauch strafbares Delikt zu sehen, in die gleiche Richtung weist ein Urteil der Römischen Rota aus den 1940er Jahren[29]. Es wird abzuwarten sein, welche Reichweite die Praxis der 2021 neu formulierten Strafnorm (c. 1378 § 1) zuweisen wird.

IV. Ausblick

Die Haltung des Gehorsams, so sehr sie auch von der Rechtsordnung eingefordert wird, weist auf eine noch grundlegendere Haltung der Rechtsgenossen zurück, diejenige des Ethos. Dies gilt sowohl für den hierarchisch Anordnenden, der „selbst ein Gehorsamer …, ein Hörender“ sein muss[30]. Umgekehrt ist auch demjenigen, den ein in der Sache nicht berechtigter Gehorsamsanspruch trifft, aufgegeben, sich nicht allein in die Ausweglosigkeit von Anordnungen und Rechtsbehelfen zu ergeben oder auf die (gewiss bestehende) Letztverantwortung des Befehlenden zu verweisen. Auch hier bleibt die Mahnung von Karl Rahner bedenkenswert:

„In einem solchen Falle muss jemand wirklich in Berufung auf sein Gewissen den Mut haben, zu sagen, Nein, das tue ich nicht. Dies kommt nicht oft vor, aber vielleicht kommt es deswegen selten vor, weil wir zu lax sind.“[31]

Mit Recht bindet das kanonische Recht in seiner Grundnorm des c. 212 § 1 den Gehorsam an die Beziehung zu Christus zurück (utpote Christum repraesentantes). Damit sollte für alle in der Kirche deutlich sein, dass der wahrhaft christliche Gehorsam nicht einer Norm oder Anordnung als solcher und auch nicht primär der sie erlassenden kirchlichen Autorität gilt, sondern letztlich Gott selbst.


Prof. Dr. iur. Stefan Mückl, Staatsrechtler, Professor für Kirchenrecht, Rom. Vortrag vom 18. Mai 2023 im Rahmen des 6. Online-Studientages der Initiative Neuer Anfang zum Thema „Sinn und Grenzen des Gehorsams in der Kirche heute“.


[1] Thomas von Aquin, Summa theologiae, II-II, q. 104, art. 5.
[2] S. nur II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium (LG), 21. November 1964, AAS 57 (1965), 5 ff., Nr. 18 ff.
[3] Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), IV, 416.
[4] Der CIC gilt für die lateinische Kirche (c. 1). Die entsprechende Norm für die Ostkirchen findet sich in c. 15 §1 des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (CCEO) vom 18. Oktober 1990. Im Folgenden wird nur auf die Normen des CIC Bezug genommen.
[5] LG (FN 2), Nr. 37.
[6] Reinhild Ahlers, Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, in: Stephan Haering / Wilhelm Rees / Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, HdbKathKR, 3. Aufl. 2015, S. 289 (294).
[7] Ludger Müller, „Im Bewußtsein der eigenen Verantwortung …“. Die Gehorsamspflicht im kanonischen Recht, ArchKathKR 165 (1996), 3 (4 ff.), der statt „kanonischem Gehorsam“ den Begriff „Amtsgehorsam“ bevorzugt.
[8] LG (FN 2), Nr. 21.
[9] Es zeigt sich also hier (wie auch in c. 752, dazu sogleich im Text), dass der kirchliche Sprachgebrauch den Glaubensgehorsam mit dem Begriff obsequium (und nicht: oboedientia) umschreibt, s. auch Müller (FN 7), 4, 7.
[10] Zu diesem Kriterium c. 750 § 1 CIC.
[11] Vgl. LG (FN 2), Nr. 25.
[12] II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 18. November 1965, AAS 58 (1966), 817 ff., Nr. 10.
[13] Winfried Aymans, Apostolische Autorität im Volke Gottes. Über Grund und Grenzen geistlicher Vollmacht, in: ders., Kirchenrechtliche Beiträge zur Ekklesiologie, 1995, S. 87 (96); vgl. aus dogmatischer Sicht Gisbert Greshake, Das Dienstamt des Papstes. Tragweite, Bedeutung und Perspektiven der Entscheidungen des I. Vatikanischen Konzils über den Primat des Papstes, in: ders., Gottes Heil – Glück des Menschen. Theologische Perspektiven, 1983, S. 323 (334).
[14] LG (FN 2), Nr. 28.
[15] In der seit 8. Dezember 2021 gültigen Fassung, zuvor (in der Sache gleichlautend) c. 1371 Nr. 2 CIC/1983.
[16] Hugo Schwendenwein, Die Rechte und Pflichten der Kleriker, in: HdbKathKR (FN 6), S. 355 (362 f.); Müller (FN 7), 19.
[17] Klaus Lüdicke, in: Münsterischer Kommentar, c. 1371 (Juli 2004), Rn. 5.
[18] Müller (FN 7), 20.
[19] Thomas von Aquin, Summa theologiace, II-II, q. 104, art. 5 co.
[20] Johannes Paul II. Apostolische Konstitution Apostolos suos, 21. Mai 1998, AAS 90 (1998), 641 ff., Nr. 21 f.
[21] Karl Rahner, Einübung priesterlicher Existenz (1971), in: ders., Sämtliche Werke, Band 13, 2006, S. 269 (348).
[22] Alexander Szentirmai, Die Problematik des rechtswidrigen Befehls im kanonischen Recht, ThQ 1961, 408 (411).
[23] Franziskus, Apostolische Konstitution über die Römische Kurie und ihren Dienst für die Kirche in der Welt Praedicate Evangelium, 19. März 2022, Communicationes 54 (2022), 9 ff.
[24] Szentirmai (FN 22), 408 ff.
[25] Ebenso schon c. 8 CIC/1917, die Aussage geht zurück auf das Decretum Gratiani (D. IV).
[26] Wilhelm Rees, Die Rechtsnormen, in: HdbKathKR (FN 6), S. 126 (144) m.w.Nachw.
[27] §§ 62, 63 Bundesbeamtengesetz; § 11 Soldatengesetz.
[28] Eduard Eichmann, Lehrbuch des Kirchenrechts, 4. Aufl. 1934, Band 2, S. 449; Szentirmai (FN 22), 416 f.
[29] S. R. Rotae Decisiones 32 (1940 / 1949), 595-596.
[30] Karl Rahner, Marginalien über den Gehorsam (1956 / 1959), in: ders. (FN 21), S. 540 (546).
[31] FN 21.

 

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