Deutschlands katholische Bischöfe proben den Paradigmenwechsel. Bei Luther noch stand der sündige Mensch vor der Frage nach dem gnädigen Gott. Aber jetzt steht eine korrumpierte Kirche vor der Frage nach dem gnädigen Publikum.

Katholische Bischöfe sind die letzten Kleinfürsten der Welt. Der Bischof, der sich beim anderen einmischt, ist in der katholischen Kirche nicht vorgesehen. Mittlerweile rücken über hundert Bischöfe aus Polen, den nordischen Ländern, Amerika, Australien und Afrika den reformfreudigen deutschen Mitbrüdern auf die Pelle. Selbst als moderat geltende «Römer» wie die Kardinäle Walter Kasper und Kurt Koch lassen kein gutes Haar am deutschen Reformprojekt Synodaler Weg, was darauf hindeutet, dass man auch in der Zentrale befürchtet, 1521 könnte sich wiederholen und das Imperium könnte noch einmal gründlicher zerfallen als in der Reformation 1.0.

Die «deutsche Krankheit» ist bei Licht besehen keine deutsche. Tatsächlich wühlen unter der Oberfläche des katholischen Universums gerade gewaltige Antagonismen – zwei sich abstossende Gestalten des Katholischen arbeiten sich aneinander ab, von denen eine sich gerade radikalisiert. Die Widersprüche liessen sich grob umschreiben als Theozentrik und Anthropozentrik.

Im Zeitalter der Selbstoptimierung

Der Vater der «anthropozentrischen Wende» in der Theologie ist der deutsche Konzilstheologe und Heidegger-Schüler Karl Rahner (1904–1984). In kühner Plausibilisierung eines in der Schultheologie erstarrten Gottesglaubens setzte er konsequent bei einem tieferen Verstehen des Menschen an. Um von Gott heute etwas sagen zu können, müsse man vom Menschen reden, dessen tiefstes Geheimnis eben Gott sei. Rahner empfahl, den Teppich des Glaubens transzendentaltheologisch, also gewissermassen von der Rückseite her, zu lesen. Alle Theologie habe von nun an Anthropologie zu sein und umgekehrt.

Rahner war dabei kein menschheitsduseliger Humanist; seine Pointe bestand darin, dass radikale Anthropologie das Kreisen des Menschen um sich selbst auf das je grössere Gottesgeheimnis hin übersteigt. Biblisch gesprochen: Der Mensch kommt zu sich selbst in Gottesfurcht. Spuren dieses Ansatzes findet man in den Dokumenten des II. Vatikanums, auch bei Johannes Paul II., der in seiner Antritts-Enzyklika «Redemptor Hominis» (1979) bekannte: «Der Mensch ist der Weg der Kirche.» Dass der gottesfürchtige Pole das heute noch einmal so ungeschützt schreiben würde, ist kaum anzunehmen.

Die Menschenförmigkeit der Theologie ist längst zum Dollpunkt geworden, an dem sich die Geister scheiden. Die «neue» Anthropozentrik hat die Transzendenz des Selbst, den Gottesbezug, gelöscht. Der nach dem richtigen Handeln suchende Mensch befasst sich selbstoptimierend mit sich. Ethik mutiert in Psychologie.

Dürers Selbstbildnis

Als die Stadt Nürnberg 1971 den 500. Geburtstag von Dürer feierte, liess man sich einen besonderen Gag einfallen. Man projizierte Dürers Selbstbildnis von 1500 überlebensgross auf das Fenster des Nürnberger Hauptbahnhofes. Das war zu einer Zeit, als noch Scharen katholischer Gastarbeiter aus Südeuropa dort ankamen.

Sehr zur Verwunderung der Nürnberger fielen manche auf die Knie und bekreuzigten sich in der Annahme, ein besonders christliches Land würde sie willkommen heissen. Sie konnten nicht wissen, dass es nicht Christus war, der ihnen entgegenstrahlte, sondern ein Mensch an der Wende zur Moderne. Einer, der sich in der Christus-Pose selbst inszenierte und kühn in den Mittelpunkt der Welt stellte: der Künstler, das autonome moderne Subjekt, das sich in Freiheit erfindet und selbst erschafft. Adam 2.0 – so wollten die Ausstellungsmacher es zumindest sehen. Ob Dürer selbst es so gemeint hat, steht dahin. Er könnte sein Selbstbildnis auch als Ikone des durch Christus verwandelten Menschen verstanden haben.

Eine ähnliche Kontrafaktur altbekannter Schemata ereignet sich gerade vom Land Luthers kommend in der Kirche. In der Breite fast unbemerkt, wird das Herz des Christlichen durch ein anderes ersetzt. Das Neue an der Stelle Gottes ist der autonome Mensch.

Christliche Ethik war immer theozentrisch, Zeugnis und praktischer Erweis einer Tat Gottes. «Auferweckt» durch ihn sollen wir «als neue Menschen leben» (Röm 6,4). Das Gute war grundgelegt in Gottes guter Schöpfung. In menschlicher Freiheit, aber durch Gott, «mit ihm und in ihm» galt es, dieses natürlich Gute zu erlangen. Gott selbst, so legte es Thomas von Aquin aus, würde den natürlich zum Guten strebenden Menschen unfehlbar zu einem Glück, Gott selbst, hinführen.

Die Geschichte der Offenbarung galt als eine Geschichte immer neuer hilfreicher Weisungen von oben: «Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet . . .» (Mi 6,8).

Menschenfreundliche Bischöfe

In der gegenwärtigen Kirchenkrise spielt Gott nur eine nebensächliche Rolle. Bei Luther noch stand der sündige Mensch vor der Frage nach dem gnädigen Gott. Dieses Mal steht eine korrumpierte Kirche vor der Frage nach dem gnädigen Publikum. Angekommen im Souterrain der Metaphysik, ringt man um das Menschlich-Allzumenschliche, insbesondere um die Toleranzbreite der etwas älteren Institution angesichts der Varianz sexueller Selbstverwirklichungskonzepte heute.

Rahner wollte den Menschen auf Gott hin aufbrechen; auf den Gedanken, die Gebrochenheiten im menschlichen Liebesstreben zu verklären und ihm den läuternden Überstieg in die Transzendenz zu ersparen, wäre er nicht gekommen. «Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit», hielt die «Bunte» Bischof Georg Bätzing vor: «Keiner hält sich an Ihre Moral, die Sex nur in der Ehe erlaubt.» Darauf Bätzing: «Das stimmt. Und wir müssen den Katechismus da teilweise ändern. Sexualität ist eine Gottesgabe. Und keine Sünde.»

Sexualität ist natürlich keine Sünde, aber was man damit macht, von Fall zu Fall schon. Die in allen Besenkammern der Liebe bewanderten «Bunte»-Leser werden verstehen, was hoffentlich nicht gemeint ist. Dem Ganzen die Krone setzt der Bischof von Essen, Franz-Josef Overbeck, auf: «Wie Menschen zu leben haben, lässt sich nicht mehr allgemein autoritativ verordnen, ohne das Gottesgeschenk der Autonomie mit Füssen zu treten.»

Es sind diese Populismen, bei denen sich amerikanische Bischöfe bekreuzigen. Overbeck ist auch noch Vorsitzender der Glaubenskommission der Bischofskonferenz.

Das Prinzip Selbstermächtigung

Die anthropozentrische Überdehnung der Theologie setzt die Freiheit des Menschen an den Anfang aller Dinge. Kategorien wie Gottes Wille oder Gottes Gebot beleuchten den Status des Menschen nachrangig oder gar nicht. Die neue Ethik ist keine Ethik der Entsprechung zum Göttlichen; sie gründet auf dem jeweils individuellen Begehren der Person. «Nichts», sagt Papst Franziskus, «ist flüchtiger, unsicherer und unberechenbarer als das Begehren» («Amoris laetitia»).

Man wüsste oft gerne, wo noch der Unterschied zu Aleister Crowley, dem Satanisten, zu finden ist. Dessen Kernsatz «Tue, was du willst, soll sein das ganze Gesetz» könnte auch von einem der einschlägigen Theologen stammen.

In einem offenen Brief hatte der emeritierte Papst Benedikt im Februar 2019 den «Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie» erkannt: «So konnte es nun auch nichts schlechthin Gutes und ebenso wenig etwas immer Böses geben, sondern nur relative Wertungen. Es gab nicht mehr das Gute, sondern nur noch das relativ, im Augenblick und von den Umständen abhängige Bessere.»

Im Konzept autonomer Selbstermächtigung ist erlaubt, was gefällt, sofern es dem anderen auch gefällt, mit dem es beziehungsethisch gut verhandelt ist. Gott wird zur segnenden Randfigur unseres Tuns; er ist ethisch nicht mehr konstitutiv. Der ohnehin auf Individualismus gepolte Mensch weiss selbst, was gut für ihn ist.

Soziologie wird Theologie

Bevor es aber zum institutionellen Kollaps kommt, möchten die deutschen Bischöfe mit einer im Zentralkomitee vereinigten Elite von Funktionären neu sortieren, was Kirche heute ist, nach dem Konzept «Nachfrage regelt das Angebot». Die anthropozentrische Grundidee wird durchkonjugiert bis in die Sozialformen hinein. Wie die Ethik, so zerfällt auch die Kirche in eine gottreferenzielle und eine selbstreferenzielle Community. Der neue Kirchentyp hält es mit dem Werbespruch der Betonindustrie: «Es kommt darauf an, was wir daraus machen.»

Die anthropozentrische Kirche möchte die vielen mitnehmen, indem sie das «Du musst dein Leben ändern» eliminiert. Im Konflikt mit den eigenen Dokumenten, der Heiligen Schrift und kirchlicher Lehre, entkräftet oder tilgt sie das Eindeutige durch Interpretation, nennt die klare Aussage unterkomplex oder überholt.

Die alte (theozentrische) Kirche hingegen war und ist nur bedingt anschlussfähig. Sie eckt an, und zwar aus Prinzip. Von Wort und Lehre gebunden, setzt sie sich ab von dem, was man tut, weil alle es tun. Sie ist aber anschlussoffen durch Bekehrung. Ihr Geschäft ist Verkündigung ergangener Verheissungen – im Zuspruch Gottes wie in seinen unbequemen Weisungen.

Wie die neue Ethik, so ist auch die neue, massenkompatibel gedachte Kirche tendenziell gottlos. Der Versuch, etwas zu sagen und zu sein, was allen gefällt und niemand verletzt, endet in der Gottferne. Dass Papst Franziskus gerade kein besonderes Wohlgefallen an der deutschen Dépendance der Kirche hat, hätte man schon seiner Rede vor der Wahl zum Papst entnehmen können. Damals, im März 2013, sagte er: «Die um sich selbst kreisende Kirche glaubt – ohne dass es ihr bewusst wäre –, dass sie eigenes Licht hat. Sie hört auf, das ‹Geheimnis des Lichts› zu sein, und dann gibt sie jenem schrecklichen Übel der ‹geistlichen Weltanpassung› Raum (nach Worten de Lubacs das schlimmste Übel, das der Kirche passieren kann).»

Dieser Beitrag erschien erstmalig am 07.06.2022 in der Neuen Zürcher Zeitung



Bernhard Meuser

Jahrgang 1953, ist Theologe, Publizist und renommierter Autor zahlreicher Bestseller (u.a. „Christ sein für Einsteiger“, „Beten, eine Sehnsucht“, „Sternstunden“). Er war Initiator und Mitautor des 2011 erschienenen Jugendkatechismus „Youcat“. In seinem Buch „Freie Liebe – Über neue Sexualmoral“ (Fontis Verlag 2020), formuliert er Ecksteine für eine wirklich erneuerte Sexualmoral.

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