Die Serie der Auslegung des Sonntagsevangeliums durch Dr. Martin Brüske geht weiter.

Wo wirkt Gott?
Auslegung des Evangeliums vom 28. Sonntag im Jahreskreis C Lk 17, 11-19

Ist das Evangelium von den zehn Aussätzigen ein Text über Dank und Undank? Ja und Nein! Der bloß moralische Appell zur Dankbarkeit verfehlt aber die Pointe des Textes. Der Dank des Samaritaners, der zurückkehrt, hat sich in Gotteserkenntnis vollendet. Glaubend hat er Gottes Wirken in Jesus erfasst. Diesem Glauben spricht Jesus rettende Kraft zu.

Ein malträtiertes Evangelium

Laut und deutlich sollte man es vor Beginn der eigentlichen Auslegung ausrufen! Und das tue ich hiermit. Wenn Sie das Gelesene hören würden, wäre es eine Lautsprecheransage. Nehmen Sie es vor Ihrem geistigen Auge gefettet oder in Großbuchstaben: Nein, dieser Text ist kein Text über Dank und Undank! Nein, dieser Text ist deshalb auch kein moralischer Appell zur Dankbarkeit!

Unendlich oft ist das vermutlich so gepredigt worden. Und weil man nicht genau und sorgsam auf den Text gehört hat, hat man damit seine Pointe verfehlt. Natürlich ist es immer gut, für Dankbarkeit zu werben. Vermutlich sind im Laufe der Zeit sogar viele famose Predigten über die Dankbarkeit anhand dieses Textes gehalten worden… Aber dieses große und großartige Evangelium hat man damit klein gemacht. Ich lade Sie ein, genau hinzuhören und die Größe dessen, was hier verhandelt wird, mit mir zu entdecken!

Jesus im Grenzland

Der griechische Text unseres Evangeliums scheint am Anfang geographisch merkwürdig ungenau zu sein. Zum dritten Mal wird festgestellt, dass Jesus nach Jerusalem unterwegs ist. Wir haben schon in früheren Auslegungen gesehen, dass das für Lukas der Weg zur messianischen Erfüllung in Passion, Auferstehung und Erhöhung ist und dass dieses Ziel den Weg bestimmt. So weit, so gut. Aber diese Feststellung wird nun in irritierender Weise konkretisiert. Wörtlich heißt es: „Und es geschah beim Gehen nach Jerusalem, dass er durchzog mitten durch Samareia und Galileia.“ Aus der Perspektive Jesu müsste es umgekehrt „Galiläa und Samaria“ heißen. Lukas kennt sich normalerweise geographisch gut aus und ist sehr sorgfältig. Wenn die Möglichkeit der Ungenauigkeit also eher unwahrscheinlich ist, dann kommt zweierlei infrage. Die Möglichkeiten schließen sich nicht aus.

Zum einen: Lukas erzählt perspektivisch von Jerusalem aus. Das passt gut: Jerusalem als Ausgangs- und Zielpunkt hat für Lukas eben größte theologische Bedeutung. Die Bedeutung Jerusalems und seines Tempels ist ein roter Faden in seinem Evangelium, das zum Beispiel im Tempel beginnt und dort endet.

Zum anderen: Lukas meint mit „mitten hindurch“ das Grenzgebiet zwischen Galiläa und Samaria. Auch das liegt nahe (und so fasst es ja auch deutend die Einheitsübersetzung auf). Jesus stößt auf eine Gruppe von Menschen, die – höchst ungewöhnlicherweise! – offensichtlich aus Juden und Samaritanern besteht. Das passt gut zum Grenzland! Andererseits hat Jesus am Anfang des Weges nach Jerusalem Abweisung in einem samaritanischen Dorf erfahren. Hat er zunächst den zentralen Weg nach Jerusalem durch das Bergland gewählt, der ihn tatsächlich mitten durch Samaria nach Judäa geführt hätte, will er diesen Weg nun vermeiden (oder hatte von Anfang an diese alternative Route im Kopf). Tatsächlich finden wir ihn später, wie er aus dem Jordangraben von Jericho aus nach Jerusalem hinaufgeht. Um in den Jordangraben zu kommen, muss er irgendwann von West nach Ost wandern. Und das könnte eben „mitten hindurch“ im Grenzgebiet von Galiläa und Samaria sein.

Wieso erzähle ich Ihnen so relativ ausführlich von diesen geographischen Fragen? Weil die Situierung im Grenzland zwischen Juden und Samaritaner ganz wesentlich für die Auslegung unseres Evangeliums ist! Denn im Grenzland zwischen Juden und Samaritanern steht automatisch die Frage im Raum, wo Gott angebetet werden will und soll: In Jerusalem oder auf dem Garizim, wo der Tempel der Samaritaner stand.

Jenseits der Grenze

Für die zehn Menschen, denen Jesus nun begegnet, ist indes der feindliche Gegensatz und die Grenze zwischen Juden und Samaritanern gleichgültig geworden. Sie spielt für sie aufgrund ihrer „Krankheit“, die die Bibel als Sammelbegriff für alle möglichen Hautkrankheiten „Aussatz“ nennt, keine Rolle mehr. Sie sind „unrein“, aus dem Kultverband ausgeschlossen, nicht mehr kultfähig. Für sie ist nicht mehr wichtig, ob in Jerusalem oder auf dem Garizim angebetet wird. Sie sind weitgehend sozial isoliert. Ihr Elend ist beinahe grenzenlos. So sind sich die zehn Aussätzigen, denen Jesus begegnet, im Elend zur Hilfe geworden: Die Gruppe ist – jenseits der Grenze und Feindschaft zwischen Juden und Samaritanern – offensichtlich gemischt. Ob der Samaritaner, der zurückkehrt, der einzige war, wissen wir nicht. Aber im Elend war die Feindschaft bedeutungslos. 

Jesus findet die Zehn in einem Dorf. Dörfer durften sie betreten, ummauerte Städte nicht – und Abstand müssen sie halten. Die Tora, für Juden wie Samaritaner verbindlich, ordnet an: „Der Aussätzige mit dem Anzeichen soll eingerissene Kleider tragen und das Kopfhaar ungekämmt lassen; er soll den Bart verhüllen und ausrufen: Unrein! Unrein! Solange das Anzeichen an ihm besteht, bleibt er unrein; er ist unrein. Er soll abgesondert wohnen, außerhalb des Lagers soll er sich aufhalten.“ (Lev 13, 45f.).

Wie Auferstehung von den Toten

Daran halten sich die Zehn: Sie bleiben Jesus fern. Aber sie tun noch mehr. Sie überbrücken ihre Isolation, indem sie Jesus anrufen. „Meister“ nennen sie ihn. Das tun bei Lukas sonst nur Jünger. Sie flehen um Erbarmen. Dabei kann es nur um Heilung gehen. Offensichtlich trauen sie das Jesus zu. Das ist viel, sehr viel sogar. Die jüdische Tradition sagt: Die Heilung eines Aussätzigen ist wie die Auferweckung eines Toten! Das bedeutet großes Vertrauen, das sich auch in der Anrede als „Meister“ ausdrückt. Diese im Elend vereinte Gruppe vertraut Jesus so sehr, dass er an ihnen handeln kann.

Und so nimmt er ihr Vertrauen auf. Er fordert sie schlicht auf: „Geht, zeigt euch den Priestern!“. Priester waren zuständig, um die Reinigung vom Aussatz festzustellen. Sie wohnten – wenn sie nicht am Kultort Dienst taten – in den Dörfern und waren also in der Nähe zu finden. Jesus nimmt mit dieser Aufforderung ihre Reinigung und Heilung vorweg. Und sie vertrauen Jesus so sehr, dass sie, obwohl noch nichts zu sehen und zu spüren ist, sich tatsächlich aufmachen.

Auf dem Weg, heißt es, erfahren sie ihre Reinigung. Wenn nun Neun das tun, was Jesus verlangt hat, nämlich sich den Priestern zu zeigen, sind sie dann undankbar? Das wissen wir gar nicht. Der Text sagt das nicht. Wahrscheinlich ist es auch nicht. Was wir wissen: Sie kehren nicht zurück. Und wir werden sehen: Entscheidend ist gerade auch (nicht allein allerdings) diese örtliche Bewegung. Indem sie aber nicht zurückkehren, verschwinden sie einfach aus dem Horizont des Textes.

Wo wirkt Gott?

Tatsächlich ist hier eine Leerstelle im Text. Das Ritual war mit der Feststellung der Reinigung nicht beendet. Der Zielpunkt lag im Opfer unter Lobpreis am Kultort. Lukas hat das natürlich nicht übersehen. Er weiß es bei einer früheren Aussätzigenheilung (vgl. Lk 5, 12-16) sehr genau. Die im Elend Vereinten hätten sich dann trennen müssen. Die einen nach Jerusalem, die anderen zum Garizim. Ob sie es getan haben, wissen wir nicht. Neun verschwinden ja aus dem Text. Aber es ist doch wahrscheinlich. Denn nur so war ja ihre Wiedereingliederung in Kult- und Sozialgemeinschaft vollendet. Und etwas provokativ füge ich hinzu: Selbstverständlich haben sie dort Gott gepriesen und dafür gedankt, was sie erfahren haben. Und sie verschwinden zwar aus dem Text – aber ihr weiterer Weg war offen: Vielleicht haben sie später noch begriffen, was als einziger aus ihrer Gruppe ein Samaritaner begriffen hat….

Denn was unterscheidet die neun von dem einen? Nicht Undank vom Dank – zumindest weist im Text nichts darauf hin. Sondern vielmehr: Gotteserkenntnis. Der Samaritaner ist der einzige in der Gruppe, der begreift, dass Gott jetzt in und durch Jesus handelt, dass er in Jesus in unüberbietbarer Weise präsent ist. So gegenwärtig und wirkend, dass er in der Reinigung vom Aussatz vorwegnehmend Auferstehung von den Toten erfährt. Jesus ist der „Ort“ wo Gott jetzt wirkt. Und deshalb ist Jesus jetzt der „Ort“, wo Gott geehrt werden soll – und nur noch vorübergehend der Garizim oder Jerusalem.

Was den Samaritaner unterscheidet, ist Gotteserkenntnis, die deshalb diesen neuen, endgültigen und unüberbietbaren Ort des Handelns und der Gegenwart Gottes in Jesus sucht und zu ihm zurückkehrt, damit sich seine neue Gotteserkenntnis in Dank und Lobpreis, in Doxologie und Eucharistie (die zugehörigen griechischen Verben finden sich im Text), vollenden kann. Seine Anbetung ist schon Anbetung im Geist und in der Wahrheit! („Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr betet an, was ihr nicht kennt; wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Joh 4, 21-24).

Die Schlüsselfrage in unserem Text, die Jesus wie zu sich selbst sprechend formuliert, lautet deshalb wörtlich: „Aber die neun, wo?“ Der Samaritaner hat sein „Wo?“ mit „bei und in Jesus“ beantwortet. Deshalb ist sein Glaube über die Reinigung hinaus rettend geworden. Dies spricht ihm Jesus am Ende zu. Und zu dem, der sich verehrend niedergeworfen hat, vor dem Gott, der in Jesus handelt, spricht Jesus: Aufstehend geh! Denn aus dem Elend heraus hatte sich an diesem Tag, noch in der Verheißung, aber zugleich schon sehr real, Auferstehung der Toten ereignet.


Dr. theol. Martin Brüske,
geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.


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