Die katholische Kirche – von vielen auch anders Denkenden als ein Fels in der Brandung des Zeitgeistes wahrgenommen, droht im Meer unkritischer Zeitgenossenschaft zu versinken. In Frankreich gehören zu diesen anders Denkenden Michel Onfray und Michel Houellebecq und in Deutschland Rüdiger Safranski, der es so ausdrückt: „Ich bin kein Katholik, aber […] ich fände es wunderbar, wenn die katholische Kirche ihre unverwechselbare Gestalt behält, das ist eine Bereicherung für die ganze Gesellschaft.“
Selbst der Schöpfer des Begriffs „religiös unmusikalisch“, Jürgen Habermas, hatte sich einst Kardinal Ratzinger als Diskussionspartner gesucht, worauf sich der damalige Vorsitzende der EKD, Wolfgang Huber[1], beschwerte, Habermas würde die katholische Kirche bevorzugen. Auch alle Würdigungen zu runden Geburtstagen von Habermas haben daran offenbar nichts geändert. Selbst auf der Kanzel Luthers in Wittenberg wird die katholische Kirche davor gewarnt, ihr Profil aufzugeben.
Die verführerische Zustimmung der Menge (Cicero)
Die Mehrheit der deutschen Bischöfe scheint das anders zu sehen. Sie scheinen der verführerischen Zustimmung der Menge, dem multitudinis consensus, wie Cicero schon bemerkte, verfallen zu sein. Cicero nennt auch einen Grund, die voluptas, die Sinnen- und Genusslust, die „die Mutter aller Übel ist.“ Voluptas ist heute das Begehren, deren Neubewertung zu einer 180-Grad-Drehung der Moraltheologie geführt hat.
Insgesamt scheinen die Bischöfe eher einer unqualifizierten Mehrheitsmeinung zu folgen, als einer – sogar von anders Denkenden geschätzten, qualifizierten Minderheitsmeinung. Ein Blick in die Anfangsgeschichte des Christentums könnte zeigen, wie der Stifter sich gegen eine pure Zeitgenossenschaft gewendet und wie anders qualifizierte Positionen sich entwickeln können, wenn sie nicht bloße Zeitgenossenschaft bedienen. Das soll ein Vergleich von zwei Zeitgenossen zeigen:
Auf dem synodalen Weg war viel die Rede davon, dass man doch die Zeichen der Zeit deuten müsse. Bisweilen hatte man den Eindruck, dass die Botschaft des Evangeliums, durch den einen oder anderen Zeitendeuter regelrecht ersetzt wird und sogar gegen den Sinn des Textes gelesen werden muss. Es stellt sich der Eindruck ein, dass die Blase (P. Sloterdijk), in der man sich mit Gleichgesinnten bewegt, ausgebaut wird wie eine Festung und aus dieser Festung dann die Zeichen der Zeit interpretiert werden.
Ungleiche Zeitgenossenschaft
Ich möchte ein Gedankenexperiment machen: Der Römer Seneca (4 v. – 65 n. Chr.) und Jesus von Nazareth waren Zeitgenossen. Beide kann man als Zeitendeuter bezeichnen. Weshalb hat man den einen fast vergessen und hat im Gegenzug die Botschaft des anderen viele Menschen die Reputation oder sogar das Leben gekostet? Selbst die Jünger sind dabei, seinem Lebensstil „um des Himmelreiches willen“ eine Absage zu erteilen, oder ihn wenigstens zu relativieren.
Die Zeichen der Zeit in der Spanne von zeitgemäß und zeitgerecht
Die Zeitendeuter auf dem Synodalen Weg scheinen eher beim Römer Seneca in die Lehre gegangen zu sein, als bei dem großen Galiläer. Der Römer ist als Tugendlehrer im Rahmen seiner Zeit geblieben. Er erhellte die „Weltzeit“[2] in der Spanne seines Lebens und scheiterte wie alle am Absolutismus der Wirklichkeit. Der Galiläer Jesus sprengte hingegen mit seiner Botschaft diesen ehernen Rahmen und zeigte Wege auf, wie in einer gnadenlosen „Weltzeit“ auch eine Heilszeit ansichtig werde. Die Zeitendeuter des Synodalen Weges meinen, die „Zeichen der Zeit“ als „Lebenswirklichkeit“ zu deuten, der man mit freiem, selbstbestimmtem, vernünftigem Reden miteinander auf „Augenhöhe“ beikommen könne.
So etwas wie leben nach den „evangelischen Räten“ oder „um des Himmelreiches willen“ – ein Leben, das über die Weltzeit hinausragt, also die Grundbotschaft des Galiläers – muss man dabei mit der Lupe suchen. Ich beginne mit einer Spurensuche in der gemeinsamen Weltzeit der beiden Zeitgenossen Jesus und Seneca. Die Lebenszeit des einen kommt in unserer Weltzeit nur noch im Latein- und Geschichtsunterricht vor, die des anderen markiert den Beginn einer Heilszeit, die noch nicht zu Ende ist. Von letzterer sollte eigentlich auf dem Synodalen Weg die Rede gewesen sein.
Lebenszeit zwischen Patrizierhaus und Schafsstall
Der Mann aus Galiläa hat keine Bücher geschrieben. Von ihm diktiert besitzen wir keine einzige Zeile. Gerade einmal drei Jahre, vielleicht auch nur ein Jahr, dauerte seine öffentliche Wirksamkeit. Wenn er in dieser kurzen Zeit vor einem ergebenen Publikum sprach, waren es des Schreibens unkundige, galiläische Fischer; sprach er vor einem schriftkundigen Publikum, musste er damit rechnen, dass er zu allem entschlossene Gegner seiner Botschaft vor sich hatte. Das Drama seines Lebens, das in einem Viehstall begann und am Kreuz, dem Galgen der Antike, endete, vollzog sich zu allem Überfluss in einer Provinz des Imperium Romanum, die sich dadurch auszeichnete, in Ungnade gefallene, römische Patrizier als Regenten zu beherbergen, wie Pilatus einer war.
Noch mehr verwundert das gewaltige Echo seines Lebens, wenn man Leben und Werk des damals schon berühmten Zeitgenossen dagegenhält, der heute vielleicht noch Thema im großen Latinum ist und im Geschichtsunterricht, weil er der Lehrer Neros war, und ebenso wie der Nazarener ein Mann mit hohen ethischen Ansprüchen.
Politik am Kaiserhof versus Predigen in der Wüste
Von ihm besitzen wir schriftlich mehr aus erster Hand, als von dem Galiläer – vielfach dubios – aus zweiter Hand. Den drei Jahren, oder auch nur einem Jahr, öffentlicher Wirksamkeit in der galiläischen und judäischen Provinz, stehen Jahrzehnte rednerischer und schriftstellerischer Tätigkeit im Zentrum der Macht des Imperium Romanum, am Kaiserhof in Rom, gegenüber. Das Pendant zum Stall von Bethlehem ist ein römisches Patrizierhaus,
die Todesangst in Gethsemane findet ihre Entsprechung in der Inszenierung eines selbstgewählten Todes mit dem Diktat des letzten Werkes auf den Lippen. Und dem Scheitern als Spottgestalt am Kreuz steht der moralische Triumph im Tod über seinen Gegner Nero entgegen.
Ars moriendi versus schändlicher Verbrechertod Kreuz
Der Tod des edlen Römers und der schmähliche Tod des Galiläers markieren jeder für sich eine Wende. Wie ein Lauffeuer breitete sich die Botschaft des letzteren binnen weniger Jahre im Imperium Romanum aus und nahm ihren Weg aus der galiläischen Provinz bis ins kaiserliche Rom. Noch zu Lebzeiten Senecas hatte die Botschaft des Nazareners in Rom Fuß gefasst. Der Genius Senecas jedoch verstaubte in Bibliotheken und in Bücherregalen römischer Patrizierhäuser, von wo er hin und wieder eine Reihe Intellektueller inspirierte. Selbst römische Kaiser wie Mark Aurel und Julian Apostata konnten ihm nicht auf Dauer Beachtung schaffen. Die Aufforderung des Mannes aus Nazareth, in seine Fußstapfen zu treten, d. h. ihm nachzufolgen, war wider Erwarten zugkräftiger, als dem ethischen Impuls Senecas zu folgen. Der Tod Senecas als imitatio Socratis zeigte zwar, wie gelöst und furchtlos Menschen dem Tod ins Auge zu sehen vermögen, aber der Tod bleibt bei Seneca schließlich Sieger, wie genial auch der Sterbende die ars moriendi beherrscht haben mag.
„Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben“ (Apg. 4,20)
Die Botschaft des Mannes aus Nazareth war aber mit dem Tode noch nicht zu Ende. Die enttäuscht und ernüchtert in ihre Heimat zurückgekehrten, galiläischen Fischer sprachen plötzlich wie verwandelt von seiner Auferstehung, von seinem Sieg über den Tod. Aus Hasenfüßen, die am Tag des Abendmahls ihren Meister verleugneten und am darauffolgenden endgültig Reisaus nahmen, wurden in der imitatio Christi todesmutige Bekenner, die den Tod weder durch Schwert noch Kreuz fürchteten und bekannten: „Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben“ (Apg 4,20)
Plötzlich wurde das einfache, ja armselige Leben des Mannes aus Nazareth in einem neuen Licht gesehen. Hunderttausende führten nämlich in Palästina und anderswo ein Leben, das dem des Nazareners in seiner Armseligkeit glich, und durch einen erbärmlichen Tod besiegelt wurde. Mit der Auferstehung des nun als Christus geglaubten Mannes aus Nazareth hatte aber nun einer der beiden Zeitgenossen die Armseligkeit des Lebens hinter sich gelassen und mehr noch, einen überaus erbärmlichen und schmählichen Tod überwunden. Vielleicht gehörte gar nicht viel Glaube dazu, die Herrlichkeit des Reiches Gottes im Elend des Lebens und hinter der Schwelle des Todes zu erhoffen.
„Mühselige und Beladene“ versus Pragmatiker und Karrieristen
In die Fußstapfen des Galiläers traten daher nach den Fischern vornehmlich alle „Mühseligen und Beladenen“ und davon gab es im Imperium Romanum jede Menge. Die Botschaft wurde aber offensichtlich so überzeugend verkündet, gelebt und erfahren, dass nach und nach auch Sklaven ihre Herren, Analphabeten die Intellektuelle, Arme die Reichen, Heilige die Sünder und Ohnmächtige die Mächtigen überzeugen konnten. Spätestens mit Konstantin und Theodosius strömten dann allerdings auch Massen von Pragmatikern, Karrieristen, Wendehälsen und Gleichgültigen in die Kirche.
Die Botschaft des Galiläers wurde auf diese Weise „zeitgemäß“ eingeebnet, so zeitgemäß, wie es die Botschaft Senecas zu seiner Zeit in seiner Bildungsschicht gewesen ist. Die Sprengkraft aber, das der Zeit wirklich „Gerechte“ in die jeweilige Zeit hinein zu sagen, wurde nachkonstantinisch erheblich gemindert und wird es bis heute.
Von „Salz der Erde“ zu selbstbestimmter Lust
Wie Seneca damals, sprengt die Grundbotschaft des Synodalen Weges nicht den Rahmen der Zeit. Wenn es heißt, sie lieben sich doch bloß, halt in bisher irregulären Beziehungen nach dem Kanon des Katechismus der Katholischen Kirche, verwechselt man da nicht Liebe mit Libido? Und nimmt nicht diese Verwechselung auch Einzug in die „regulären Beziehungen“? Wenn man auf „Augenhöhe“, sich von niemandem was sagen lässt, selbst bestimmt und frei entscheidet, sich gegenseitig Lust schenkend, Verantwortung übernimmt, was ist dagegen zu sagen? (vgl. O-Töne zum Synodalen Weg) Das wäre auch im Sinne von Seneca gewesen, dem römischen Tugendlehrer. Vielleicht gäbe es im Hinblick auf Lust noch einige Differenzen.
Der Nazarener will offenbar mehr. Er sprengt den Rahmen der Zeit in die Ewigkeit hinein. Er redet vom „Salz der Erde“, dem „Licht der Welt“, der „Stadt auf dem Berge“, alles auf Transzendenz des Üblichen, des Gewöhnlichen, des miteinander Ausgehandelten abzielend. Er empfiehlt „um des Himmelreiches willen“ zu leben. Wo bleibt das signum levatum inter nationes – das hocherhobene Zeichen unter den Völkern – das schon für Israel galt? Davon hat nichts den Weg aus den Gebeten in den Tagungsalltag gefunden – es sei denn bei einer kleinen Minderheit – die man, wenn es ging – verfahrenstechnisch niedergehalten hat. Wie hat sich der Synodale Weg nach dem Lichtmesstag (2.2.2022) präsentiert? Haben die anwesenden Theologen mehr als einen Menschenversteher aus dem Evangelium herausgearbeitet? Ist wie am Lichtmesstag der erhoffte Messias dem Gottesvolk des alten und nun neuen Bundes gezeigt worden?
Warum eine „Täterorganisation“ reformieren, anstatt sie abzuschaffen?
Auf dem Synodalen Weg ist offenbar alles versucht worden, damit die Welt nicht mehr durch die katholische Kirche aufgeschreckt, genervt und verärgert wird – sie wurde für die Öffentlichkeit nur noch mit Missbrauch verbunden – sogar durch zwei Bischöfe als „Täterorganisation“ bezeichnet. Es herrscht wohl der Glaube vor, die Welt würde sich beruhigen, wenn man die katholische Kirche weiter so reformiert, dass sie passgenau in die Lebenszeit eines jeden passt und so in die Weltzeit eingefügt wird.
Dann wäre aber das Salz endgültig schal geworden. Wenn die katholische Kirche in Deutschland sich weiter so auf dem Synodalen Weg bewegt, dann ist sie auf dem besten Wege, sich in Deutschland abzuschaffen. Wer ist dann da, wenn Lebenszeiten am „Absolutismus der Wirklichkeit“ scheitern? Wir sollten nicht so wie die westliche Sicherheitspolitik durch den immer schon erkennbaren Charakter eines Politkriminellen auf den Boden der Tatsachen heruntergehoben werden.
Ebenso ist schon jetzt die Theologie eines selbstgemachten Gottes und einer ebenso selbstgerechten Gesellschaft erkennbar. Nichts anderes als die Botschaft des großen Galiläers wird da helfen können und alle Gemeinschaften, die IHN im Zentrum haben, wird es weiter geben. Da ist man sich sicherlich mit allen auf dem Synodalen Weg Befindlichen einig. Nur: man sollte auch die Botschaft auch dort, wo sie nicht zu passen scheint, verkünden.
[1] Der gleichfalls vertretene evangelische Bischof Wolfgang Huber mokierte sich darüber, dass Habermas bisher den Dialog mit dem Katholizismus bevorzuge, eben mit Kardinal Ratzinger debattiert habe, aber nicht mit ihm.
[2] Weltzeit und Absolutismus der Wirklichkeit sind Begriffe des deutschen Philosophen Hans Blumenberg, der lehrte, jede persönliche Lebenszeit müsse in einer unverfügbaren Weltzeit gelebt werden, die er in ihrer gnadenlosen Härte als „Absolutismus der Wirklichkeit“ bezeichnete. Wie wir gerade feststellen müssen, scheiterte daran die Sicherheitspolitik des Westens.
_______________________
von Dr. phil. Helmut Müller
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag, Link: https://www.fe-medien.de/hineingenommen-in-die-liebe
Diesen Beitrag als Druckexemplar herunterladen unter diesem Link