Für wen halten die Leute den Menschensohn?
Ostern 2016 an meine Studenten

von Helmut Müller

„Ite inscendite mundi“ (Geht und entzündet die Welt) – das ist kein Satz aus Asterix und Obelix, dem Lateinlehrbuch des späten 20. Jahrhunderts. Das Wort stammt von Ignatius von Loyola, einem späten Nachfahren des berühmtesten Galiläers Jesus – der stammt auch nicht aus Klein-Bonum, sondern aus Nazareth. Und das war keine Empfehlung: „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?“(Joh 1,46) Er ist weder Sohn eines Schmiedes noch eines Fischverkäufers, sondern „Sohn der Maria“ oder auch „Sohn des Zimmermanns“ genannt.

Sein Zaubertrank war auch nicht aus Misteln gebraut, sondern bestand aus der Lehre von der Überwindung des Todes. Mit dieser eroberte er die Welt, nicht nur die römische, sondern die ganze. Nachfahren auf manchen deutschen Bischofsstühlen haben diesen Drive heute nicht mehr, trinken entweder nicht mehr aus dem Zaubertrank des großen Galiläers oder nur aus einem gepanschten mit falschen Zutaten. Sie blicken ängstlich auf einen noch gefüllten Kirchensteuerbeutel, dessen Löcher immer größer werden. Aber zurück auf Anfang: Wer waren die anderen 12 Galiläer?

Der Schwärmer unter kleinen Leuten wird zum Heiland der Welt

 Die folgenden Zeilen verdanken sich der Anregung eines meiner besten Freunde. Er stammt wie ich aus einem Arbeitermilieu. Wie so häufig fing alles ganz locker an, wir frotzeln nämlich oft dumm herum. Man müsste ihn noch weiter kennen, um einschätzen zu können, wie sich das Frotzeln abspielte. Es ging also darum „mit wem dieser Jesus sich so rumtrieb“. Auf genau demselben Niveau bekam er dann auch eine Antwort. Die Zeit reichte nicht, wir wurden unterbrochen. Er fragte nur noch: „Redest du auch so mit deinen Studenten?“  Wie gesagt, das regte mich zu den folgenden Zeilen an.

Also: Mit wem hat sich dieser Jesus herumgetrieben? Ich beschränke mich dabei auf den Trupp, den er im Abendmahlsaal (am Gründonnerstag, der Heilige Geist war erst an Pfingsten anwesend) beisammenhatte, also bei deren Erstkommunion. Frauen waren nicht dabei, vielleicht als Handlanger. Beginnen wir mit dem übelsten Typen:

  • Judas Iskariot. Bei diesem Namen klingelten beim römischen MAD (Erklärung – außer für ehemalige Soldaten – Militärischer Abschirmdienst) schon die Ohren. Sikarier, Dolchmann, kleinkriminelles Milieu, wie Brüssel-Molenbeek, der einzige Judäer. Er hatte wohl auch noch bei Jesus die Finger in der Kasse, auch wenn sie dort nicht hingehörten. Judas war schon vorher offenbar schier verzweifelt, weil er diesen Jeschua ben Marjam für einen Widerstandskämpfer hielt, der den Römern kräftig aufs Haupt schlagen sollte, es aber nicht tat. Deshalb hatte er ihn wohl auch an den Hohen Rat verraten.
  • Simon der Eiferer, der Zelot. Es wird nicht besser. Zeloten waren jüdische Widerstandskämpfer, wahrhafte Selbstmordattentäter. Sie mischten sich unter das Volk und schnitten römischen Soldaten mit dem Messer die Kehle durch, wenn sie nahe genug rankamen. Simon blieb, wenigstens an diesem Abend, mit welchen Gefühlen auch immer, im Raum (vgl. Joh 13, 21- 33. 36 -38, Lesung von Di. in der Karwoche)
  • Levi, genannt Matthäus, kein Vorfahre von Lothar Matthäus, das nicht, aber in der damaligen Truppe ein Kollaborateur; dass ihm Simon und Judas nicht an die Kehle gegangen sind, war alles. Jesus hat es wohl verhindert. Zöllner waren damals Kollaborateure der römischen Besatzungsmacht, die Steuern eintrieben und das Volk aussaugten. Das Ansehen dieser Clique war vergleichbar dem eines heutigen Palästinensers, der mit der israelischen Armee in den Westbanks kooperiert. Was um alles in der Welt hat er bei dem Mann aus Nazareth gesucht? Weil der es offenbar mit jedem konnte?
  • Jakobus und Johannes, genannt die „Donnersöhne“. Ein mir unbekannter Maler hat offensichtlich seine Bibel nicht richtig gelesen, als er Johannes mit schmachtendem Aufblick zu Jesus im Abendmahlsaal malte. Jedenfalls wollten die Donnersöhne das Fell des Bären schon verteilen, bevor er erlegt worden ist. Da gerieten sie aber bei Jesus an den Richtigen. Sie wollten im Himmelreich rechts und links von ihm sitzen. Sie bekamen vermutlich (ungefiltert) zu hören: Die Letzten beißen die Hunde.
  • Thomas, der Ungläubige genannt, wenigstens jemand, der sich kein X für ein U vormachen lässt. Was der wohl bei dem Galiläer gesucht hat? „Wenn man Dir auf die rechte Wange schlägt, halt ihm auch die Linke hin.“ Bist du nach einem Rechtsausleger noch nicht k. o., fang dir noch einen linken Haken ein, oder so. Noch eine ganze Reihe anderer Sprüche dieser Couleur musste er sich anhören. Eine Zumutung, bei seinem Realismus! Ganz merkwürdig, dass er nach dem Verbrechertod am Kreuz, dem Galgen der Antike, überhaupt noch aufkreuzt und mit seinem Realismus die Jünger nervt.
  • Nathanael, genannt Bartholomäus, ein Sonnyboy, für meinen Freund ein Weichei.
  • Simon, genannt Petrus, der Chef, offensichtlich ein Großmaul. Schiebt sich immer in den Vordergrund, unbeherrscht, haut noch am gleichen Abend mit dem Schwert um sich, in Gegenwart einer bis an die Zähne bewaffneten Truppe (an Karfreitag auf die Lesung aufpassen). Es spricht für Jesus, dass sie aus Simon nicht Hackfleisch gemacht haben. Nur ein paar Stunden später hat er wohl den Ernst der Lage begriffen. Jetzt will er plötzlich von nichts mehr wissen, klappert mit den Zähnen, nach zweimaligen Krähen eines hundsgewöhnlichen Hahns schlottern ihm die Knie und er ist nur noch ein Häufchen Elend.
  • Andreas, Bruder des Petrus, Philippus klingt griechisch, nach Johannes ist der Junge schwer von Begriff, (siehe Lesung vom Kardienstag), Judas Thaddäus, Jakobus, Sohn des Alphäus, beide, wie überhaupt die Letztgenannten, unbeschriebene Blätter. Was kann man drauf schreiben? Nachläufer, Karrieristen, Naivlinge, Wendehälse, Spinner, Wehleidige, Ausgebuffte? Galiläa war voll davon, wenn man sich die Typen, die hinter anderen Messias-Prätendenden herliefen, einmal anschaut.

Ja, und dann einen Tag später scheint der Spuk vorbei gewesen zu sein. Der letzte Chef des so genannten Heiligen Offiziums, Kardinal Ottaviani, hat es markant auf den Punkt gebracht: „Die erste gemeinsame Handlung der jungen Kirche war es, dass sie gemeinsam stiften gegangen sind.“

Wer stand denn unter dem Kreuz? Maria, die am Abend davor gar nicht dabei gewesen ist und als Frau und Mutter damals wohl nicht richtig ernst genommen worden ist! Und Johannes, offensichtlich ein verstörter Jüngling, der seinem Temperament als „Donnersohn“ ganz und gar unter dem Kreuz nicht gerecht geworden ist. Er kann es wohl gar nicht abschätzen in welcher Gefahr er sich befindet, sich unter dem Galgen eines vermeintlich politischen Rebellen aufzuhalten. Noch einmal ein Anzeichen, dass es sich bei ihm um einen verstörten Jüngling, vielleicht mit posttraumatischem Belastungssyndrom, handeln musste.

Und dann kam die Wende!

Samstags war noch Ruhe im Karton, äh im Grab. Was um alles in der Welt muss aber in der Nacht zum Sonntag geschehen sein, dass dieselben Leute, am Tag darauf, bzw. 50 Tage später mit Maria, aus dem gleichen Saal auf die Straße laufen und jedem, ob er es hören will oder nicht, sagen, was sie erfüllte? Waren die besoffen, high, traumatisiert, haben sie den Verstand verloren, sogar Thomas, oder was? Und schon geht es ihnen an den Kragen, ein Mitläufer, Stephanus, ist das erste Opfer. Ein Heißsporn namens Saulus hat dafür gesorgt, dass wenigstens der nicht mehr blasphemisch Gott lästert. Aber die anderen sind weiter außer Rand und Band und machen Ärger.

Des Rätsels Lösung: Der Galiläer hat Wort gehalten. Er ist von den Toten auferstanden. Selbst der kritische Thomas hat seinen Augen nicht getraut und muss sehen, was schier unglaublich klingt:    Der läuft tatsächlich wieder rum!

  • Der Schwärmer vom See,
  • der Zampano unter kleinen Leuten,
  • der „Fresser und Säufer“ auf galiläischen Partys und Hochzeiten,
  • das Fastengesicht aus der Wüste,
  • der Frauenmagnet von Galiläa,
  • der Tempelpolterer und Geschäftsverderber,
  • der „Erquicker“ der Mühseligen und Beladenen,
  • der Dämonenverscheucher und
  • Pharisäerschreck,
  • die mausetote, ausgeblutete Leiche vom Karfreitag

wird zur „Fülle des Lebens“ am Ostersonntag und „erfüllt“ damit alle oben genannten „Leeren“ – die Hasenfüße von Jüngern ab Pfingsten (an ihrer Firmung), die kleinen Leute vom See und darüber hinaus mit Hoffnung, die Mühseligen und Beladenen mit Freude, die Witwen und Waisen mit Zuversicht, selbst Pharisäer wie Paulus mit neuem, umstürzendem Glauben. Macht er auch aus unseren „Leeren“ „Füllen“?

Von der Leere zur Fülle

Bis Karsamstag haben wir Zeit, die „Leeren“ in unserem Leben zu entdecken, sie werden bisweilen so erbärmlich offensichtlich, wie die „Leeren“ am Erstkommuniontag der Jünger im Abendmahlsaal ohne Heiligen Geist.

Haben wir ab Ostersonntag ein Augenmerk für die „Fülle des Lebens“, die uns prinzipiell geschenkt wurde? Bemerken wir sie wenigstens, wenn wir seit unserer Firmung, früher oder später mit Missio von der Kirche und Master von der Uni in die Welt, an den Arbeitsplatz, Grundschule, Realschule oder das Gymnasium geschickt werden?

Ite, inscendite mundi, geht und entzündet die Welt. Mit diesen Worten schickte Ignatius seine Jünger in die Welt. Schon für das Volk des alten Bundes galt: „Ihr sollt ein Segen sein“ (Gen 12,2)!

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von Dr. phil. Helmut Müller

Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag

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