Kein erkennbares religiöses Zeichen in der Kapelle. Dafür ein sprechender Ort, der laut hineinruft in die aktuelle Debatte um die Menschenwürde. Die Wände und der Fels sprechen von Gott. In ihm wurzelt jede Menschenwürde. Die Entdeckung dieser beeindruckenden Kapelle und ihre Gedanken dazu teilt Patricia Haun mit uns. 

Zufälle gibt es nicht. Das Einzige, was zufällt, ist die Tür, sagt ein Bekannter immer dazu. Auf einer Fahrt durch Österreich werde ich in den Vorarlberger Wallfahrtsort Rankweil, Nähe Feldkirch, geführt. Es ist ein Marienwallfahrtsort mit einer burgartigen Basilika auf dem 50 m hoch aufragenden Liebfrauenberg. Nebenbei einer der „Pilger der Hoffnung“-Orte des Jubiläumsjahres.  Die Kirche „Unsere Liebe Frau Mariä Heimsuchung“, die seit 1986 den Titel Basilika trägt, ist Mutterkirche von zwölf Pfarrkirchen der Umgebung. 

Ich steige den schönen Weg hinauf, vorbei an Weinstöcken, und finde einen idyllischen Ort mit herrlicher Aussicht. Vor den Stufen zur Basilika ein uralter Baum, darunter ein junges Liebespaar. Die beiden turteln und scherzen. Ganz in ihrem Glück versunken bemerken sie mich gar nicht. Am Rande des Gemäuers weiden friedlich Schafe am steilen Hang. Üppig blumengeschmückte Gräber zieren den seitlichen Weg zur Basilika, die bis in den Eingangsbereich des Kirchenumgriffs reichen. Hier scheinen Tod und Leben eine unaufgeregte, selbstverständliche Einheit zu bilden.

Ich öffne das Kirchenportal. Eine wunderschöne Loretokapelle mit dem Gnadenbild Unserer Lieben Frau und großen Votivtafeln lädt zum Beten am Seitenaltar ein. Stille, Ruhe, Schönheit. Ein Hauch von Ewigkeit ist zu erahnen.

Landesgedächtniskapelle

Eine gänzlich andere Atmosphäre beim Öffnen einer unscheinbaren Holztür unterhalb der Hauptkirche. Daneben, in schlichten Lettern an die Wand gepinselt: Landesgedächtniskapelle. Düster, steinig, grau, kaum Tageslicht, löst dieser Raum schon beim Betreten Beklemmung in mir aus. Ich möchte diese erdrückende Stätte direkt wieder verlassen. Mein Blick fällt auf ein Faltblatt am Ausgang, das ich noch mitnehme. Auf einer Tafel vor der Tür ist zu lesen:

„Die Gedächtniskapelle wird nach Plänen der Architekten Cukrowicz-Nachbaur (Bregenz) von den Ursymbolen des Lebens – Dunkelheit, Licht, Wasser, Fels – geprägt sein. Durch eine 50 cm große Öffnung in der Außenwand soll Licht in den Raum fallen. Gegenüber werden von der Decke fallende Wassertropfen in einem Becken aufgefangen.

Botschaft

Die neue Gedächtniskapelle erinnert eindringlich daran, dass jeder Mensch als Ebenbild Gottes eine unzerstörbare Würde hat. Die Erfahrung nicht respektierter Menschenwürde ist beklemmend erfahrbar in diesem „Verlies“. Dafür stehen die Wassertropfen als Tränen. Der Lichtstrahl im Raum, der scheinbar die Mauern durchdringt, ist Symbol der Hoffnung gegen alle Resignation.“

Wie wahr und wie aktuell, denke ich. Neugierig widme ich mich nun draußen bei Tageslicht dem Faltblatt.  Ich lese die Erläuterungen von Andreas Cukrowicz und Walter H. Juen:

<< Andreas Cukrowicz und Simon Metzler fragten sich:
Was tut eine Person, wenn sie nicht weiter weiß? In vielen Fällen zündet sie eine Kerze an. Es galt Licht in diesen unterirdischen Raum zu bringen. Deshalb wurde eine Öffnung in die Außenwand gebohrt, die an dieser Stelle fast sechs Meter dick ist. Mitte März und Mitte September gelangen durch diese Röhre Sonnenstrahlen direkt auf den Schrein mit Erinnerungsstücken.

  • Zwei Bücher mit der Auflistung aller in den Weltkriegen gefallenen und vermissten Soldaten Vorarlbergs – mit Namen genannt, weil sie nicht nur eine Nummer sind in einer Statistik, sondern Opfer mit ihrer Geschichte und ihren zerstörten Hoffnungen.
  • Der Rosenkranz des seligen Märtyrerpriesters Carl Lampert, den er im KZ bei sich trug – Woran halte ich mich, wenn mir jede menschliche Würde genommen wird?
  • Ein Kopf aus Ton – ein Schrei aus der Tiefe, stumm, mit leeren Augen, modelliert von einem Patienten aus der ehemaligen Landesirrenanstalt Valduna.

Seit Anbeginn der Menschheit wird die Würde des Menschen mit Füßen getreten.

Matt Mullicans in den Fußboden eingelassene goldfarbenen Messingscheiben zeigen die nächtlichen Sternbilder der nördlichen Erdkugel von Tagen des Leids (z. B. Sternbild 2 – Freitag, 7. April 30: wahrscheinlicher Todestag Jesu Christi oder Sternbild 6: Mittwoch, 9. Mai 1945: Sterbetag des letzten Soldaten aus Vorarlberg im zweiten Weltkrieg).

Am Beginn und am Ende dieser Tage steht jedoch die Hoffnung, denn im Anfang ist das Licht und am Ende steht der verheißene Messias.

Gegenüber vom Lichteinfall und der Sternbilder fallen alle zwei Sekunden Wassertropfen von der Decke. Sie entwickeln einen sanften Klang, eine nicht wiederholbare Melodie. Wasser steht hier für Reinigung und die einzelnen Tropfen erinnern an die vielen durch Leid entstandenen Tränen. Das Intervall dieser Tropfen weist hin auf die Zeit, welche für die Verarbeitung von Leid erforderlich ist.

Wo ist Gott?

Eine uralte Frage angesichts des Leids, eine Frage, die gerade an diesem Ort nicht vorschnell beantwortet werden kann. Deshalb findet sich kein sofort erkennbares religiöses Zeichen in der Kapelle. Aber die Wände und der Fels sprechen von Gott. In ihm wurzelt jede Menschenwürde. Der Raum ist eingebettet in eine Kirche, und am Rosenkranz hängt ein Kreuz. Das zarte und manchmal auch helle Licht, die Sternbilder und das Wasser künden von Gott, gerade in einem Raum, der einem Verlies mehr ähnelt als einer Kapelle, „Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg 17,29). >>

Nach Lektüre dieser Broschüre kehre ich zurück in diesen ungastlichen Raum. Ich will es spüren, jedes einzelne beschriebene Element. Ich gehe die drei Stufen hinauf. Auf der untersten steht in schwarzen, kleinen Buchstaben der Satz, der mich und uns beim Neuen Anfang in den letzten Wochen begleitet und beschäftigt hat und den ich beim erstmaligen Betreten dieser außergewöhnlichen Kapelle übersehen hatte:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Gänsehaut. Augenblicklich fällt mir Prof. Frauke Brosius-Gersdorf ein und all die vielen Menschen, die wie sie anscheinend meinen, diese Würde sei automatisch gegeben, eben unantastbar und dennoch verhandelbar. Mich gruselt fast ein wenig, als ich diesen Ort betrete:

<< Ein Ort, der dem Leid und der Sprachlosigkeit gegenübersteht.
Ein Ort zeitgenössischer Architektur von Andreas Cukrowicz und Simon Metzler, Architekturbüro Cukrowicz-Nachbaur (Bregenz).
Ein Ort zeitgenössischer Kunst von Matt Mullican (New York, Berlin).
Ein Ort des Trostes im Fundament und doch hoch über allem.
Ein Ort, gewidmet der Würde aller Menschen, die unantastbar ist. >>

Ein sprechender Ort

So stehe ich nun hier, ich als Deutsche, in Österreich, an einem Ort, der so lebendig die Schrecken des Krieges erahnen lässt. Ich, die ich die ewigen Ermahnungen aus der Vergangenheit der Weltkriege manchmal gar nicht mehr hören mag. Was geht es mich an? Es ist die Vergangenheit meiner Großeltern und Urgroßeltern, die schon nicht mehr leben. Lass(t) doch die Vergangenheit ruhen, möchte ich oft sagen. Die Lehrer wurden nicht müde, uns zu erklären, was alles „nie mehr“ passieren darf. Und so ist es heute noch. Aus der Vergangenheit lernen ist wichtig. Die Zeichen der Zeit erkennen vielleicht noch wichtiger. Und die lassen sich nicht nur aus der Vergangenheit herleiten. Mir macht Sorgen, dass viele nur sehr aufmerksam nach „rechts“ schauen und zugleich auf dem „linken“ Auge blind sind. Die linkspolitischen Bestrebungen, die so oft scheinbar menschenfreundlich daherkommen und viele Elemente des Kommunismus und Totalitarismus im Gepäck haben. Eine versteckte Kultur des Todes unter dem Deckmantel von „sozial“, Humanismus, Lebensqualität und gar Nächstenliebe. So wurde schon mehrfach die Sterbehilfe diskutiert und salonfähig gemacht und nun will man Menschenwürde einem Embryo nur stufenweise zugestehen und gegen die Lebenssituation und Belange der Mutter aufrechnen.

Darüber komme ich hier an diesem sprechenden Ort ins Gespräch mit einer alten Österreicherin, die ebenfalls diesen besonderen Ort besucht. Wir finden keine Lösung am Fuße einer Ölberggrotte, die das Bild des betenden Jesus zeigt. Doch wir spüren beide die Verbundenheit im Glauben und die Hoffnung, die uns unser gemeinsamer Glaube gibt und dieser Ort, der ein Ort der Klage, des Innehaltens und eben auch der Hoffnung ist.

Ich setze meinen Weg fort und spüre den Wunsch im Herzen, dass möglichst viele Menschen diese Landesgedächtniskapelle in der Basilika in Rankweil, Vorarlberg, besuchen mögen.


Patricia Haun
Jahrgang 1971, ist freie Journalistin, Mutter von vier Kindern und Großmutter zweier Enkel. Sie ist Mitgründerin von EuroProLife und Gründerin der „Gebetsvigilien für das Leben“ in Aschaffenburg und Frankfurt. Sie arbeitete als Redaktionsleiterin für Durchblick e. V. und wirkt mit bei der Initiative „Neuer Anfang“.


Beitragsfoto: Landesgedächtniskapelle in der Basilika in Rankweil /Österreich (Patricia Haun)

Melden Sie sich für unseren Newsletter an