Auslegung des Evangeliums vom 1. Advent
Lesejahr A – Mt 24, 29-44
Gott, der war, ist und kommt! Gott ist gekommen. Gott kommt heute – in die Herzen und in seine Kirche. Gott wird offenbar kommen und alles vollenden. Inmitten der Alltäglichkeit wach zu bleiben für den, der kommt: Das heißt adventlich leben. Den Raum im Herzen dafür freiräumen und die Sehnsucht wach halten: Das ist die wahre Askese des Advents. Von Martin Brüske
Gott kommt
Eje ascher eje (Ex 3,14). Ich bin der ich bin. Ego eimi ho on. (Ich bin der Seiende – so die Septuaginta, die griechische Übersetzung des AT.) Ego sum qui sum. (Ich bin der ich bin – die lateinische Vulgata des Hieronymus.) Ich werde sein, der ich sein werde. Ich bin der ich bin da. Ich werde da sein als der ich da sein werde. Eje ascher eje – so antwortet Gott, als ihn Mose dringend nach seinem Namen fragt. Und alle diese Übersetzungsvarianten klingen in der Antwort mit und an. Seine Antwort legt den Namen JHWH aus. Seine Antwort zeigt vollkommene Transzendenz, Souveränität und Entzogenheit an – darin aber zugleich die Freiheit unbedingter Zuwendung. Denn JHWH, der eje ascher eje, wird kommen sein Volk aus der Versklavung Ägyptens zu befreien und über die Götter Ägyptens zu triumphieren. Der absolut transzendente, freie, souveräne, entzogene, heilige, weltüberlegene Gott hat sich definitiv bestimmt zu kommen, sich mitzuteilen, sich zu geben und so Menschen in die Gemeinschaft seines Bundes aufzunehmen.
Deshalb hat das Judentum um die Zeitenwende den Gottesnamen im Blick auf sein Kommen ausgelegt: Der Gott Israels, JHWH, ist der Gott, der war, ist – und der kommt (und eben nicht einfach: sein wird). Wir kennen diese so grundlegend wichtige, adventliche Umschreibung des göttlichen Seins aus der Offenbarung des Johannes – z.B. hier: „Ich bin das A und das O, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige.“ (Offb 1,8). Das konkrete Sein Gottes ist das Sein eines Gottes, der kommt. Gott kommt – nicht aus Zwang und Notwendigkeit, sondern aus freier Selbstbestimmung. Aber gerade so: Gottes Sein ist im Kommen (Eberhard Jüngel).
Man könnte auch sagen: Gottes Sein ist im Advent. Die erste Vollendung dieses Advents heißt: Gott in der Verborgenheit eines kleinen Kindes. Wirklich „da“ – aber verhüllt. Die zweite Vollendung des Advents: Offenbar für alle in der Wiederkehr des Menschensohns in Herrlichkeit. Dazwischen bleibt Gottes Sein im Kommen, bleibt Gottes Sein adventlich – täglich kommt er, um Herzen zu berühren, täglich kommt er, in die Mitte seiner Kirche, in die liturgische Versammlung. Zwischen der ersten Ankunft im Fleisch und der letzten in offenbarer Herrlichkeit sein heutiges Kommen zu feiern, heißt den liturgischen Advent begehen. Und so ist der Advent bestimmt vom Gedächtnis der Ankunft im Fleisch und zugleich von der Wachheit für die letzte Ankunft – in der Sehnsucht, dass auch heute gilt: der, der war, ist und kommt, der kommt auch heute zu seiner Kirche und in mein Herz.
Unmittelbarkeit zu Gott: Der kommende Menschensohn
Sieht man diesen Zusammenhang, dann ist es völlig klar, dass die Evangelien der letzten Sonntage des Kirchenjahres, die – nur unterbrochen durch Christkönig – den Blick auf die Endzeit richten, am ersten Advent ihre Fortsetzung im Blick auf das Kommen des Menschensohns finden.
Aber wie gehen wir mit diesen endzeitlichen, „eschatologischen“ („die letzten Dinge betreffenden“) Texten um? Was heißt das, der Menschensohn komme „auf den Wolken“ des Himmels? Was heißt, die Engel würden die Auserwählten sammeln? Was bedeuten die „kosmischen“ Zeichen? Überhaupt die Rede von Vorzeichen? Ist der Text nicht widersprüchlich, wenn er die nächste Nähe der Ereignisse behauptet, auffordert die Zeichen zu erkennen – und gleichzeitig sagt, niemand wisse die Stunde, nicht einmal der Sohn und die Engel? Hat Jesus sich getäuscht? Lebte er in Naherwartung, hat sich geirrt – und jetzt versuchen die Texte mühsam und widersprüchlich die Überlieferung aufgrund „besserer“ Erfahrung zu korrigieren? Wieso kennt er die Stunde nicht? Ist das nicht alles „mythologische“ Rede, gebunden an ein vergangenes Weltbild – und deshalb für uns einfach überholt?
Grundsätzlich gefragt: Rettet hier nicht nur eine radikale „Umdeutung“, eine Befreiung von vergangenem Weltbild und „mythischen Elementen“, eine Umdeutung, die hier bestenfalls Elemente individueller religiöser Biographik durchscheinen sieht – entfremdet in die Gestalten von Kosmos und Kollektiv?
Ich meine, ein solcher Schluss wäre voreilig und mit dem zu hohen Preis einer völligen Entleerung der Texte erkauft. Machen wir uns folgende Punkte klar – und ich entschuldige mich hier schon vorweg, dass es einen Augenblick jetzt recht abstrakt zugeht. Das ist für einmal nötig, weil hier eine notorische Quelle von Missverständnissen sitzt, die entweder zur Verwerfung dieser Texte oder zu falschen Spekulationen führen.
- Die Rede von Anfang und Ende, um so mehr, wenn dabei auch noch das Geheimnis Gottes direkt involviert ist, bringt all unser Reden an Grenzen. Unsere Alltagssprache ist für diese Grenzen nicht gebaut.
- Eschatologische Rede kann deshalb gar nicht anders als bildhafte Rede sein.
- Diese Bildrede weist aber ein in das Geheimnis der letzten Wirklichkeit. Sie muss ein „Mehr“ an Wirklichkeit erschließen, nicht ein „weniger“ („nur ein Bild“). (Ich nenne das die Position des „metaphorischen Realismus“.)
- Es geht also weder um den Ablaufplan der Elemente eines Enddramas – das würde die Andersartigkeit der letzten Wirklichkeit übersehen – noch um eine Entkernung des Realitätsgehalts, sondern um die Erschließung der Wirklichkeit des kommenden Gottes in ihrer alle unsere Maßstäbe sprengenden Dichte und deshalb in Bildern, denen eine je größere und nicht kleinere Wirklichkeit entspricht.
- Die biblische Bildrede von den letzten Dingen ist dabei – sofern man Bilder zu lesen gelernt hat – alles andere als vage, sondern hat ihre ganz eigene Präzision und Logik, die aus der Bibel zu erschließen ist.
Was ist nun der „harte Kern“ dieser endzeitlichen Bildrede, von dem aus sie sich – allerdings in der Art von Bildern – präzise und logisch entfaltet? Antwort: In der Wiederkunft Jesu, des Menschensohns, sichtbar vor aller Wirklichkeit und deshalb „auf den Wolken des Himmels“ tritt die ganze Wirklichkeit des Kosmos ein in die Unmittelbarkeit zu Gott. Was zuvor verborgen war, erfüllt nun unmittelbar und offenbar den ganzen Horizont unserer Welt, jedes Individuums und des gesamten Kosmos. Die gesamte Wirklichkeit wird erhoben in diese Unmittelbarkeit, aber dem entspricht präzise, dass die absolute Wirklichkeit Gottes einbricht in den Horizont unserer Welt. So werden wir das erleben. Es sind aber nur die zwei Seiten einer Medaille. Von uns aus formuliert heißt „Wiederkunft des Menschensohns“ „Auferstehung von den Toten“. Wie gesagt: Zwei Seiten einer Medaille.
Die Elemente unseres Evangeliums
Von dort aus erschließen sich alle Elemente unseres Evangeliums. Ich möchte sie Ihnen, liebe Leserschaft, nur jeweils nennen und ihren Zusammenhang andeuten. Ich lade Sie ein, Sie auf dem Hintergrund des Gesagten und verbunden mit den folgenden Hinweisen selbständig zu betrachten. Es lohnt sich!
- Die Welt tritt ein in die Unmittelbarkeit zu Gott durch die offenbare Wiederkunft des Menschensohns. Denn Jesus, der Menschensohn, ist als Mensch der eine Mittler zwischen Gott und den Menschen (1Tim2,5). In seinem verklärten Menschsein ist seit Ostern die Königsherrschaft des Vaters vollendet. In seiner Wiederkunft wird der ganze Kosmos in diese Verklärung hineingenommen und so selbst vollendet. Gleichzeitig zeigt sich die Offenheit oder Verschlossenheit für dieses Geschehen. Es ist so von sich aus auch Gericht.
- Die unmittelbare Begegnung des Kosmos mit dem absoluten und absolut wirklichen Gott erschüttert notwendig die Ordnungen des Kosmos. Denn er muss verwandelt und verklärt werden. Deshalb die Rede von Sonne, Mond und Sternen.
- Weil die Wiederkunft auch scheidend-unterscheidendes Gericht ist, ist sie verbunden mit der Sammlung des Gottesvolkes vor Gott (die Engel, die die Auserwählten sammeln).
- Das Hineindrängen des kommenden Gottes in die Wirklichkeit, das seit Ostern in seiner letzten, endzeitlichen Phase steht, entbirgt sich notwendig immer wieder in Zeichen des Vor-Scheins. Denn es ist jetzt absolut real und verändert die Wirklichkeit real. Ein endzeitliches Zeichen ist das Aufleuchten dieser Realität aus der Verborgenheit.
- Mit der Auferstehung und Erhöhung Jesu hat die Endzeit definitiv begonnen. Seine Auferstehung und die Ausgießung des Geistes sind selbst die ersten und fundamentalen endzeitlichen Zeichen.
- So ist völlig klar: Wir stehen seit Ostern mitten in der Endzeit: „Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles geschieht.“ Und das Ende ist völlig souverän in der Hand des Vaters: „Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand…“. Beides gilt gleichzeitig und ist kein Widerspruch. Jesus hatte keine Naherwartung, die ihn getäuscht hätte.
- Daraus erwächst die geistliche Aufgabe, wenn man so will, die Askese des Advents: Wach bleiben, die Sehnsucht pflegen, sich nicht vom Alltag, der ebenso weitergeht wie das schon in Gang gekommene endzeitliche Geschehen und den wir bewältigen müssen, vollkommen vereinnahmen lassen. Das Herz öffnen für den kommenden Gott. Das ist das Wichtigste. Denn Gottes Sein ist im Kommen.
Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.

